M. Krzoska u.a. (Hrsg.): Stadtleben und Nationalität

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Titel
Stadtleben und Nationalität. Ausgewählte Beiträge zur Stadtgeschichtsforschung in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Krzoska, Markus; Röskau-Rydel, Isabel
Reihe
Polono-Germanica 1
Erschienen
München 2006: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
185 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas R. Hofmann, Leipzig

Die meisten der neun Beiträge des vorzustellenden Sammelbandes sind aus der Jahrestagung der Kommission der Geschichte der Deutschen in Polen vom September 2005 in Slubice hervorgegangen. Der Titel des Bandes ist insofern geographisch zu umfassend gewählt, als alle Texte innerhalb des Arbeitsbereichs der Kommission bleiben, sich also mit Städten befassen, die auf polnischem Staatsgebiet lagen oder liegen: Posen/ Poznan, Danzig/ Gdansk, die galizischen Städte des österreichischen Teilungsgebiets, darunter besonders Lemberg/ Lwów, dem heute ukrainischen L’viv, den Städten in Kongresspolen sowie Zabrze (Hindenburg) in Oberschlesien.

Auch Markus Krzoskas Einführung in die Stadtgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts „vor dem Hintergrund Ostmitteleuropas“ verweist dort, wo es um die stadthistorische Empirie gilt, fast ausschließlich auf polnische Fallbeispiele. Allerdings kann dem Autor daraus kaum ein Vorwurf gemacht werden, denn ein umfassender Forschungs- oder Literaturbericht, der sich der anspruchsvollen Aufgabe unterzöge, die Urbanisierungs- und Stadtgeschichte der historischen Region Ostmitteleuropa insgesamt in den Blick zu nehmen, ist meines Wissens bisher noch nicht geschrieben worden – von einer synthetischen Darstellung ganz zu schweigen. So liegt Krzoskas Anliegen eher darin, auf einige zentrale Probleme der ostmitteleuropäischen Stadtgeschichte hinzuweisen, und die von ihm zitierten polnischen Beispiele sind in wichtigen Punkten durchaus verallgemeinerbar. Obwohl in den vergangenen Jahren eine Reihe großer Monographien insbesondere zu den nationalen und regionalen Metropolen erschienen sind, konstatiert Krzoska völlig zu recht einen Mangel an modernen stadtgeschichtlichen Synthesen, der bei den Klein- und Mittelstädten der ostmitteleuropäischen Stadtlandschaften noch gravierender ist. Denn generell überwiegt in der ostmitteleuropäischen Stadtgeschichtsschreibung bislang ein methodisch nicht reflektierter Positivismus, der Stadtgeschichte als Aufzählung ereignisgeschichtlicher Fakten versteht und die lediglich durch den Schauplatz miteinander verbundenen Felder von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur nebeneinanderstellt. Demgegenüber sind aktuelle sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze, wie sie in der westlichen Stadt- und Urbanisierungsforschung längst selbstverständlich sind, in Ostmitteleuropa noch verhältnismäßig wenig rezipiert worden. Dies gilt ungeachtet der beträchtlichen Leistungen gerade der polnischen Historiographie in der sozialgeschichtlichen Bürgertums- und der Arbeiterforschung.

Ein dominantes und erst allmählich schwindendes Problem ist die nationalgeschichtliche Perspektivierung von Stadtgeschichte: Während die Multiethnizität eines der typischen Merkmale bei der Mehrheit der ostmitteleuropäischen Städte war, wurde und wird deren Geschichte dennoch meist als Lokalgeschichte der jeweils eigenen Nation geschrieben. Notgedrungen führt dies zu einem hohen Grad an Fiktionalisierung von Stadtgeschichte, zur Ausblendung solcher Epochen, in denen die eigene Nation keine oder keine führende Rolle in der Geschichte der betrachteten Stadt spielte, beziehungsweise zu einer manchmal grotesken Überbetonung der jeweiligen Minderheitengeschichte. Insofern ist auch die Stadtgeschichte bis heute kein politisch neutrales und ideologiefreies Geschäft, vielmehr hat sie oft Zwecken historischer Legitimation zu dienen. Wie Krzoska betont, trifft das im deutsch-polnischen Fall gerade auch für die deutsche Seite zu, wenn man an die frühere Ostforschung mit ihrer Fixierung auf den vermeintlich „deutschen Charakter“ der Städte des östlichen Mitteleuropa denkt.

Die übrigen acht Beiträge des Bandes liefern Einblicke in noch laufende oder unlängst abgeschlossene stadthistorische Forschungsprojekte. Stefan Dyroff befasst sich in seinem Forschungsbericht mit Kultur und Gesellschaft der Deutschen in der Provinz Posen. Dabei ist sein Hinweis wichtig, dass zur Erforschung der Minderheitenkultur nicht nur die Kultur der polnischen Mehrheit und ihre Wechselwirkungen mit der deutschen zu berücksichtigen sind, sondern sich überhaupt die grundsätzliche Frage stellt, ob in jedem Falle eine klare ethnokulturelle Trennung in „polnische“ und „deutsche“ Kultur vorgenommen werden kann. Die Quellen jedenfalls, so Dyroff, widersprechen dem in der polnischen Forschung teilweise bis heute gepflegten Mythos, dass einerseits das deutsche Vereinswesen ausschließlich ein Instrument der von der Berliner Zentrale aus gesteuerten Germanisierungspolitik gewesen sei, andererseits eine nationalbewusste polnische Bevölkerung die von deutschen Institutionen gemachten kulturellen Angebote aus Prinzip stets boykottiert habe. Während in der polnischen Literatur meist die wechselseitigen Akkulturationsprozesse ungenügend berücksichtigt werden, fehlt auf der deutschen Seite überhaupt jede wissenschaftliche Forschung zum Thema, wobei die deutschen Heimatbücher eine germanozentrische Perspektive pflegen. Als weitere Forschungsdesiderate benennt Dyroff die Frauenvereine sowie das jüdische Vereinswesen, das abgesehen von den Sportvereinen bisher völlig vernachlässigt worden ist.

Auch Peter Oliver Loews Text zur Danziger Stadtgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist ein Literaturbericht, der von dem erstaunlichen Befund ausgeht, dass für diesen Zeitraum keine zufriedenstellende Geschichte der bedeutenden Hafenstadt existiert. Dies ist zum einen auf die eklatanten Archivverluste Danzigs am Ende des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen, zum anderen aber auch auf gegenwärtige politische Legitimationsversuche, welche für die Entwicklung der Stadt unter neoliberalen Vorzeichen an ein idealisiertes Bild eines liberalen, bürgerschaftlichen Danzigs der Zeit vor 1939 anknüpfen möchten. Loew plädiert insbesondere für die arbeitsintensive Auswertung der Danziger Presse, mit deren Hilfe einige der Quellenverluste kompensiert werden könnten.

Isabel Röskau-Rydel gibt einen Überblick über die Entwicklung der deutsch-österreichischen Beamtenfamilien in Galizien von der Ersten Teilung Polens 1772 bis zum Untergang der Habsburgermonarchie 1918. Bis 1848 waren praktisch alle leitenden Verwaltungspositionen des Kronlandes mit Deutschen besetzt, erst danach kam es zu einer allmählichen Heranbildung und Zulassung polnischer und in geringerem Umfang ruthenischer (ukrainischer) Beamter. Röskau-Rydels These, dass die nach Galizien zugewanderten deutschen Handwerker und Gewerbetreibenden im Vergleich zu den an Zahl viel geringeren Beamten kaum Einfluss auf die Entstehung eines deutschsprachigen Kulturlebens gewonnen hätten, macht stutzig und lässt sich wohl nur bei einem restriktiven, auf die Hochkultur eingegrenzten Kulturbegriff aufrechterhalten, den der Beitrag impliziert. Anders als von den Zeitgenossen erwartet, schlossen sich schon zur Zeit des Aufstandes von 1830/31 viele Sprösslinge der deutschen Beamtenfamilien der polnischen Nationalbewegung an. Jedoch, so die überzeugende These der Autorin, lässt sich in der Option für oder gegen die polnische Sache kein soziales Muster erkennen, denn die nationale Akkulturation und die oft damit verbundene politische Wahl blieben stets eine Frage der individuellen Entscheidung. Diese konnte auch innerhalb einer Familie durchaus unterschiedlich ausfallen.

Im habsburgischen Kronland Galizien sind auch die Beiträge von Heidi Hein-Kircher und Harald Binder angesiedelt, die sich beide der Hauptstadt Lemberg zuwenden. Hein-Kircher gibt einen Überblick über die Entwicklung der Lemberger Selbstverwaltung von 1848 bis 1870, als die Stadt nach langer Verzögerung endlich ein eigenes Statut erhielt und damit in die Gruppe der sogenannten „Statuarstädte“ der Habsburgermonarchie aufstieg, die direkt der Wiener Zentrale unterstellt waren und eine von der Gemeindeordnung ihres jeweiligen Kronlandes abweichende Verwaltung aufwiesen. Die in Lemberg besonders langwierige Erarbeitung des Stadtstatuts (1859-1870) war, so Hein-Kircher, nicht zuletzt auf den Streit um die Lösung der „jüdischen Frage“ zurückzuführen; denn die polnischen Stadteliten, die seit den 1860er-Jahren den größten Einfluss ausübten, wollten einerseits Vorkehrungen treffen, um die ethnokonfessionellen und sozioökonomischen Machtstrukturen innerhalb der Stadt unverändert zu lassen, waren andererseits aber zu gewissen Konzessionen an die jüdische Bevölkerung bereit, um diese davon abzuhalten, sich deutsch zu akkulturieren. Das Statut von 1870 mit seinem harten Wahlzensus war politisch konservativ geprägt, schuf aber gleichzeitig die Voraussetzungen für die Modernisierung von Verwaltung und Städtetechnik in den folgenden Jahrzehnten.

In seinem Essay über die „Polonisierung Lembergs“ spricht sich Harald Binder für die Untersuchung des „mind mapping“ auf der städtischen Ebene aus. Die Behauptung, Lemberg sei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine germanisierte Stadt gewesen und habe sich erst in der zweiten Jahrhunderthälfte, nach Erlangung der galizischen Autonomie, zu einer polnischen Stadt entwickelt, stützt sich zwar auf die tatsächliche kulturpolitische Dominanz der Polen seit dieser Zeit, blendet jedoch andersnationale Sichtweisen der Minderheiten – der deutschen, jüdischen und nicht zuletzt ruthenischen – völlig aus. Überhaupt, so Binder, sei der Begriff der „galizischen Autonomie“, an den der Vorgang der Polonisierung Lembergs im Mythos der polnischen Geschichte gebunden wird, zumindest irreführend, da es sich in Wirklichkeit um einen den Gesamtstaat betreffenden Konstitutionalisierungsprozess gehandelt habe. Dieser sei von den polnischen Lemberger Eliten dazu missbraucht worden, ihr Bild einer nationalpolnischen Metropole gegen die Interessen der Minderheitenbevölkerungen durchzusetzen. Umgekehrt verliefen die Veränderungsprozesse dieser Zeit aber auch in Richtung einer „inneren Urbanisierung“, will sagen zu einer Verdichtung der Stadt als sinnlichen Erfahrungsraum, innerhalb dessen wiederum die einzelnen nationalkulturellen Gruppen sich über ihre Symbole und Aktivitäten besser zu Geltung bringen konnten.

Der Beitrag von Elzbieta Everding handelt vom Lemberg der Zwischenkriegszeit (1918-1939). Nach den hochkulturellen Sparten von Musik, Theater, Literatur und bildenden Künsten sortiert, trägt die Autorin Fakten zu den einzelnen nationalen Minderheiten (den Juden, Ukrainern, Deutschen und Armeniern), ihren kulturellen Aktivitäten und Assoziationen zusammen. Ein Manko dieses Textes ist, dass er sich ausschließlich auf polnischsprachige Literatur und einige wenige deutschsprachige Veröffentlichungen stützt. Ebenfalls kompilativ ist der Text von Hanna Krajewska über die Evangelischen in den Städten des Königreichs Polen. Krajewska widerspricht dem bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Stereotyp des „evangelischen Deutschen“. Denn die Evangelischen, überwiegend Angehörige der evangelisch-augsburgischen Konfession, waren beispielsweise in Warschau annähernd zur Hälfte Polen; der Prozentsatz der Deutschen bei den Reformierten war allerdings deutlich höher. Der tendenziell wachsende polnische Anteil der Evangelischen erklärt sich zum Teil durch die polnische Akkulturation von Deutschen; denn der Wechsel von der deutschen zur polnischen Nationalität war in der Regel nicht an einen Konfessionswechsel gekoppelt. Wenn überhaupt, gab es Wechsel häufiger von dem einem zu einem anderen evangelischen Bekenntnis.

Bernard Linek behandelt die Entwicklung der oberschlesischen Bergbau- und Hüttenstadt Zabrze zur Zeit des Zweiten Kaiserreichs. Da Zabrze (Hindenburg) erst 1922 Stadtrechte erhielt, bestand es zuvor aus einer Agglomeration von verschiedenen Landgemeinden und Gutsbezirken, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts bereits 55.000 Einwohner zählten. Allein durch seine Größe wuchsen Zabrze dennoch mehr und mehr städtische Funktionen zu, die nicht zuletzt in der Aktivität seiner Vereine und in seinen großen Festen zum Ausdruck kamen. Am Beispiel des seit 1874 jährlich am 2. September begangenen Sedantages zeigt Linek die Nationalisierung der lokalen Kultur. Während in den ersten zwanzig Jahren der Sedantag Identifikationsangebote an alle Teilnehmer des Krieges von 1870/71 unabhängig von ihrer Nationalität machte, sofern sie sich mit Kaiser und Reich verbunden fühlten, wurde das Ereignis seit den 1890er Jahren und mit dem Schwinden der Erlebnisgeneration immer stärker als Fest der deutschen Nation begangen. Kompensatorisch versuchten die Polen, die katholischen Kirchenfeste zu nationalpolnischen Feiertagen umzugestalten; als dies nur beschränkten Erfolg hatte, etablierten sie die jährlichen Pfingstwallfahrten nach Krakau.

Abgesehen von Einblicken in die Empirie einiger interessanter aktueller Forschungsprojekte bietet der Sammelband Aufschluss über Chancen, aber auch Schwächen der gegenwärtigen Stadtgeschichte in und über Ostmitteleuropa. Wenn nicht explizit eine bestimmte Stadt zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird, ist bei verschiedenen sozial- und kulturhistorischen Ansätzen nicht immer einsehbar, ob die städtische, anders als die regionale, Betrachtungsebene jeweils die bestgeeignete ist. Beispielsweise ist Konfessionalität an und für sich noch kein spezifisch städtisches Kriterium, ebenso wenig wie eine bestimmte ethnokulturelle Gruppe oder eine Nationalkultur. Wenn die Vorstellung des verdichteten Begegnungsraums die Relevanz von Stadtgeschichte begründen soll, ist es gerade nicht sinnvoll, eine bestimmte Gruppe aus ihrem sozialen Kontext zu lösen und die Stadt lediglich als ein pragmatisches Definiens zur Begrenzung des empirischen Materials zu benutzen. Im Vordergrund sollte stattdessen immer die – harmonische, distanzierte, intensive, konflikthafte oder wie auch immer beschaffene – Begegnung des sozial und kulturell Disparaten stehen.

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