J. Roesler u.a.: Vom Kombinat zur Aktiengesellschaft

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Titel
Vom Kombinat zur Aktiengesellschaft. Ostdeutsche Energiewirtschaft im Umbruch in den 1980er und 1990er Jahren


Autor(en)
Roesler, Jörg; Semmelmann, Dagmar
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte 66
Erschienen
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Karlsch

Die ostdeutsche Energiewirtschaft gehört derzeit nicht zu den besonders schlagzeilenträchtigen Branchen. Dabei weist sie inzwischen einige bemerkenswerte Besonderheiten auf. So gibt es im Osten Deutschlands keine Atomkraftwerke mehr, und die Neuen Bundesländer verfügen bereits über beachtliche Kapazitäten bei der Windenergienutzung. Der nach wie vor wichtigste Energieträger im Osten ist jedoch noch immer die Braunkohle. Inzwischen stehen hier mehrere der weltweit modernsten Rauchgasentschwefelungsanlagen.

Jörg Roesler und Dagmar Semmelmann blicken in ihrer voluminösen Studie auf die Umbruchsjahre der ostdeutschen Energiewirtschaft zurück. Ein besonderer Vorzug ihres Buches besteht in dem Ansatz, wirtschafts-, sozial- und technikgeschichtliche Fragestellungen gleichgewichtig zu behandeln. Hervorzuheben ist auch der gewählte Untersuchungszeitraum von 1980 bis zum Jahr 2000. Dies erlaubt eine Analyse des Problemstaus in der Branche in den achtziger Jahren und eine bessere Einordnung der in den neunziger Jahren folgenden Umbrüche und Modernisierungen.

Das Buch besteht aus zwei eigenständigen Teilen. Im ersten Teil analysiert Jörg Roesler die Entwicklung der ostdeutschen Energiewirtschaft auf Grundlage eines umfangreichen Quellen- und Literaturstudiums aus wirtschaftshistorischer Sicht. Im zweiten Teil werden von Dagmar Semmelmann fünf exemplarische Fallstudien vorgestellt. Beide Herangehensweisen, die nüchterne und faktengesättigte, aber nie langweilige Analyse, als auch die Aufarbeitung subjektiver Erlebnisberichte, haben ihre Vorzüge. Roesler gelingt es souverän, die Schwerpunkte der Branchenentwicklung aufzuzeigen und die wichtigsten Problem- und Konfliktfelder zu benennen. Demgegenüber bieten die Zeitzeugeninterviews dem Leser die Chance, näher ans Geschehen heranzurücken und bisweilen auch sehr emotionale Eindrücke vom großen Umbruchsprozess zu erhalten, den die gesamte ostdeutsche Gesellschaft durchlief.

Die Energiewirtschaft der DDR litt in den achtziger Jahren unter Sparzwängen. Neuinvestitionen gab es kaum. Die Branche war an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gelangt. Eine hohe Lastfahrweise führte zur Überbeanspruchung der Anlagen, Störfällen, wachsenden Reparaturaufwendungen und immensen Umweltproblemen. Die von Roesler ausgewerteten Geschäftsberichte und die daraus erstellten Tabellen illustrieren diese Feststellung eindrucksvoll.

Wo es nötig ist, setzt sich der Autor auch mit Thesen aus der zeitgeschichtlichen DDR-Forschung auseinander. So lässt er die These einer „Doppelherrschaft“ von staatlichen Ministerien und örtlichen Parteiorganen für die Energiewirtschaft nicht gelten. Er lässt keinen Zweifel daran, wer in der Energiepolitik der DDR das letzte Wort hatte: der Wirtschaftsapparat der ZK der SED. Dem ist auch mit Blick auf andere Industriebereiche zuzustimmen, was nicht heißt, dass das Verhältnis von ZK-Apparat, Plankommission, Ministerien, Kombinate und Betriebe künftig nicht noch weiter ausgeleuchtet werden sollte.

Die Darstellung „Wendezeit“ 1989/90 nimmt bei Roesler genauso viel Platz ein wie die Analyse der gesamten 1980er-Jahre. Er konstatiert das rasche Ende basisdemokratischer Bestrebungen. Die Phase der Neuverteilung betrieblicher Macht endete bereits im Frühjahr 1990. Sowohl die auf Eigenständigkeit drängenden Direktoren als auch die Belegschaftsvertreter konnten ihre gerade gewonnenen erheblichen Entscheidungsspielräume nicht behaupten. Dies hing damit zusammen, dass das im März 1990 gebildete DDR-Ministerium für Umwelt, Naturschutz, Energie und Reaktorsicherheit (MUNER) von Anfang an in Übereinstimmung mit der Bundesregierung, den westdeutschen Energieversorgungsunternehmen (RWE, Bayernwerke AG, Preußen Elektra – die „Großen Drei“) und der westdeutschen Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE) agierte. Der Weg war vorgezeichnet: die Übernahme des westdeutschen Modells in der Energiewirtschaft. Dieses war durch wenige große private Anbieter mit regionalen Monopolstellungen, regulierten Preisen und umfassenden staatlichen Rahmensetzungen charakterisiert. Alternativkonzepte für die ostdeutsche Energiewirtschaft, etwa in Form einer Art Ruhrkohle AG für die Lausitzer Braunkohleproduzenten, das heißt die Bildung eines Staatsunternehmens oder aber eine Dezentralisierung, hatten keine Chance.

Kernstück der Neustrukturierung war der schon am 22. August 1990 zwischen dem MUNER, der Treuhandanstalt (THA) und den „Großen Drei“ geschlossenen Stromvertrag. Das war die Geburtsstunde der Vereinigte Energiewerke AG (VEAG). Obwohl in der Wirtschaftspresse damals ausführlich und durchaus kritisch darüber berichtet wurde, erfährt der Leser viel Neues. Dieser Abschnitt gehört zu den spannendsten des gesamten Buches. Den „Großen Drei“ gelang mit dem Stromvertrag eine risikoarme Übernahme der DDR-Energiebetriebe. Der „Kaufpreis“ von 8 Mrd. DM wurde bezahlt, indem die THA der VEAG 4 Mrd. DM liquide Mittel entzog und die Hälfte der künftigen Gewinne verpfändete. Außerdem wurden die „Großen Drei“ auch noch vom Altlastenrisiko freigestellt.

In einem Punkt konnten sich die neuen Eigner nicht durchsetzen: der Option für den Bau neuer Steinkohlenkraftwerke. Roesler beschreibt die divergierenden Interessenlagen von RWE, Bayernwerke AG und Preußen Elektra sowie das erstaunlich flexible Reagieren der IGBE. Die „Steinkohlengewerkschaft“ konnte im Osten nur Fuß fassen, weil sie die dortige Dominanz der Braunkohle anerkannte. Sie spielte dann auch eine herausragende Rolle bei der Option für die Beibehaltung der Braunkohlenverstromung.

Welche Möglichkeiten das VEAG-Management für eine selbständige Konzernpolitik überhaupt besaß und wie die Modernisierung der ostdeutschen Energiewirtschaft verlief, wird im dritten Kapitel diskutiert. Roesler würdigt die Leistungen der VEAG angemessen. Der Konzern investierte in den 1990er-Jahren jährlich 1,75 Mrd. DM in die Modernisierung seiner Anlagen und Netze und trug durch den Bau von Kraftwerken mit modernster Umwelttechnik wesentlich zur Verringerung der Schadstoffemission bei.

Die Schattenseiten der Modernisierung, vor allem der massive Stellenabbau, werden nicht ausgespart. Bedenkt man, dass die VEAG durch ihr Regionalmonopol im Gegensatz zu den meisten anderen ostdeutschen Unternehmen über ein weitgehend gesichertes Absatzgebiet verfügte, so vollzog sich der Personalabbau in ihren Betrieben zwar etwas langsamer als in den übrigen Wirtschaft, aber letztlich nicht weniger radikal.

Manch Überraschendes war bei der Umgestaltung des betrieblichen Sozialwesens zu konstatieren. Ersatzlos gestrichen wurden einige DDR-typische betriebliche Sozialleistungen wie Kulturhäuser, Kinderferienstätten, die Förderung von Sportvereinen und Zuschüsse zum Berufsverkehr. Andere, darunter vor allem die Pausenversorgung und Werkswohnungen, wurden in der Substanz übernommen. Neu hinzu kamen ein „persönlicher Sozialfonds“ und Wohnungsdarlehen. Die VEAG zeigte sich innovativ bei der Ausgestaltung von Sozialleistungen und ging dabei weiter als die Betriebe ihrer Anteilseigner. Die Symbiose aus Übernommenen und Neuem und die neue Art der Vergabe nicht mehr als automatisch gewährtes „Geschenk“, sondern als individualisierte Leistung, wird als gelungen eingeschätzt. Roesler stellt prononcierte Fragen, so nach den Möglichkeiten für eine selbständige Unternehmenspolitik des VEAG-Managements angesichts divergierender Interessenlagen der Anteilseigner. Seiner These, dass sich die VEAG bis Mitte der 90er-Jahre zu einem mehr und mehr unabhängig agierenden Unternehmen entwickelte, bleibt weiter zu hinterfragen. Das Unternehmen war kapitalschwach und auf die 1997 beginnende Liberalisierung des Europäischen Strommarktes nicht ausreichend vorbereitet.

Welchen enormen Einfluss die Europäische Union – beispielsweise durch die Liberalisierung von Märkten, Gesetzgebungsverfahren, Subventionspolitik – auf die Wirtschaftsentwicklung ihrer Mitglieder und von Branchen bzw. Einzelunternehmen inzwischen hat, sollte in künftigen wirtschaftshistorischen Darstellungen, die bis in die Gegenwart führen, noch viel stärker berücksichtigt werden.

In den Jahren 2000/1 endete die Geschichte der VEAG. Das Unternehmen wurde im Zuge der Fusionswelle auf dem europäischen Energiemarkt an den schwedischen Konzern Vattenfall verkauft.

Im zweiten Teil des Buches orientiert sich Dagmar Semmelmann in Methodik und Aufbereitung der von ihr geführten Zeitzeugeninterviews vor allem an den Arbeiten von Alexander von Plato, Lutz Niethammer und Dorothee Wierling. Nicht zuletzt deren Buch „Die volkseigene Erfahrung“ hat einen bis heute anhaltenden Boom der Oral History ausgelöst. Die Diskussion um die Vor- und Nachteile dieses Herangehens braucht hier nicht wiederholt zu werden. Inwieweit können Befragungen überhaupt als repräsentativ angesehen werden? Diesbezüglich können Historiker noch einiges von Wahlforschern, Statistikern und Soziologen lernen.

Auch Dagmar Semmelmann ist sich bewusst, dass viel von der Auswahl der Gesprächspartner und dem Fragenkatalog abhängt. Sie stellt fünf Fallgeschichten ausführlich vor. Bei ihren Gesprächspartnern handelt es sich um Direktoren, Betriebsleiter und Betriebsräte. Kritisch ist anzumerken: Zu Wort kommen nur „Gewinner“ und nicht die Ausgeschiedenen. Die Befragten schildern ihre biographischen Hintergründe, ihre rückschauende Wahrnehmung der achtziger Jahre, die persönlichen und betrieblichen Umbrüche der Wendezeit und ihre berufliche Entwicklung bei der VEAG. Einfühlsam und kenntnisreich kommentiert Dagmar Semmelmann die Interviews, stellt Allgemeintypisches heraus und verortet die wichtigsten Aussagen im zeithistorischen Kontext. Abschließend stellt sie, jeweils bezogen auf die drei Untersuchungszeiträume, Hypothesen zur subjektiven und kollektiven Verarbeitung der Umbruchsprozesse auf.

Insgesamt ein sehr lesens- und empfehlenswertes Buch. Für eine noch zu schreibende ostdeutsche Industriegeschichte der Wendejahre sind damit Maßstäbe gesetzt. Bleibt zu wünschen, dass bald auch für andere Branchen bzw. Unternehmen ähnlich gründliche Studien vorgelegt werden.

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