Titel
"Preußens Napoleon"? Ernst von Rüchel. Lebensbild eines altpreußischen Generals 1754-1823


Autor(en)
Jessen, Olaf
Erschienen
Paderborn 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
490 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Sikora, Sonderforschungsbereich 496 "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Die Wahrnehmungen der preußischen Reformen leiden bis heute unter den schematischen Etiketten für die Guten und die Bösen, die Neuerer und die Bremser. Gerade im Hinblick auf diese Epoche erweist sich daher immer wieder die Berechtigung und die Notwendigkeit der biographischen Methode, um die Komplexität dieses Prozesses, auch im Sinne einer strukturellen Perspektive, überhaupt erst ausloten zu können. Das vorliegende Buch ist Ernst von Rüchel gewidmet, der innerhalb des Schemas ganz eindeutig verortet schien, seit Clausewitz ihn mit einer „aus lauter Preußenthum gezogenen konzentrierten Säure“ verglichen hat. Aber auch sonst standen Rüchels Chancen um angemessene Würdigung schlecht. Die Phase seines größten Ansehens fiel in die Jahre vor 1806, die späterhin als Zeit des Verfalls und der Unentschlossenheit kaum noch Aufmerksamkeit fanden. 1806 auf französisches Drängen entlassen, verlor er auch das Vertrauen des Königs. So blieb ausgerechnet seine umstrittene Rolle in der Schlacht von Jena und Auerstedt, in die er als Befehlshaber eines Korps erst zu spät eingriff, sein letzter großer Auftritt. Das Vorhaben einer Biographie verspricht also in diesem Fall, Licht in manche verschattete Winkel zu werfen.

Olaf Jessen hat diese Aufgabe mit großer Umsicht und Eleganz gelöst. Der Text hält sich an die Chronologie des Lebenslaufs, ist aber in sachlich zusammenhängende Abschnitte eingeteilt, deren Zeiträume sich auch überschneiden dürfen. Die Hauptkapitel folgen den Regierungszeiten der drei Könige, unter denen Rüchel gedient hat. Das klingt ein wenig uninspiriert, lässt sich aber rechtfertigen im Hinblick darauf, dass die Beziehungen zu den Königen für Rüchels Lebenslauf durchaus von einschneidender Bedeutung gewesen sind. Das gilt besonders für das erste, aber kürzeste Kapitel über Friedrich den Großen, der den jungen Rüchel als Adjutanten in seine Nähe zog, ihm sein besonderes Vertrauen schenkte und damit Rüchels Karriere maßgeblich lenkte.

Die Kontinuität der Narration wechselt sich gerade zu Beginn der Abschnitte mit ausholenden Skizzen über Zeitumstände und Zeitläufe ab. Das verschafft nicht nur dem weniger mit der Zeit vertrauten Leser Orientierung, sondern erweitert die Perspektive immer wieder zu einem Epochengemälde, gestützt auf breite Lektüre und belebt durch viele anschauliche und sicher auch für den Kenner mitunter noch lehrreiche Einzelheiten. Die Lektüre wird getragen von einem sehr flüssigen Stil, wortgewandt und wortgewaltig, manchmal schon zum Pathos neigend, stellenweise vielleicht etwas altfränkisch. Man wird im Einzelfall darüber streiten können, ob die knappen Skizzen großer Zusammenhänge komplex genug, die bildkräftigen Impressionen differenziert genug sind, da sie meist auf recht entschiedene, vielleicht auch einseitige, gern wider den Stachel löckende Aussagen zugespitzt werden, aber das wäre an dieser Stelle Beckmesserei.

Aus dieser Fülle schält sich in jedem Fall das sehr differenzierte Portrait eines preußischen Generals in den Wirren eines Epochenwandels heraus. Er war eben keineswegs ein verbohrter Traditionalist, sondern atmete, durchaus als fritzisches Erbe, den Geist der Aufklärung. In diesem Sinne setzte er Reformen des Militärbildungswesens in Gang, pädagogisch auf dem neuesten Stand und überzeugt vom Wert militärischer Bildung. Er beteiligte sich vielfältig an Reformdebatten, sowohl innerhalb des Militärs, wo er für die Ausweitung der militärischen Dienstpflicht eintrat, als auch darüber hinaus, wo er sich beispielsweise in die Debatte über die Organisation der Regierung einschaltete. Er ließ sich zum Präsidenten der militärischen Gesellschaft wählen, einem Thinktank gebildeter, der Aufklärung verpflichteter Offiziere. Er pflegte respektvollen Umgang mit Scharnhorst und förderte auch einen so radikalen Denker wie Knesebeck. Aber auch in dieser Hinsicht ist Jessens Urteil entschieden: Rüchel reformierte, aber er gehörte gewiss nicht zu den Reformern. Die Vorrechte und Vorzüge des Adels waren ihm unerschütterliche Gewissheit, er verteidigte sie innerhalb und außerhalb des Militärischen, und diese Gewissheit prägte wohl auch sein herrisches Auftreten. Wo immer Reformvorschläge das Gefüge der ständischen Gesellschaft zu berühren drohten, zog er eine Grenze und eine Bremse.

Auch im Hinblick auf die Kriegführung war Rüchel demnach ganz von den Erfahrungen und Konzepten des späteren 18. Jahrhunderts geprägt. Jessen zeichnet ihn als Methodiker, der von planmäßigen Vorgehensweisen nicht nur Berechenbarkeit der Ergebnisse, sondern eben auch eine Hegung der Gewalt erwartete. So revolutionär seien die Revolutionskriege im Übrigen gar nicht gewesen, dass sich Rüchel mit seinem taktischen Rüstzeug nicht hätte erfolgreich behaupten können. Erst allmählich drängte sich ihm überdies die Bedrohung durch Frankreich auf, bis er sich auf politischer Ebene vom Befürworter traditioneller Bündnisse zum entschlossenen Gegner Frankreichs wandelte. Nicht sein behutsames, sorgfältig organisiertes Vorgehen bei Jena hält Jessen für erklärungsbedürftig, sondern dass er sich am Ende, eigentlich entgegen seinen alten Überzeugungen, noch auf einen aussichtslosen, anscheinend verzweifelten Angriff eingelassen habe.

Der Weg nach Jena bildet, sicher nicht zufällig im Umfeld der 200jährigen Wiederkehr, so etwas wie einen Kulminationspunkt des Buches. Damit dehnt der Autor auch seinen Anspruch aus. Hier habe nicht die bürgerliche Gesellschaft über den Ständestaat gesiegt, heißt es dann, denn weder revolutionäre Taktik noch revolutionäre Moral hätten den Ausschlag gegeben. Vielmehr habe Napoleons Entschlossenheit über die Zaghaftigkeit, Wankelmütigkeit und Selbstaufgabe der politischen und militärischen Führung Preußens gesiegt; an die Stelle struktureller Modelle setzt Jessen eine „psychologische Disposition“. Damit betritt er allerdings ein weites Feld, das als Nebenhandlung einer Biographie nicht wirklich befriedigend diskutiert werden kann. Was sich davon aber in Gestalt Rüchels konkretisieren lässt, ist in jedem Fall plausibel. Er steht für Offenheit und Fortschritt in der preußischen Armee schon vor 1806, aber er verkörpert zugleich deren Grenzen. Er lässt auch die Leistungsfähigkeit dieser Armee deutlich werden, und angesichts dessen ist es schon bemerkenswert, dass auch sein Kampfgeist von der schon vor der Entscheidung um sich greifenden Resignation nicht unberührt blieb. Gerade diese Ambivalenzen machen dieses vielseitige Buch zu einer lehrreichen und spannenden Lektüre über einen Lebenslauf, der dem Fortschritt folgt und den Epochenwandel fürchtet.