R. Hachtmann (Hrsg.): Ein Koloß auf tönernen Füßen

Cover
Titel
Ein Koloß auf tönernen Füßen. Das Gutachten des Wirtschaftsprüfers Karl Eicke über die Deutsche Arbeitsfront vom 31. Juli 1936


Herausgeber
Hachtmann, Rüdiger
Reihe
Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte, 9
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Linne, Clio & Co. Der Geschichtsservice, Hamburg

Zur Deutschen Arbeitsfront (DAF), der bei weitem mitglieder- und finanzstärksten Massenorganisation des Dritten Reichs, fehlt bis heute eine Gesamtdarstellung. Die Lücke erklärt sich aus einer fehlenden zentralen Überlieferung, aus dem breiten Themenspektrum, das die DAF bearbeitete, aber auch aus dem schier unüberschaubaren Institutionengeflecht dieses Molochs. Der Berliner Historiker Rüdiger Hachtmann edierte und kommentierte im vorliegenden Buch eine zeitgenössische, tiefgehende Analyse genau dieses Geflechts durch einen Wirtschaftsprüfer. Auf die Existenz des Evaluierungsberichts aus dem Jahre 1936 hatte er bereits in einem Aufsatz der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ aufmerksam gemacht.1 Nun folgt eine Edition dieses einmaligen Gutachtens – zu keiner zweiten NS-Organisation findet man ein ähnliches –, allerdings in Auszügen, denn das Original umfasst etwa 1.100 Seiten.

In einer über 90-seitigen Einleitung bettet Hachtmann das Dokument in den geschichtlichen Kontext ein: Hervorragendes Merkmal der Arbeitsfront war, dank der de facto bestehenden Zwangsmitgliedschaft aller „schaffenden Deutschen“, ihre riesige Mitgliederzahl von mehr als 25 Millionen im Jahr 1940. Durch Beiträge und die Gewinne ihrer eigenen Unternehmen verfügte sie über jährliche Gesamteinnahmen von etwa 800 Millionen Reichsmark – mehr als den meisten Ministerien zur Verfügung stand. Beide Faktoren ließen sie „zu einem Schwergewicht auf den politischen Bühnen des ‚Dritten Reiches‘“ werden (S. 10).

Am 2. Mai 1933 übernahm die DAF die ehemaligen Gewerkschaften samt ihrer Mitglieder und ihres Vermögens. Sie sollte jedoch nicht Arbeitnehmerinteressen vertreten, sondern der „Beseitigung des Klassenkampfes“ dienen. Ihre Aufgabengebiete umriss eine „Führer“-Verordnung vom 24. Oktober 1934. Die Deutsche Arbeitsfont sollte demnach die „Organisation der schaffenden Deutschen der Stirn und der Faust“ sein und „die Bildung einer wirtschaftlichen Volks- und Leistungsgemeinschaft aller Deutschen“ anstreben (S. 18). Dank der schwammig formulierten Vorgaben suchte das Heer der Funktionäre, das bis Kriegsbeginn auf 45.000 hauptamtliche Mitarbeiter anwuchs, ständig nach neuen Aktionsfeldern. Insgesamt wirkte der Aufbau der DAF recht improvisiert, der künftige Weg war noch nicht klar. Seit der Jahreswende 1934/35 bildete sich so ein „organisatorischer Wildwuchs ohnegleichen“ aus (S. 25). Kein Wunder, dass die Führung nach Sukkurs von außen suchte, nach einem externen Fachmann, da man selbst über einen solchen nicht verfügte. Der ideale Mann dafür war der selbständige Wirtschaftsprüfer Karl Eicke, Parteimitglied seit 1931 und erfahren in der Reorganisation kommunaler Verwaltungen und Wirtschaftsunternehmen. Er verfügte über „ein ausgefeiltes, modern anmutendes Instrumentarium“ (S. 11).

Ende Juli 1936 legte Eicke sein voluminöses Gutachten vor. Es fiel sehr kritisch aus: Er monierte in erster Linie die umständlichen internen Verwaltungsabläufe, die „Doppelarbeit“ und die Mitgliederverwaltung. Es war wie der Stich in ein Wespennest – überall „Unterschlagungen, Vetternwirtschaft, Inkompetenz“ (S. 35). „Kleine Aufgaben und große Ämter“, Sonderaufträge, Institutionenwirrwarr und Verselbständigungstendenzen kennzeichneten aus seiner Sicht den Organisationsaufbau (S. 37). Eicke beließ es freilich nicht bei Analyse und Kritik, sondern unterbreitete konkrete Vorschläge zur Umgestaltung, die von der Zusammenlegung oder Schließung ganzer Ämter bis zur Einsparung von 5.500 Mitarbeitern und zwei Dritteln der Finanzmittel reichten. Von weit größerer Bedeutung aber war, dass sie den Abschied der DAF von allem Ambitionen auf Kompetenz- und Machterweiterung bedeutet hätten. Eicke hatte folglich Grenzen übertreten: „Seine Vorschläge tangierten unmittelbar die Rolle der DAF im polykratischen Spiel der Mächte und die Machtpositionen der zentralen Funktionsträger der Arbeitsfront“ (S. 34). Diese Vorschläge konnten der machtbewussten Führung der DAF nicht behagen, und sie ließ Eicke für seine Verwegenheit büßen. Persönliche Angriffe und der Parteiausschluss im Oktober 1937 waren die Folge.

Die von Eicke konstatierten organisatorischen Unzulänglichkeiten hinderten die Arbeitsfront aber nicht an ihrem weiteren machtpolitischen Aufstieg. Im September 1936 formulierte Robert Ley ihren „Totalitätsanspruch“, den sie durch ein ungebremstes Ausgreifen auf alle möglichen Bereiche auslebte. Initiativen, sie durch ein eigenes DAF-Gesetz rechtlich einzuhegen, scheiterten. Hachtmann beschreibt, dass der Aufstieg der Arbeitsfront noch bis zum Herbst 1942 anhielt, erst danach wurde es stiller um sie. In den letzten Kriegsjahren setzte ein politischer Bedeutungsverlust ein. Die tieferen Ursachen hierfür sieht Hachtmann in der wenig zielgerichteten Kompetenzakkumulation der Organisation sowie in inneren Machtkämpfen, deren alleiniges Motiv immer die nominelle Machtfülle gewesen sei. Erschwerend kam hinzu, dass der Leiter der DAF, Robert Ley, innerhalb der NSDAP seit 1936 an Boden verlor und anderen die zentralen Rollen überlassen musste.

In den Auszügen des Gutachtens lassen sich dann die Details finden. Während Eicke zwar in seinem Gutachten zu klaren Ergebnissen kam, spitzte er sie in seiner Korrespondenz, die bei den ergänzenden Dokumenten mit abgedruckt ist, noch weiter zu. In einem Schreiben an Staatssekretär Paul Körner, Görings Stellvertreter in der Vierjahresplan-Behörde, wurde Eicke deutlich: „Die Ämter und Dienststellen sind stark aufgebläht oder sind auch nur wegen bestimmter Personen gebildet worden.“ Die DAF begäbe sich eingedenk ihres Totalitätsanspruchs „auf Gebiete, die eigentlich Arbeitsbereiche von Ministerien oder staatlich anerkannten Institutionen sind“ (S. 258). „Wenn die Entwicklung so weiter geht, ist die DAF sehr bald ein Staat im Staate.“ (S. 259) Ähnlich scharf argumentierte Eicke in einem Brief an das Oberste Parteigericht: „Ich konnte feststellen, dass fast überall eine starke personelle Überorganisation vorhanden war, die Kompetenzstreitigkeiten, Doppelarbeit und stark erschwerten Geschäftsgang zur Folge hatte. […] Hinzu kam noch, dass die fachlichen Kenntnisse der Sachbearbeiter meistens stark zu wünschen übrig ließen. […] Bei einem Wirtschaftsunternehmen hätte eine derartige Organisation zwangsläufig sehr bald zu einem Zusammenbruch führen müssen.“ (S. 267)

Abgerundet wird das Buch durch die Biographien führender DAF-Funktionäre, eine Chronologie zur Geschichte der Arbeitsfront sowie eine Auswahlbibliographie. Personen-, Institutionen- und Sachregister erleichtern die Benutzung des Bandes. Es verbleiben lediglich einige kleinere, marginale Kritikpunkte: Eine etwas willkürliche Bildauswahl mit unglücklicher Platzierung; der „Weltkongreß für Freizeit und Erholung“, der 1936 in Hamburg stattfand, wird von Hachtmann permanent als „internationaler Kongress ‚Freude und Arbeit‘“ tituliert (S. 111). Leider auch noch unter Bezugnahme auf eine Veröffentlichung des Rezensenten – das nagt am Ego! Auch der Umstand, dass der nicht ganz unbekannte Leiter von „Kraft durch Freude“ sowie Hauptgeschäftsführer der Volkswagenwerk GmbH, Bodo Lafferentz, gleich an fünf Stellen als „Laffarentz“ durchgeht (S. 314, 344, 354, 356, 372), widerspricht der ansonsten geübten Sorgfalt.

Nein, wenn man an diesem vorzüglichen Buch ernsthafte Kritik üben wollte, müsste man sich auf eine diskussionswürdige Frage konzentrieren: Besaß die DAF wirklich bis 1942 die Machtfülle, die Hachtmann ihr zuschreibt? Die DAF versuchte auf vielen Politikfeldern mitzuspielen, wirklich erfolgreich gelang ihr das aber nur auf wenigen. Der Gesamtorganisation wie ihrem Leiter mangelte es vor allem an exekutiven Kompetenzen. Ley gelang es erst im November 1940, zum „Reichskommissar für den sozialen Wohnungsbau“ und damit zum ersten Mal zum Chef einer „Obersten Reichsbehörde“ zu avancieren (S. 344). Sein Ende 1941 verfolgter Plan, zum „Reichskommissar für den Ausländereinsatz“ ernannt zu werden, scheiterte indes. Man müsste zweifellos genauer und detaillierter darlegen, auf welchen Gebieten die DAF realen Einfluss besaß.

Das Eicke-Gutachten ist in jedem Fall eine Trouvaille, eine faszinierende und einzigartige Quelle. Und mit Sicherheit handelt es sich um ein „Schlüsseldokument“ zur Geschichte der Arbeitsfront. Hachtmann bietet in seiner Einleitung eine souveräne Darstellung des Forschungsstandes, wobei ihm die Fülle eigener Vorarbeiten zugute kommt. Trotzdem bleibt eine Gesamtdarstellung der DAF ein Forschungsdesiderat. Hachtmann arbeitet an einem solchen Überblick im Rahmen eines DFG-Projekts. Auf seine Ergebnisse kann man sehr gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. Hachtmann, Rüdiger, Chaos und Ineffizienz in der Deutschen Arbeitsfront. Ein Evaluierungsbericht aus dem Jahr 1936, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 53. Jg. Heft 1/2005, S. 43-78.

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