M. Brocker (Hrsg.): Geschichte des politischen Denkens

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Titel
Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch


Herausgeber
Brocker, Manfred
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
800 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beate Rosenzweig, Seminar für Wissenschaftliche Politik, Universität Freiburg

Mit der gegenwärtigen Neustrukturierung der sozial- und geisteswissenschaftlichen Studiengänge und ihrer Modularisierung ist die Debatte um „kanonisches Wissen“ neu entfacht. Von Seiten der Studierenden wächst die Nachfrage nach Überblicks- und Nachschlagewerken und bei den Lehrenden und Forschenden steigt die Bereitschaft aktuell aufbereitetes „Kanon-Wissen“ in prägnanter Überblicksform zu liefern. So ist das von Manfred Brocker herausgegebene Handbuch zur Geschichte des politischen Denkens insbesondere „für den Gebrauch an Schulen und Universitäten“ und für politisch Interessierte gedacht (S. 12). Es soll „deutschsprachigen“ Lesern und Leserinnen ermöglichen, sich „in kurzer Zeit über zentrale Themen, Werke und Autoren zu informieren“ (S. 9).

Wie Brocker selbst hervorhebt, liegen im Bereich der politischen Ideen- und Theoriegeschichte bereits eine Vielzahl von Lexika und Hilfsmitteln für den schnellen Einstieg vor. Allerdings, so der Herausgeber, fehle es bislang an einem Nachschlagewerk, in dem die „Bedeutung einzelner Schriften“ für die Entwicklung des politischen Denkens hervorgehoben werde (S. 9). Letztere Einschätzung kann vor allem deshalb nicht geteilt werden, weil mit dem in diesem Jahr in der zweiten Auflage erschienenen, von Theo Stammen, Gisela Riescher und Wilhelm Hofmann herausgegebenen Band „Hauptwerke der politischen Theorie“ bereits ein Überblickswerk vorliegt, das genau dieser Herangehensweise folgt. 1 Es ist also weniger ein solches Kompendium, „was bislang fehlte“ (S. 9), sondern das vorliegende Handbuch unterscheidet sich vor allem durch die ausführlicheren und exemplarischen Werkinterpretationen.

Die 53 ausgewählten Werke „westlichen politischen Denkens“ erstrecken sich von Platons „Politeia“ bis zu Michael Hardts und Antonio Negris „Empire“, dem im Jahre 2000 erschienen Entwurf einer kritischen Theorie der Globalisierung. Ob diesem allerdings eine „epochemachende Wirkung“ oder „bleibende Bedeutung“ zugeschrieben werden kann, muss, wie Michael Saar zu Recht hervorhebt, bislang noch mit einem Fragezeichen versehen werden (S. 807). Berücksichtigt wurden in dem vorliegenden Handbuch nur Werke des „westlichen politischen Denkens“, da, so Manfred Brocker, „nur der Westen“ politisches Denken im engeren Sinne hervorgebracht habe (S. 10). Ist dieser prinzipiellen Deutung im Hinblick auf die politische Ideengeschichte noch prinzipiell Recht zu geben, so erscheint sie in Bezug auf die aktuellen politischen Theoriedebatten, denkt man beispielsweise an postkoloniale politische Theorien, zunehmend fraglich. Es wäre sicherlich sehr gewinnbringend, wenn der von Herfried Münkler und Iring Fetscher schon in „Pipers Handbuch der politischen Ideen“ angeregte interkulturelle Ansatz und der von Manfred Brocker selbst einleitend formulierte Anstoß zu einem verstärkten interkulturellen Dialog (S. 11) aufgenommen würden. 2 Die Engführungen westlichen politischen Denkens und die Selbstvergewisserung über dessen privilegierte Stellung – auch durch die fortlaufende Zitation in Form von Handbuchpublikationen – könnte auf diese Weise in eine produktive und kritische Debatte über den Gegenstandsbereich, die Traditionsbildungen und Aktualitätsbezüge politischen Denkens überführt werden.

Die einzelnen in diesem Handbuch versammelten Werkinterpretationen zeichnen sich vor allem durch die herausragende fachliche Kompetenz der hier versammelten fünf Autorinnen und 54 Autoren sowie durch die Pluralität der vertretenen Interpretationsansätze aus. Die Beiträge wurden ausnahmslos von ausgewiesenen Kennern der einzelnen Werke verfasst. Die vorliegenden Interpretationen ermöglichen einen konzisen und gut lesbaren Einstieg in die einzelnen Texte. Die ausgewählte Sekundärliteratur erleichtert eine weiterführende Beschäftigung. Zudem vermitteln die exemplarischen Interpretationen einen eindrücklichen Nachweis für die Methoden- und Perspektivenvielfalt innerhalb der politischen Ideengeschichtsschreibung und der politischen Theoriebildung. So verdeutlichen die versammelten Interpretationen, wie beispielsweise diejenige von Barbara Zehnpfennig zu Platons „Politeia“ oder die von Wolfgang Kersting zu Thomas Hobbes „Leviathan“, sehr anschaulich die Aktualität ideengeschichtlicher Fragestellungen und die Fruchtbarkeit eines anhaltenden Dialoges mit den „Klassikern politischen Denkens“. Die im Handbuch versammelten neueren Werke zur politischen Theorie, von Antonio Gramsci und Hannah Arendt über Leo Strauss und John Rawls bis hin zu Iris Marion Young und Otfried Höffe (um nur einige zu nennen), decken ein weites Spektrum von Denkrichtungen und politiktheoretischen Forschungsansätzen ab.

Auslassungen hervorzuheben, erscheint müßig, da auch ein über 800 Seiten starkes Handbuch nicht die gesammelte Produktivität westlichen politischen Denkens abbilden kann. Die genannten Auswahlkriterien „breit rezipiert“ und „die zeitgenössischen Diskussionen bestimmend“, ließen sich sicherlich mühelos auf zahlreiche weitere Autoren und Autorinnen ausweiten, je nach dem, welche Debatten und thematischen Schwerpunkte ins Zentrum gerückt werden. Eine Auswahl, die nicht thematisch fokussiert, kann die Vielfältigkeit der gegenwärtigen politischen Theoriedebatten allenfalls andeuten. Gleichwohl vermisst man beispielsweise aus feministischer Perspektive die Arbeiten von Judith Butler, aus poststrukturalistischer Perspektive zum Beispiel das Werk von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe oder aus der Perspektive der Debatte um Universalismus versus Relativismus sicherlich auch die Arbeiten von Martha Nussbaum und Amartya Sen. 3

Durch die Konzentration auf die einzelnen Werke können, notgedrungen, die inneren Zusammenhänge der Problemstellungen und die Entwicklungslinien der Theoriedebatten jeweils nur in Form der Wirkungsgeschichte angedeutet werden. Der durchgängige Verweis auf die wissenschaftliche Interpretationsvielfalt und bestehende Forschungskontroversen ist sehr positiv hervorzuheben – man vergleiche dazu stellvertretend die Beiträge von Rainer Forst zu Jürgen Habermas’ „Faktizität und Geltung“ und von Walter Reese-Schäfer zu Niklas Luhmanns „Soziale Systeme“. Er setzt einen wichtigen Kontrapunkt gegen die zunehmend verbreitete Ansicht, dass sich politisches Denken durch Einführungsliteratur erschöpfend erschließen ließe. Insofern wird das vorliegende Handbuch einer zentralen Zielsetzung eindeutig gerecht: Es regt an zu einem vertieften (Selbst-)Studium der besprochenen Werke und Autoren.

Anmerkungen:
1Stammen, Theo; Riescher, Gisela; Hofmann, Wilhelm (Hrsg.), Hauptwerke der politischen Theorie. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart 2007.
2Fetscher, Iring; Münkler, Herfried (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, 5 Bände, München 1985ff.
3Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991. Laclau, Ernesto; Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991. Nussbaum, Martha; Sen, Amartya, The Quality of Life, Oxford 1993.

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