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Titel
"Schützen und helfen"?. Luftschutz und Zivilverteidigung in der DDR 1955 bis 1989/90


Autor(en)
Heitmann, Clemens
Erschienen
Anzahl Seiten
500 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Lemke, Militärgeschichtliches Forschungsamt MGFA

Seit den Terroranschlägen von New York, London und Madrid haben nicht nur die aktuellen Bedrohungen durch islamistische oder andere Gewalttäter erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit erregt, sondern auch die möglichen bzw. nötigen Schutzmaßnahmen gegen deren Tun. Dabei stellt sich die Frage nach der Balance zwischen Schutz vor Bedrohungen und verfassungsmäßig garantierter Freiheit: Wie weit soll und darf der Staat gehen, um seine Bürger zu schützen, ohne ihre freiheitlichen Rechte über Gebühr zu beschränken oder gar zu gefährden? Diesen aktuellen politischen Fragen und Problemen muss sich auch der Historiker stellen.

Die Geschichte des Luft- und Zivilschutzes bietet dafür einen reichhaltigen Fundus an entsprechenden Folien und Vergleichsperspektiven. Denkbar wäre, direkte Verbindungen zu zeichnen oder auf dieser Basis gar Empfehlungen für die aktuell Verantwortlichen zu geben. Derlei Methode wird in anderem Zusammenhang von einem Teil der US-amerikanischen (Militär-)Historiker, etwa im Falle der Luftwaffengeschichte, bevorzugt.

In der deutschen Geschichtswissenschaft werden derartige Ansätze häufig eher skeptisch betrachtet. Hierzulande lässt man sich stärker auf individualisierende Einzelstudien unter Einbettung in die deutsche Nationalgeschichte ein, die im 20. Jahrhundert ja nicht gerade arm an interessanten Aspekten ist. Dem Betrachter bleibt es dann überlassen, ob und inwieweit er aktuelle Bezüge herstellen will.

Einen Beitrag dieser Art leistet Clemens Heitmann mit seiner Studie „Schützen und Helfen? Luftschutz und Zivilverteidigung in der DDR 1955 bis 1989/90“. Aufbauend auf den Ergebnissen der Militärgeschichtsschreibung zur DDR, die sich ihrerseits besonders mit der Rolle von Militär und Kriegsvorbereitung innerhalb des staatlichen und gesellschaftlichen Gesamtrahmens beschäftigt, beschreibt Heitmann den Aufbau und den Werdegang der Zivilverteidigung in der DDR von ihren Anfängen Mitte der 1950er-Jahre bis zum Fall der Mauer.

Der Leser erhält ein umfassendes, facettenreiches Bild, in dem zahlreiche unterschiedliche Perspektiven Berücksichtigung finden. Das Werk erhält durch die fundierte Basis, das bislang unausgewertete, umfangreiche Quellenmaterial, den Charakter eines Pionier- und Standardwerkes.

Insbesondere verdient die Berücksichtigung der strategischen Grundkonzeptionen Erwähnung. Heitmann hat hier sowohl die deutschen als auch die sowjetischen Wurzeln offengelegt und ist dabei dem wichtigen diachronen Aspekt gerecht geworden. Die Zivilverteidigung der DDR entstand in den 1950er-Jahren nicht im luftleeren Raum, sondern setzte bereits vor 1945 bestehende Tendenzen fort, dies jedoch unter strikter und direkter Führung und Anleitung durch Moskau.

Dass Heitmann neben den bekannten Vertretern der Konzeption des „Totalen Krieges“, etwa Ludendorff, auch den zentralen Vordenker der Sowjetunion, Frunse, zitiert, ist sehr verdienstvoll. Nicht immer finden im alltäglichen Geschäft die osteuropäischen Dimensionen des Luftkriegsgeschehens und die entsprechenden Schutzmaßnahmen für die Zivilbevölkerung die nötige Berücksichtigung, dies insbesondere über die Epochen hinweg, das heißt vor allem in Bezug auf die Verbindung des Kalten Krieges mit der Zeit vor 1945.

Heitmann beleuchtet danach ausführlich die teils verdeckten Anfänge des DDR-Luftschutzes vor der allgemeinen Wiederaufrüstung und zeichnete die ersten Schritte bis Anfang der 1960er-Jahre nach. Analog zu den Verhältnissen vor 1945 inaugurierte man eine ausgedehnte, flächendeckende Organisation unter der Leitung des MdI. Dazu sollte unter anderem auch eine Ausbildungs- und Propagandaorganisation, die „Organisation freiwilliger Luftschutzhelfer“ (OfL), gehören.

Die Beteiligten hatten jedoch rasch zu gewärtigen, dass die Ressourcen an Menschen und Material, die die DDR dem Luftschutz zuteilte, äußerst knapp waren und einen zügigen Aufbau verhinderten. Dazu kam die komplizierten und ineffizienten Strukturen, die infolge der Oberhoheit der SED und deren überall zwischengeschalteten Kontrollbehörden komplizierter war als in anderen Systemen.

Der ganze Aufbau begann zu stocken und scheiterte dann nahezu. Die Einheiten und Verbände vor Ort konnten oft nicht besetzt werden, es fehlte häufig an den nötigsten Materialien und Gerätschaften. Die OfL und andere Organisationselemente wurden aufgelöst.

Wie bei allen wichtigen Aspekten des Luftschutzes in der DDR und im Warschauer Pakt kam danach die Initiative für einen Neuanfang aus der Sowjetunion. Gemäß den Vorstellungen der Zivilverteidigung als „strategischem Faktor“ und in dem Bestreben nach einer Anbindung und Vereinheitlichung aller zivilen Schutzorganisationen wurden die Zivilverteidigungsorganisationen im Warschauer Pakt nach und nach unter das jeweilige Verteidigungsministerium gestellt und als umfassendes „System“ organisiert. Die DDR vollzog diesen Schritt endgültig jedoch erst 1976.

Damit einher gingen erhebliche Anstrengungen für eine massive Mobilmachung, nicht zuletzt auch der Frauen (Heitmann würdigt dies in einem gesonderten Teilkapitel) und eine ausgedehnte Übungstätigkeit. Der Schwung ging jedoch im Laufe der 1980er-Jahre wieder verloren. Die ganze Zivilverteidigung verschwand dann 1989/90 ohne größeres Aufheben.

Unter den zahlreichen Aspekten widmet Heitmann auch der Propaganda- und Erziehungsarbeit innerhalb der „Sozialistischen Wehrerziehung“ (SWE) breiten Raum. Wie schon im Nationalsozialismus blieb praktisch kein Bereich ungenutzt.

Hinter dem ganzen Gebäude stand offensichtlich ein „totalitäres Sicherheits- und Herrschaftsbedürfnis“ (S. 146) der DDR-Führung (Der Begriff „totalitär“ sollte vorsichtiger verwendet werden). Vollkommen zurecht verweist Heitmann darauf, dass Luftschutz und Zivilverteidigung keineswegs nur ‚neutrale’ Elemente zum Schutz der Bevölkerung im Sinne des Völkerrechts darstellen, sondern Teil der nationalen „Sicherheitsarchitektur“ sind.

Hat die Studie unübersehbare Vorteile in Bezug auf die Präsentation unterschiedlichster Fakten und Zusammenhänge, so sind doch einige Schwächen in der Deutung zu erkennen. Heitmann dringt zwar sehr weit in die Thematik ein, lässt zum Schluss dann aber doch in dem einen oder anderen Punkt die abschließende analytische Schärfe vermissen. So bleibt ein durchgängig zu beobachtender Widerspruch der DDR-Zivilverteidigung ungeklärt. Einerseits beschreibt Heitmann, wie sehr die Zivilverteidigung Instrument der Mobilmachung, Indoktrination und Überwachung gewesen sei, andererseits kommt immer wieder zum Ausdruck, dass die ganze Organisation von Anfang bis zum Schluss defizitär, ineffizient, bruchstückhaft, kurz gesagt wurmstichig war (Vor dem Mauerbau eine „papierne Schimäre“, danach „weitgehend funktionslos“, S. 381f.). Dies hätte nicht zuletzt auch das tiefgehende Desinteresse großer Teile der DDR-Bevölkerung verursacht. Der Leser fragt sich, wie eine derartige Organisation ungeachtet aller Planungen der Verantwortlichen tatsächlich ein „Element der totalitären Politik der SED“ (S. 147), also ein schlagkräftiges Organ einer (spät)stalinistischen Diktatur sein konnte?

Antworten mögen in der vergleichenden Analyse der Zivilverteidigungsorganisationen anderer Systeme liegen. Luftschutz war nie wirklich ein geliebtes Kind der Kriegsvorbereitungen und auch nie ein bedeutendes Instrument der Terrororgane einer Diktatur. Von den teils monströsen Organisationen sollte man sich in dieser Hinsicht nicht täuschen lassen. Goebbels schrieb im Jahre 1936 über die Propagandaorganisation des Luftschutzes im Dritten Reich, den Reichsluftschutzbund (RLB), eher ermüdet: „Ein dickes Gebilde, vorläufig ohne rechtes Gerippe. [...] All diese Organisationen werden so leicht zum Selbstzweck.“

Ein weiterer Punkt, der etwas im Unklaren bleibt, betrifft den realen Einfluss der aktuellen Militärstrategie jenseits der allgemeinen Konzeptionen, hier insbesondere der Einfluss der Nuklearwaffen. Heitmann legt überzeugend dar, dass das Hauptinteresse der Sowjetunion darin lag, sich ein Glacis zu verschaffen, um nie wieder einen verheerenden Krieg auf eigenem Boden führen zu müssen. Dies prägte auch die Zivilverteidigung. Nun kam es in den 1950er- und 1960er-Jahren zu einer ungeheuren atomaren Aufrüstung, die eine massive Vernichtung aller Staaten in West und Ost aus der Luft möglich machten. Damit waren letztlich alle bis dahin entwickelten Konzepte obsolet geworden. In der Studie entsteht der Eindruck, dass lediglich die direkten machtpolitischen Interessen der Sowjetunion und ihrer abhängigen Satellitenregime die Gestaltung der Zivilverteidigung bestimmten. Angesichts der einschneidenden Bedeutung vor allem der strategischen Atomwaffen fällt es schwer zu glauben, dass die Strategie hier überhaupt keinen Einfluss auf die entsprechenden Vorbereitungen hatte. Öffentliche und –teilweise- auch interne Äußerungen bezüglich der dauerhaften Vorbildfunktion des „Großen Vaterländischen Krieges“ der Sowjetunion sollten kritisch auf ihre Propagandafunktion untersucht werden. Der vergleichenden System- und Bündnisforschung stehen hier noch interessante Betätigungsfelder offen.

Ein letzter Punkt verdient noch Beachtung: Akzeptanz und Widerstand. Heitmann zeigt deutlich, dass trotz aller innerer Ablehnung wirkliche Widerstandsaktionen gegen eine Mobilmachung im Rahmen der Zivilverteidigung in nennenswertem Umfang nicht stattgefunden haben. Im Gegenteil wurde, teilweise noch in den 1980er-Jahren, konstruktive Kritik an den allgemeinen Bedingungen geübt. Es bleibt zu vermuten, dass – wie in jedem System – viele engagierte Personen existierten, die sich Vorteile (z.B. Weisungskompetenz und Anerkennung durch die Regierung) erhofften. Wenn überhaupt, war an Widerstand in größerem Umfang wohl interne Obstruktions- bzw. Ausweichpolitik zu beobachten. In dieser Hinsicht ging die Zivilverteidigung – wie offensichtlich das ganze System – langsam an Insuffizienz zugrunde.

Trotz der Kritikpunkte bleibt die Studie ein essentieller, wichtiger Bestandteil der Forschung zum Luft- und Zivilschutz und kann als ausgezeichnete Basis für Vergleiche dienen, dies insbesondere für den Zivilschutz der Bundesrepublik. Letzterer wies nämlich bei allen ideologischen und politischen Differenzen durchaus Parallelen zur DDR-Zivilverteidigung auf (z.B. fehlende Akzeptanz und Mittel sowie strategische Sinnkrise durch die Atomwaffen). Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse dient die Arbeit von Heitmann als Folie und historisch-politische Orientierung. Die Bedingungen für den Schutz der Zivilbevölkerung vor Massenvernichtungswaffen waren Teil der Geschichte Deutschlands und anderer Industrienationen im 20. Jahrhundert.

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