H.-J. König: Kleine Geschichte Lateinamerikas

Cover
Titel
Kleine Geschichte Lateinamerikas.


Autor(en)
König, Hans-Joachim
Erschienen
Stuttgart 2006: Reclam
Anzahl Seiten
815 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Mücke, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Endlich! – „Endlich“ könnte man sagen „gibt es eine Geschichte Lateinamerikas auf Deutsch.“ Zwar liegen eine ganze Reihe von deutschsprachigen Büchern vor, die im Titel einen Überblick über die „Geschichte Lateinamerikas“ versprechen, doch keines dieser Bücher hat den Anspruch, eine geschichtswissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung der Geschichte dieses riesigen Subkontinents zu liefern.1 Genau das ist aber das Vorhaben des vorliegenden Reclam-Bandes. Hier soll die gesamte Geschichte des ganzen Subkontinents erzählt werden. Dass dies trotz der beeindruckenden 815 Seiten ein ganz und gar unmögliches Unterfangen ist, räumt Hans-Joachim König allerdings gleich auf der ersten Seite der Einleitung ein. Er macht daher die Einschränkung, dass er „als roten Faden den historischen Prozess der Staats- und Nationsbildung gewählt“ hat (S. 7). Diesen Prozess zu verstehen und zu erklären, ist das vornehmliche Ziel des Buches.

Der Aufbau des Buches entspricht diesem Vorhaben. Das 19. Jahrhundert (1808-1900), „welches in gewissem Sinn die Mitte“ der Darstellung bildet (S. 8), macht fast die Hälfte des Gesamttextes aus. Den beiden Kapiteln zum 19. Jahrhundert ist ein Kapitel vorangestellt, welches die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts schon im Blick auf die später einsetzenden Unabhängigkeitsbewegungen analysiert. Hier wird verständlich, dass die späteren Nationalstaaten nicht als ein Zufallsprodukt der napoleonischen Kriege verstanden werden dürfen. Entdeckung und Eroberung, die Strukturen der Kolonialzeit (S. 11-103) und die Zeit seit 1900 (S. 575-759) werden dagegen recht knapp behandelt. Ihnen ist etwa 40 Prozent des Textes gewidmet. Zu dieser sich aus Königs Fragestellung ergebenden Gesamtstruktur des Bandes tritt eine Binnengliederung der Kapitel, die sich durch das bewährte Reclam-Format auszeichnet, demnach die einzelnen Kapitel mit kurzen Zusammenfassungen und tabellarischen Übersichten eröffnet werden. Der pädagogische Impetus ist auch bei der notgedrungen sehr kurzen Bibliographie gut zu erkennen, sind die angegebenen Titel hier doch thematisch sehr feingliedrig geordnet, so dass der Literatur suchende Leser sehr genau zu den für seine Frage bedeutsamen Titel geführt wird. Das Personenregister besticht dann wiederum durch die kurze Erläuterung zu jedem der dort genannten Namen.

Die Stärke des Buches liegt aber nicht einfach in der guten didaktischen Gestaltung. Viel mehr zu loben ist der Versuch Hans-Joachim Königs, die vielen Länder des Subkontinents im Auge zu behalten. Dies kann in den relativ kurzen Kapiteln zur Kolonialzeit und zum 20. Jahrhundert natürlich nicht umgesetzt werden. Diese Kapitel sind daher thematisch strukturiert, so dass ein Land in der Darstellung nur erscheint, insofern es als spezifisches Beispiel für das entsprechende Thema betrachtet wird. Bei der langen Abhandlung über das 19. Jahrhundert bietet König dagegen eine Geschichte Lateinamerikas, die sich aus vielen – zum Teil miteinander verbundenen, zum Teil sich ähnelnden – Geschichten zusammensetzt. Der Vielfältigkeit des Kontinents wird eine solche Darstellung selbstredend eher gerecht, als eine thematische Ordnung, die zwangsläufig zur Vernachlässigung einer Reihe von Ländern führen muss.

Was ist an der „Kleinen Geschichte Lateinamerikas“ zu kritisieren? Vor allem die Einleitung. König schreibt hier, dass sich sein Buch weniger an Lateinamerikaner und an Fachkollegen als vielmehr an „deutsche Leserinnen und Leser“ richtet und dass er mit seinem Buch „Interesse für die Geschichte Lateinamerikas bei ihnen wecken“ will (S. 8f.). Diese von König anvisierte Leserschaft hat vermutlich relativ wenig Vorkenntnisse von der Geschichte Lateinamerikas. Gerade deshalb wäre es hilfreich, wenn in der Einleitung genauer erläutert würde, was Gegenstand und was nicht Gegenstand dieser kleinen Geschichte ist. Ein Fachkollege versteht, dass der „rote Faden“ Staats- und Nationsbildung bedeutet, dass viele Felder der lateinamerikanischen Geschichte ausgeklammert werden. So beginnt Königs Geschichte mit der europäischen Ankunft und Landnahme. Die Zeit vor 1492 nimmt er nicht in den Blick. Und auch später erscheinen Indianer und Afroamerikaner (und übrigens auch Frauen) in erster Linie als Objekte der Geschichte. Die von König gewählte Perspektive macht dies verständlich. Aber ein unbedarfter Leser wird dies aufgrund der knappen Bemerkungen in der Einleitung nicht verstehen. Für ihn wird der Titel („Kleine Geschichte Lateinamerikas“) vielmehr bedeuten, dass alle wichtigen Aspekte abgedeckt sind. Für eine zweite Auflage würde es der Einleitung also gut tun, wenn klar umrissen würde, welche Felder das Buch nicht behandelt.

Dass es eine solche zweite Auflage geben wird, daran kann kaum ein Zweifel bestehen. Denn das Buch wird sich schnell als eine zentrale Referenz für all jene erweisen, die sich in Studium oder Beruf mit Lateinamerika beschäftigen. Sein Wert ergibt sich dabei gerade aus der detaillierten Zusammenstellung von Daten, den langen tabellarischen Übersichten und den konzisen Zusammenfassungen zentraler Themen. In mancher Hinsicht nähert sich diese „Kleine Geschichte Lateinamerikas“ damit dem „Lateinamerika-Ploetz“, dem leider (bisher?) keine Neuauflage beschieden war. Mit Königs „Kleiner Geschichte Lateinamerikas“ hat sich eine solche Neuauflage wohl auch erledigt.

Anmerkung:
1 Zu nennen sind hier insbesondere vier Titel. Die „Geschichte Lateinamerikas. Von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart“ von Halperin Donghi (Suhrkamp Verlag), welche auf einer italienischen Ausgabe von 1968 basiert. Die im Rowohlt-Verlag 2005 erschienene „Lateinamerikanische Geschichte“, welche von einem Romanisten, Norbert Rehrmann, verfasst wurde, so dass man nicht erwarten darf, dass die vielen in dem Buch behandelten Themen und Fragen immer anhand der neuesten historischen Literatur diskutiert werden. Die sehr differenzierte politikwissenschaftliche Einführung zu Lateinamerika, welche Nikolaus Werz 2005 bei Nomos veröffentlicht hat und die ihren Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat. Und die „Einführung in das Studium der iberischen und lateinamerikanischen Geschichte“ von Karin Schüller (Aschendorff, 2000), welche nicht den Anspruch hat, einen Überblick über die Geschichte Lateinamerikas zu geben, sondern vielmehr Hinweise und Empfehlungen zum Studium der lateinamerikanischen Geschichte liefern will.

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