M. Lyons: Post-Revolutionary Europe, 1815-1856

Cover
Titel
Post-Revolutionary Europe, 1815-1856.


Autor(en)
Lyons, Martyn
Reihe
European Studies Series
Erschienen
Basingstoke 2006: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XIII, 306 S.
Preis
£ 18.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia A. Schmidt-Funke, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Auf die Frage, wie europäische Geschichte geschrieben werden kann, fanden Handbuchherausgeber wie Theodor Schieder schon vor Jahren eine pragmatische Antwort: Für Schieder ergab sich europäische Geschichte aus der Summe von in nationalstaatlicher Perspektive verfassten Einzeldarstellungen. Einem ähnlichen Ansatz folgte bisher die 1992 ins Leben gerufene englische „European Studies Series“ und vereinte vorwiegend monographische Überblicksdarstellungen zu nationalstaatlichen Entwicklungen. Martyn Lyons, Professor für Geschichte an der University of New South Wales, schlägt nun in dem zuletzt erschienenen Band dieser Reihe eine andere Richtung ein und stellt die vier Jahrzehnte zwischen Wiener Kongress und Krimkrieg aus gesamteuropäischer Sicht dar.

Auf eine programmatisch mit „Rethinking Post-Revolutionary Europe“ überschriebene Einführung folgen fünfzehn teils chronologisch, teils systematisch ausgerichtete Kapitel. Vorwiegend ereignisgeschichtliche Abschnitte über Europa um 1815, Frankreich bis 1830, die Revolutionen von 1830, die Zeit zwischen 1830 und 1848, die 1848er Revolution und den Krimkrieg werden durch strukturgeschichtliche Passagen zu Konservatismus und Repression, oppositionellen Bewegungen und Nationalismus, Öffentlichkeit und Judenemanzipation, urbanem und ländlichem Leben, Handwerkern, Bürgertum und Häuslichkeit unterbrochen und ergänzt. Lyons ist mithin bemüht, allen Sphären gerecht zu werden und neuere Forschungsimpulse aufzugreifen: Neben der Erinnerungsgeschichte zollt er der Kommunikations-, der Geschlechter- und in einem knappen Ausblick sogar der Globalgeschichte Tribut.

Unterkapitel untergliedern den Text zweckmäßig und übersichtlich. Die ergänzenden Tabellen sind nützlich, die beigefügten Karten weisen mitunter kleinere Schwächen auf (S. 11, S. 16). Die Reproduktionen gut ausgewählter Grafiken, Gemälde und Fotografien sind sorgfältig ausgewiesen und dienen erfreulicherweise neben der Illustration auch der Argumentation. Schön ist das unverbrauchte Titelbild italienischer Herkunft, das die europäische Ausrichtung des Buches ganz nebenbei bezeugt. Wie in englischen Studienbüchern üblich, ersetzen Endnoten und eine kommentierte Bibliographie ein eigentliches Literaturverzeichnis. Ein kombiniertes Register erschließt den Text.

Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Lyons trotz des Überblickscharakters seines Buches Spielraum für eigene Akzentsetzungen und Interpretationen bleibt. Aber schon die Gesamtkonzeption seines Buches offenbart das Bemühen um neue Perspektiven. So entspricht der Zuschnitt seines Themas zwar weitgehend der 2002 erschienenen Überblicksdarstellung Hartwig Brandts. Doch anders als Brandt, der die Epoche im Untertitel seines Buches mit den Schlagworten „Reaktion – Konstitution – Revolution“ charakterisierte 1, vermeidet Lyons diese etablierten Begriffe und setzt ihnen bewusst das Attribut „post-revolutionary“ entgegen. Denn Lyons will keine Geschichte von Restauration und Reaktion, sondern von Erinnern und Vergessen der revolutionären und napoleonischen Vergangenheit, keine Geschichte des nationalen Erwachens, sondern der nationalen Konstruktion schreiben (S. 1-2). Nun ist es zwar keine bahnbrechende Erkenntnis, dass das 19. Jahrhundert auf dem napoleonischen und revolutionären Erbe fußte 2, dennoch ist es zu begrüßen, dass Lyons die Epoche konsequent in ihrem „dilemma of rejection or incorporation“ (S. 23) beschreibt. Klaus Deinet hat jüngst von deutscher Seite bewiesen, wie anregend ein solcher erinnerungsgeschichtlicher Ansatz sein kann. 3

Lyons setzt sich auch in anderer Hinsicht von vergleichbaren Überblicksdarstellungen ab: Er sieht die entscheidende Zäsur für das nachrevolutionäre Europa nicht in den Jahren 1848/49, sondern im Ende des Krimkriegs 1856. Erst mit ihm sei die „alliance of conservative powers“ (S. 246) zerbrochen. Lyons folgt damit der Argumentation vom epochalen „Zerfall der Wiener Ordnung“, wie sie in der deutschen Forschung etwa von Anselm Doering-Manteuffel vertreten wurde. 4

Im Bemühen um eine differenzierte Bewertung der Epoche kann Lyons zumeist überzeugen, etwa wenn er auf die in ihr vollzogene Hinwendung zu „new forms of democratic politics“ (S. 247) oder die lange Friedenszeit hinweist, die das Wiener Staatensystem (S. 5, S. 20) bzw. der Deutsche Bund (S. 85) garantiert hätten. Daneben überdauern allerdings konventionelle Vorstellungen vom Deutschen Bund als ausschließlichem Instrument der Metternichschen Repression (S. 15, S. 40-42). Inkonsequent erscheint es zudem, wenn Lyons zwar die deutsche Epochenbezeichnung des Vormärz als „unnecessarily negative view of post-revolutionary Germany“ (S. 85) wertet, dann aber den deutschen Staaten pauschal eine antiliberale Haltung bescheinigt. Ihre frühkonstitutionellen Verfassungen passen für Lyons nicht recht ins Bild (S. 41). Immerhin erteilt er der Sonderwegsthese eine unmissverständliche Abfuhr (S. 226).

In Anlehnung an das Phasenmodell Miroslav Hrochs betont Lyons mehrfach den fragilen und embryonalen Zustand des Nationalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (S. 76-97, S. 247). In der Kennzeichnung nationaler Strömungen als „the affair of historians, linguistics, students and bureaucrats“ (S. 97) findet sich Lyons unter anderem im Einklang mit Ute Planert, die den frühen Nationalismus als Elitephänomen charakterisiert und die Zeit bis 1850 als „nationale Sattelzeit“ beschreibt. 5 Lyons zeigt sich ferner überzeugt, dass die moderne Nation erst im 19. Jahrhundert erfunden wurde, und greift bereitwillig Andersons Begriff der „Imagined Communities“ auf. Lediglich zwischen den Zeilen klingt Skepsis an, ob nationale Identität tatsächlich so artifiziell sei „like an item of IKEA furniture“ (S. 77).

Trotz Lyons gesamteuropäischem Anspruch liegt ein unvermeidlicher Schwerpunkt seiner Darstellung auf den fünf europäischen Großmächten, und hier besonders auf den zwei westlichen, doch berücksichtigt werden auch die italienischen und kleineren deutschen Staaten, Spanien und Portugal, die Niederlande und Belgien, die Schweiz und Polen. Angemessen erscheint die Einordnung der Ereignisse in Großbritannien in den europäischen Zusammenhang (S. 48-49, S. 103-106), zu holzschnittartig fällt hingegen das ausgesprochen düstere Russlandbild aus (u.a. S. 51-54, S. 185-186, S. 236-237). Skandinavien ist wie so oft auch bei Lyons ein blinder Fleck, obwohl das schwedische Königshaus Bernadotte sicherlich interessante Einblicke in den Umgang mit dem napoleonischen Erbe geboten hätte. Ebenso bleibt – mit Ausnahme Griechenlands – das unter osmanischer Herrschaft befindliche Südosteuropa weitgehend unberücksichtig.

Wenig gesamteuropäisch wirken Fußnoten und kommentierte Bibliographie. Die zur Vertiefung empfohlene Literatur ist fast ausschließlich von englischsprachigen Historikern verfasst oder ins Englische übersetzt. Freilich ist es Lyons einerseits kaum vorzuwerfen, wenn ihm seine durchaus profunde Fremdsprachenkenntnis – Deutsch zählt leider nicht dazu (S. 4) – nur eine beschränkte Rezeption der europäischen Fachliteratur erlaubt, auch mögen die vornehmlich englischen Titel der studentischen Leserschaft entgegenkommen. Andererseits hätte der von Buch und Reihe erhobene europäische Anspruch durch die Berücksichtigung der kontinentalen Forschungslandschaften an Glaubwürdigkeit gewonnen.

Lyons Buch wirbt mit „interesting comparisons and contrasts“ (Klappentext) zwischen dem Ende des napoleonischen Empire und dem Zerfall der Sowjetunion, und tatsächlich zieht Lyons zahlreiche Parallelen zu den Systemumbrüchen des 20. Jahrhunderts, deren letzter, selbst erlebter ihm zur Inspiration geworden sei (S. 3). Dementsprechend ist der Analogieschluss Lyons didaktisches Mittel der Wahl (S. 8): Er verweist auf Weimarer Republik (S. 10, S. 15), frühe Bundesrepublik und postfrankistisches Spanien (S. 8), deutsche Nachwendezeit und postsowjetisches Osteuropa (S. 8, 59, 60, 76), um den schwierigen Umgang mit napoleonischen Eliten, Veteranen und Institutionen nach 1815 verständlich zu machen. Problematisch daran erscheint vor allem, dass Lyons bei den Lesern seinen eigenen historischen Erfahrungshorizont voraussetzt und deshalb darauf verzichtet, seine Vergleiche wissenschaftlich nachvollziehbar zu machen (u.a. S. 60).

Von diesen Einschränkungen abgesehen ist Lyons Buch aber als eine hochwertige Synthese zu empfehlen, die eine solide Darstellung mit aktuellen Forschungsimpulsen verbindet.

Anmerkungen:
1 Brandt, Hartwig, Europa 1815-1850. Reaktion – Konstitution – Revolution, Stuttgart 2002.
2 Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte, Bd. 1: 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 1.
3 Deinet, Klaus, Die mimetische Revolution oder die französische Linke und die Re-Inszenierung der Französischen Revolution im neunzehnten Jahrhundert, 1830-1871 (= Beihefte der Francia 50), Stuttgart 2001.
4 Doering-Manteuffel, Anselm, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815-1871, München 1993 (EDG 15), hier bes. S. 36.
5 Planert, Ute, Wann beginnt der „moderne“ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit, in: Echternkamp, Jörg; Müller, Sven Oliver (Hrsg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760-1960 (= Beiträge zur Militärgeschichte 56), München 2002, S. 24-59.

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