Cover
Titel
Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918-1945


Autor(en)
Vogt, Stefan
Erschienen
Anzahl Seiten
502 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristina Meyer, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

In der Folge von Detlev Peukerts wegweisender Gesamtdarstellung der Geschichte der Weimarer Republik konzentrierte sich die Forschung in den neunziger Jahren auf sozialgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Fragestellungen.1 Untersuchungen, die Begriffe wie Sozialmilieu, politische Kultur und Massengesellschaft in den Mittelpunkt stellten, ermöglichten abseits einer rein politikhistorischen Perspektive neue Einblicke in die vielfältigen Ambivalenzen und Verwerfungen der deutschen Gesellschaft dieser Zeit.2 Vielleicht bedurfte es erst dieser erweiterten Einsichten, um sich der Frage nach den Ursachen des Scheiterns der ersten deutschen Demokratie erneut aus einer partei- und geistesgeschichtlichen Perspektive zuzuwenden.

Dass schlichte Gegenüberstellungen wie Links- versus Rechtsradikalismus oder demokratisches versus antidemokratisches Denken mit Blick auf die zerklüftete politisch-ideologische Landschaft der Weimarer Republik und ihren Untergang keine tragfähigen Deutungsmuster mehr bieten, zeigen zwei aktuelle Veröffentlichungen. Nach Riccardo Bavaj, der 2005 – in kritischer Anlehnung an den Titel der berühmten Untersuchung Kurt Sontheimers aus dem Jahr 1962 3 – „linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik“ 4 beleuchtete, hat nun Stefan Vogt eine Studie vorgelegt, die erstmals systematisch die Geschichte der „Jungen Rechten“ innerhalb der Weimarer Sozialdemokratie untersucht.

Der von Helga Grebing geprägte Begriff „Junge Rechte“ bezeichnet einen Kreis zugleich national und sozialrevolutionär orientierter Sozialdemokraten, deren Kern die Redaktionsmitglieder der 1930 gegründeten „Neuen Blätter für den Sozialismus“ bildeten. Anders als Axel Schildt 5 betrachtet Vogt die Junge Rechte trotz fehlender formeller Zugehörigkeitskritierien als eine in ideologischer wie organisatorischer Hinsicht „zusammengehörige und distinkte Strömung innerhalb der Weimarer Sozialdemokratie“ (S. 13). Sie entwickelte sich Mitte der zwanziger Jahre aus dem Hofgeismarkreis der Jungsozialisten und etablierte sich als einflussreicher Flügel innerhalb der SPD. Ihre Protagonisten waren nach 1933 in verschiedenen Widerstandskreisen aktiv.

Vogt betrachtet seine Untersuchung, die sich in Form einer Synthese politik-, geistes- und sozialhistorischer Ansätze am methodischen Konzept der „intellectual history“ orientiert, als Beitrag zu drei Forschungsfeldern: Zum einen möchte er die Stichhaltigkeit der Thesen Hans Mommsens und anderer Autoren überprüfen, nach der die Sozialdemokratie der späten Weimarer Jahre den ihr oft vorgeworfenen Immobilismus hätte überwinden können, wenn sie den Ideen der Jungen Rechten gefolgt wäre.6 Darüber hinaus geht es ihm um eine veränderte Perspektive auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der zu einseitig mit Blick auf die Nachkriegsentwicklung analysiert worden und ebenfalls einer starren Gegenüberstellung von „rechtem“ konservativ-militärischem versus „linken“ proletarisch-antifaschistischem Widerstand gefolgt sei. Schließlich möchte er ergründen, ob die Junge Rechte bereits als Vorkämpfer und Motor einer „Modernisierung“ der Sozialdemokratie nach 1945 wirkte und schon vor 1933 die Grundgedanken des Godesberger Programms von 1959 antizipierte.

Zunächst bietet Vogt eine systematische Untersuchung der ideologischen und organisatorischen Wurzeln der Jungen Rechten. Mit dem „nationalen Sozialismus“ vertrat die Gruppe ein zeittypisches Konglomerat von Ideologemen, in dem die soziale Befreiung der Arbeiterschaft als untrennbar von der nationalen Befreiung der „Volksgemeinschaft“ gesehen wurde. Vogt identifiziert den „nationalen Sozialismus“ als ein Phänomen, dessen Wurzeln im sozialdemokratischen Integrationsnationalismus lagen. Unter dem Einfluss der „Ideen von 1914“ und des „Kriegssozialismus“, in Abwendung von der materialistisch-marxistischen Sozialismustheorie und der Hinwendung zu irrationalistischen, ethisch-religiösen und lebensphilosophischen Erklärungs- und Argumentationsmustern entwickelte es sich zu einer Krisenideologie, die über Klassen- und Parteigrenzen hinaus in den zwanziger Jahren zunehmend an Anziehungskraft und Einfluss gewann – und dies im Kontext der aufkommenden Jugendbewegung vor allem unter jungen Sozialdemokraten. Die Junge Rechte bewegte sich in einem Spannungsfeld „zwischen Sozialdemokratie und Konservativer Revolution sowie zwischen bürgerlicher Demokratie und Nationalsozialismus“ (S. 23) und eignet sich nach Meinung von Vogt daher besonders gut dazu, „jener grundlegenden Dialektik von emanzipatorischen und antiemanzipatorischen Tendenzen im Denken dieser Zeit nachzuspüren“ (S. 24). In dem „zentralen Widerspruch zwischen einer relativen ideologischen Affinität zum Nationalsozialismus einerseits und dessen militanter politischer Bekämpfung andererseits“ (S. 13), der das Denken und Handeln der Jungen Rechten in der SPD prägte, sieht Vogt einen Beleg dafür, dass sich in der politisch-ideologischen Gemengelage intellektueller Zirkel und Gruppierungen der Weimarer Zeit keine scharfen Grenzen zwischen links und rechts ziehen lassen.

In einem Kapitel zur organisatorischen Entwicklung gelingt es Vogt, die zahlreichen Kontakte, Verflechtungen und oftmals fließenden Übergänge zwischen der Jungen Rechten und den unterschiedlichsten Teilen der bündischen und völkischen Jugendbewegung, der Konservativen Revolution und insbesondere des „Tat“-Kreises aufzuzeigen. Die generationsspezifische Fronterfahrung, ein antikapitalistisches Ressentiment und das Ideal einer nationalen Lösung der sozialen Frage bildeten die wichtigsten gemeinsamen Nenner der Gruppierungen. Die Tagung „Mit oder ohne Marx zur deutschen Nation“ im Oktober 1932 markierte den Höhepunkt der Annäherung zwischen der Jungen Rechten und der Konservativen Revolution, mit der „die Grenze des sozialdemokratischen Lagers deutlich überschritten“ wurde (S. 129). Nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer national und autoritär orientierten Anschauungen habe die Junge Rechte im Unterschied zur linken Opposition in der SPD seit etwa 1925 „eine nicht mehr zu übersehende Präsenz“ in der Parteiorganisation und im Reichsbanner entwickelt (S. 110). Dennoch bleibt an manchen Stellen unklar, wie bedeutend der Einfluss dieser vergleichsweise kleinen sozialdemokratischen Gruppierung wirklich war: Einerseits spricht Vogt von einem „breite[n] und zuverlässige[n] Netz an Verbündeten in der obersten Führungsetage der Partei“ (S. 153), andererseits sei die Parteiführung nie so weit gegangen, „die Junge Rechte als Teil des offiziellen sozialdemokratischen Kurses zu etablieren“ (S. 142). Auch dass Vogt in der organisatorischen Entwicklung der Jungen Rechten eine „eigentümliche inverse Korrelation mit der politischen Entwicklung der Weimarer Republik“ (S. 154) beobachtet – je krisenhafter die Gesamtlage, desto einflussreicher und gefestigter sei die Junge Rechte gewesen – erscheint als Schlussfolgerung selbst eigentümlich, war die Junge Rechte doch offensichtlich eine aus der Krise geborene Bewegung.

Zwei breit angelegte analytische Kapitel widmet Vogt den ideologischen Leitmotiven der Jungen Rechten und – darauf aufbauend – ihren konkreten politischen Konzepten und Strategien in der Spätphase der Weimarer Republik. Den ideologischen Leitbegriffen Nation, Klasse, Staat, Demokratie und Glaube ordnet er die Politikfelder Außenpolitik, Wirtschaftspolitik, Verfassungsreformdebatte, politische Strategie und Faschismusanalyse/antifaschistische Strategie zu. Dabei vergleicht er die Positionen der Jungen Rechten jeweils mit dem offiziellen sozialdemokratischen Diskurs sowie mit den Diskursen der Konservativen Revolution. Vogt konstatiert eine durchgängige Zwiespältigkeit im Verhalten der Jungen Rechten: Das Spannungsverhältnis zwischen ihrer ideologischen Nähe zur Konservativen Revolution einerseits und ihrer festen politischen Verwurzelung in der Sozialdemokratie andererseits führte zu einem Immobilismus, der sowohl eine weitere Radikalisierung nach rechts wie auch eine Verwirklichung ihrer innovativen politischen Konzepte verhinderte. Der Vorwurf des Immobilismus hätte nach Meinung von Vogt weniger der SPD insgesamt, sondern vielmehr der Jungen Rechten gemacht werden müssen, da letztere ihre Innovativität durch ideologischen Irrationalismus ausbremste und verspielte. Die Zusammenarbeit der Jungen Rechten mit rechten Gruppierungen stieß wiederum immer dann an ihre Grenzen, wenn es um radikale politische Konsequenzen ging, die das demokratische System grundlegend in Frage stellten. Zu einem besonders scharfen Urteil kommt Vogt im Hinblick auf das Verhalten gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung: Die Junge Rechte habe sich an der Zerstörung der Republik mitschuldig gemacht, indem sie Propaganda und Organisationsprinzipien der NSDAP unter dem PR-Motto der „militanten Partei“ imitierte und die Durchsetzungskraft des Nationalsozialismus zugleich unterschätzte.

Die Gratwanderung der Jungen Rechten zwischen emanzipatorischen und antiemanzipatorischen Ideen setzte sich in ihrem Widerstand gegen den Nationalsozialismus fort. Überzeugend erörtert Vogt, wie stark die im Kreisauer Kreis entwickelten Neuordnungskonzepte von der Weimarer Ideologie der Jungen Rechten geprägt waren und wie unbegründet und unpräzise der in der Bundesrepublik so beliebte Rückgriff auf das „andere Deutschland“ war. Ein erstaunlicher Befund Vogts ist, dass die Sozialdemokraten innerhalb des Kreisauer Kreises oftmals eine nationalistischere und antiindividualistischere Position vertraten als Mitglieder aus dem konservativ-bürgerlichen oder adligen Milieu. Vogt wird seinem eingangs formulierten Anspruch gerecht, die schablonenartige Perspektive auf den Widerstand zu differenzieren. Weniger gelingt ihm dies im Hinblick auf das Vorhaben, über die Zäsur von 1945 hinauszugehen und die Frage nach dem modernisierenden Einfluss der Jungen Rechten auf die Sozialdemokratie zu beantworten: Ebenso wie die Nachgeschichte der Weimarer Republik habe die Geschichte der Jungen Rechten mit dem Jahr 1945 geendet, bilanziert Vogt lakonisch.

Trotz der detaillierten Analysen Vogts bleibt der Leser angesichts dieses fundamental widersprüchlichen Verhältnisses von ideologischer Radikalität und parteipolitischem Pragmatismus der Jungen Rechten zunächst ein wenig ratlos und rätselnd zurück. In seinem Resümee aber macht Vogt überzeugend deutlich, dass gerade in diesem Widerspruch „der Schlüssel für das Verständnis dieser Ideologie“ (S. 457) gesehen werden müsse. Der Krisendiskurs der Jungen Rechten war ebenso wie derjenige der Konservativen Revolution „ein genuiner Ausdruck der Dialektik der Aufklärung“ (S. 458). In Hinwendung zum Irrationalismus – aber mit rationalen Mitteln – revoltierten beide Bewegungen gleichermaßen gegen die Rationalität ihrer ursprünglichen Bezugssysteme: Sozialismus und bürgerliche Gesellschaft.

Anmerkungen:
1 Peukert, Detlev, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987.
2 Vgl. exemplarisch Lehnert, Detlef; Megerle, Klaus (Hrsg.), Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Opladen 1990. Weichlein, Siegfried, Sozialmilieus und politische Kultur in der Weimarer Republik. Lebenswelt, Vereinskultur, Politik in Hessen, Göttingen 1996. Ankum, Katharina von (Hrsg.), Women in the Metropolis. Gender and Modernity in Weimar Culture, Berkeley 1997.
3 Sontheimer, Kurt, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962. Vgl. auch Stern, Fritz, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern u.a. 1963.
4 Bavaj, Riccardo, Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005.
5 Vgl. Schildt, Axel, National gestimmt, jugendbewegt und antifaschistisch – die Neuen Blätter für den Sozialismus, in: Grunewald, Michel (Hrsg.), Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Bern 2002, S. 363-390.
6 Vgl. Mommsen, Hans, Die Sozialdemokratie in der Defensive. Der Immobilismus der SPD und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: ders., Sozialdemokratie zwischen Klassenbewegung und Volkspartei, Frankfurt am Main 1974, S. 106-133.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension