Titel
Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess


Autor(en)
Dinzelbacher, Peter
Erschienen
Essen 2006: Magnus-Verlag
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Münsch, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Es gibt wohl nur wenige Bereiche, in denen uns das Mittelalter so fremd erscheint wie in seiner Rechtskultur. Zu den eigenartigsten und in ihrer Deutung bis heute umstrittensten Formen zählen ohne Zweifel Gottesurteile und Tierprozesse, welche der österreichische Mediävist Peter Dinzelbacher in seinem jüngsten Buch behandelt.

Dinzelbacher, der mit zahlreichen Studien zur Religiosität, Volkskultur und Mentalität des Mittelalters hervorgetreten ist, bekennt sich eingangs zu einer Mentalitätsforschung im Sinne von Frantisek Graus. In seinen einleitenden Überlegungen zu Fremdheit und Vertrautheit des Mittelalters definiert er Mentalität als „Ensemble der Denk- und Empfindungsweisen und -inhalte, von denen ein bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Epoche geprägt ist: Mentalität manifestiert sich in Äußerungen und im Verhalten“ (S. 14).

Als thematische Einführung (S. 22-26) bietet das Buch lediglich eine sehr gedrängte Differenzierung von germanischem, kanonischem und römischem Recht. Das erste Großkapitel ist dann den verschiedenen Formen von Gottesurteilen gewidmet (S. 27-102). Der Autor untersucht das Phänomen anhand zahlreicher Einzelbeispiele, die freilich nur knapp und kursorisch zur Sprache kommen. Treffend interpretiert er die Gottesurteile als Mittel zur Wahrheitsfindung und eben nicht als Form der Bestrafung. Beachtung verdient die geografische, geschlechterspezifische und soziale Differenzierung. So wurden je nach Geschlecht und (sozialer) Herkunft der Delinquenten unterschiedliche Formen von Gottesurteilen angewandt. Adlige ließen meist von Stellvertretern einen Zweikampf führen, die Pflugscharenprobe wurde wohl vorwiegend von Frauen verlangt, Eisen- und Kaltwasserprobe waren eher Unterschichten und Randgruppen vorbehalten.

Zumindest die ältesten Varianten der Gottesurteile entstammten dem germanischen Rechtsdenken und wurden im christlichen Sinne weiterentwickelt. In allen frühmittelalterlichen Leges sind Gottesurteile vorgeschrieben; auch in der Herrschergesetzgebung des Früh- und Hochmittelalters haben sie ihren Platz, überdies belegen erzählende Quellen ihre Anwendung. Sehr häufig lässt sich eine priesterliche Mitwirkung nachweisen; da die Priester Gebühren einnahmen, bedeuteten Gottesurteile, die vielfach sogar im Kirchenraum stattfanden, für die Kirche einen materiellen Gewinn. Erst das Vierte Laterankonzil (1215) verbot die Mitwirkung von Priestern und schaffte damit die meisten Gottesurteile de facto ab. Das Verbot setzte sich allerdings nur langsam durch, erst allmählich wurden „mehr und mehr Zweifel an der Vernünftigkeit und Gottgefälligkeit der Ordalien“ (S. 82) laut.

Unter mentalitätsgeschichtlichem Aspekt sieht Dinzelbacher Gottesurteile als Ausdruck einer „Magie der Unschuld“ (S. 91), indem Gott den Gerechten beisteht und verhindert, dass Schuldlose zu Schaden kommen. Von den meisten Zeitgenossen wurden Gottesurteile als „rituell erflehte Wunder“ (S. 93) wahrgenommen. Mit dem Verzicht auf sie ging der Verzicht auf eine außermenschliche Instanz bei der Wahrheitsfindung einher.

Tierprozesse (S. 103-156) sind in Europa erst seit dem 13. Jahrhundert nachweisbar; durchgeführt wurden sie bis ins 19. Jahrhundert vor allem in frankophonen Territorien, Zentren sind die Regionen Paris, Lausanne und Lothringen. Vor kirchlichen Gerichten wurden Schädlinge, etwa Mäuse oder Heuschrecken, vor allem zu präventiven Zwecken angeklagt; weltliche Gerichte urteilten über Haus- und Nutztiere, die einen Menschen verletzt hatten. Die Prozesse wurden von professionellen Juristen in obrigkeitlichem Auftrag durchgeführt; die Terminologie der erhaltenen Dokumente – Dinzelbacher führt hier eine beeindruckende Auswahl an Beispielen an – belegt, dass Tiere mit menschlichen Verbrechern gleichgesetzt wurden.

Zwei Fragen beschäftigen Dinzelbacher besonders: erstens, warum Theologen und Juristen die Möglichkeit einer Kommunikation zwischen Mensch und Tier vor Gericht für plausibel hielten, und zweitens, warum es Tierprozesse erst seit dem 13. Jahrhundert gab, während zuvor nur die Sachhaftung des Tierbesitzers üblich war. Auffällig ist, dass die Ausbreitung der Tierprozesse im zeitlichen Zusammenhang steht mit der Ausdehnung der weltlichen und kirchlichen Gerichtsbarkeit.

Anknüpfend an die Aussage Gratians, das vernunftlose Tier sei nicht rechtsfähig, setzte schon im 13. Jahrhundert vereinzelt Kritik an Strafen und Prozessen gegen Tiere ein, die kein Schuldbewusstsein besäßen und nicht in böser Absicht gehandelt hätten. Als Motiv für die Tierprozesse vermuteten die Kritiker die Habgier der Gerichtsherren; seit dem 16. Jahrhundert verstärkte sich der Widerstand gerade bei gelehrten Juristen. Der finanzielle Aspekt der Tierprozesse als einer Einnahmequelle genügt jedoch als Erklärung für deren Genese nicht. Dinzelbacher deutet ihren Sinn vielmehr vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Tier und Mensch, weist den auf diesem Sektor seit dem 12. Jahrhundert eintretenden Mentalitätswandel überzeugend nach und hält ihn für entscheidend bei der Genese der Tierprozesse. Allerdings geht er kaum auf geografische Besonderheiten und Schwerpunkte ein.

Mit den Tierprozessen, so fasst Dinzelbacher seine Erkenntnisse zusammen (S. 152-156), trat neben die „technische“ Kontrolle des Tieres eine soziale, indem man tierisches Handeln ebenso sanktionierte wie menschliches. Seit dem 13. Jahrhundert suchte man in zunehmendem Maße Schuldige für Krisen und Fehlentwicklungen; zeitgleich und im selben Kontext wie die intensivierte Häretiker- und Hexenverfolgung entstanden die Tierprozesse. Hinzu trat eine neue Sicht vom Tier, außerdem nahm die obrigkeitliche Tendenz zur Disziplinierung zu. Tierprozesse waren letztlich nicht Ausdruck eines irrationalen, sondern im Gegenteil eines rationaleren Denkens.

Im dritten Großkapitel über „Aspekte der Fremdheit des Mittelalters“ (S. 157-198) entwirft Dinzelbacher eine kurz gefasste Mentalitätsgeschichte des Mittelalters anhand der folgenden Aspekte und Komplexe: 1) Dominanz des Religiösen, 2) assoziativer und bildhafter Denkstil, 3) konkretes Erleben von Raum und Zeit, 4) Körperlichkeit – hier geht es vorrangig um spätmittelalterliche Mystik, Askese und Reliquienverehrung, womit wesentliche Ansätze zu einer Körpergeschichte des Mittelalters geleistet werden, 5) Spontaneität und Ritualisierung – im Unterschied zur mediävistischen Ritualforschung behandelt Dinzelbacher ausdrücklich die Spontaneität als Pendant und in ihrer Spannungsbeziehung zum Ritual, 6) Höherbewertung des Tuns gegenüber dem Denken (vor allem in den Bereichen Ethik und Recht) sowie 7) Verlust von Abstraktionsfähigkeit und intellektueller Flexibilität.

Abschließend (S. 199-211) skizziert der Autor „Phasen der Mentalitäten im Mittelalter“, indem er unter besonderer Beachtung der geistes- und ideengeschichtlichen Umbrüche des Hochmittelalters den Zeitraum von Augustinus bis ins 17. Jahrhundert zusammenfasst. Die am Ende des Buches beigegebenen „Verständnishilfen“ (S. 212-231) belegen die Anschlussfähigkeit von Dinzelbachers Ansatz. Für die Disziplinen Völkerkunde, Volkskunde und Psychologie erläutert der Autor deren Methoden und Sichtweisen bei der Erforschung fremder Kulturen und macht sie auf diese Weise für die historische Mentalitätsforschung fruchtbar.

Die mentalitätsgeschichtliche Annäherung an mittelalterliche Rechtsformen führt zu wesentlich authentischeren Erkenntnissen als der von der traditionellen Rechtsgeschichte eingeschlagene Weg und sorgt dafür, dass Charakter und Ausprägungen des mittelalterlichen Rechts für den modernen Menschen erkennbar werden. Dinzelbachers Darstellung führt fremde Rechtsgewohnheiten nicht als bloßes Faszinosum vor, sondern gewährt Einblicke in das Selbstverständnis der Akteure. Dabei verlangen die ebenso anschaulich wie reflektiert geschriebenen Darlegungen trotz der speziellen Thematik kein allzu großes Maß an Vorwissen vom Leser, sondern schlicht die Bereitschaft, die Menschen des Mittelalters in ihrer eigenen Lebenswelt kennenzulernen.

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