A. Doering-Manteuffel (Hrsg.): Strukturmerkmale der deutschen Geschichte

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Titel
Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.


Herausgeber
Doering-Manteuffel, Anselm
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs - Kolloquien 63
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 273 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Welskopp, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Mal kurz, mal lang – das 20. Jahrhundert verlangt nach neuen geschichtswissenschaftlichen Deutungen, die über die klassische Orientierung an politisch-militärischen Umbrüchen hinausgehen. Denn sonst zerfällt dieses Jahrhundert in erratisch nebeneinanderstehende Teile, die bei isolierter Betrachtung jeweils entweder zur Katastrophen- oder Siegergeschichtsschreibung einladen: das „Zeitalter der Weltkriege“ oder, in anderer Lesart, der 40-jährige „Europäische Bürgerkrieg“ mit der Apokalypse des „Holocaust“, dann gleichzeitig „Kalter Krieg“ und „trente glorieuses“, schließlich „Globalisierung“ und Untergang des „Ostblocks“ sowie neue Krisenphänomene. Der Nachteil solcher kurzatmigen Betrachtungsweisen ist vor allem, dass eine historische Erklärung der Transformationen von einer Phase zur nächsten kaum gelingen kann.

Das Ziel vieler neuerer Deutungsversuche ist es deshalb, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht ausschließlich auf die Bilanz des Schreckens zu reduzieren und zugleich die Zeit nach 1945 nicht als reine westliche Whig History zu verklären. Zum einen spiegelt sich darin die Einsicht, dass eine punktuelle Zäsur wie „1945“ die Wirkungsketten in den Hintergrund drängt, die ein solches „Ereignis“ erst als Element eines längeren historischen Prozesses erkennbar werden lassen. Zum anderen wird darin ein Trend sichtbar, nicht mehr allein politische oder diplomatische Daten für „zäsurfähig“ zu erklären, sondern auch sozioökonomische und gesellschaftspolitische Umbrüche. Dies wertet die 1970er-Jahre als Phase eines Strukturbruchs auf, wodurch die politischen Brüche nicht überdeckt, aber neu interpretiert und eingeordnet werden sollen.

Einer solchen Forschungstendenz ist auch der hier vorzustellende Sammelband zuzurechnen, der auf ein Kolloquium über „Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts“ zurückgeht, das der Tübinger Zeithistoriker Anselm Doering-Manteuffel als Stipendiat des Historischen Kollegs im Mai 2003 veranstaltet hat. Im Folgenden möchte ich mich auf die Zielsetzung des Kolloquiums konzentrieren und vor allem die größeren Linien der Argumentation diskutieren. Welche Gestalt nimmt die Deutung des 20. Jahrhunderts in diesem Sammelband an?

Zuerst einmal verblüfft, wie zentral das Adjektiv „deutsch“ die Diskussion nach wie vor trägt. Die meisten Beiträge beschreiben ausdrücklich deutsche Phänomene und deutsche Entwicklungen aus sich heraus, in denen sich transnationale Erscheinungen und Einflüsse wiederum nur gebrochen spiegeln – in der Rezeption, Adaption und Reaktion darauf. Man hätte vermutet, dass mit der Erweiterung des periodisierenden Blicks auf die Bereiche von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur eine „deutsche“ Phänomenologie viel tiefer in internationale, ja globale Prozesse hätte eingebettet werden müssen. So behandelt Andreas Wirsching die Konsumgesellschaft und die Sozialpolitik überraschenderweise in der Sektion „Herrschaft und Politik“, wo sie im Grunde als staatspolitische Gegenstände – als Legitimationsinstrumente – in der „Dialektik von Diktatur und Demokratie“ erscheinen. Dabei fordert Michael Geyer in seinem unmittelbar vorangehenden Essay über die Widersprüchlichkeit und Wandelbarkeit des politischen Raums eine veränderte Optik, die bei ihm leider nur schemenhaft Gestalt annimmt, aber doch faszinierende Interpretationsmöglichkeiten eröffnen könnte. Denn Geyer formuliert die „Deutschlastigkeit“ der Erklärungs- und Beschreibungsansätze zu einem historischen Problem um: Wegen der trans- und internationalen Einbindung Deutschlands waren „nationale“ Entwicklungen nie autochthon „nationale“, aber es scheint ein tatsächliches Strukturmerkmal der deutschen Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert gewesen zu sein, sie als spezifisch „nationale“ zu behandeln. Gerd Koenen bezeichnet dies in seinem Beitrag später als einen kennzeichnenden „autistischen“ Zug der deutschen Politik.

Wenn man dies weiterdenkt, bleibt man nicht bei der – sicher berechtigten – Forderung stehen, den „Primat der Innenpolitik“ gegen den älteren „Primat der Außenpolitik“ nicht länger auszuspielen (Michael Geyer) oder den „internationalen Beziehungen“ in der Geschichtswissenschaft wieder mehr Geltung zu verschaffen (Eckart Conze). Die von Doering-Manteuffel freimütig konzedierte „nationalgeschichtliche Introspektion“ des Kolloquiums (S. 8f.), die sich im Sammelband niedergeschlagen hat, lässt sich nicht auf diplomatiegeschichtlicher Ebene beheben. Vielmehr erlaubte die Veränderung des Blickwinkels, die Geyer anregt, eine genauere Verortung des deutschen „Autismus“ in der spannungsreichen Dialektik zwischen nationalem Machtstaat und industrieller Wachstumsgesellschaft unter (weitgehend) kapitalistischen Vorzeichen – als Ausprägung in einer ganzen Bandbreite von Erscheinungen zumindest transnationaler, wenn nicht globaler Prozesse.

Bei dynamischer Wirtschaftsentwicklung und gleichzeitigen gesellschaftlichen Konflikten scheinen das politische System, die ihm zugeschriebenen Aufgaben und seine Gestaltungsansprüche entscheidend dafür gewesen zu sein, welche Konsequenzen Prozesse hatten, die ansonsten zeitgleich in vielen, zumeist westlichen Ländern abliefen. Dann wäre weniger die Frage, in welchem Maße Deutschland in der Zwischenkriegszeit eine Konsumgesellschaft war, als vielmehr, wie der Druck in diese Richtung ein nach innen repressives und nach außen aggressives politisches System zu kriegerischer Expansion drängte, um politisch behinderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten durch territoriale Eroberungen auszugleichen. Aus dieser Perspektive wäre die Aggression nach außen weniger eine Folge gesellschaftlicher und politischer Rückständigkeit – wie in der These vom „deutschen Sonderweg“ – als vielmehr die Konsequenz einer „introvertierten“ politischen Transformation modernistischer Einflüsse in zerstörerische Energie.

Dieses Argument ließe sich auf Harold James’ Beitrag über die deutsche Wirtschaft im 20. Jahrhundert übertragen. James setzt die Phase zwischen 1914 und den 1950er-Jahren als eine Periode dezidierter „De-Globalisierung“ von vorhergehenden und nachfolgenden Zeiträumen beschleunigter Globalisierung ab. Wie die Mehrzahl der übrigen Texte veranschlagt er die 1970er-Jahre als einen entscheidenden Strukturbruch in der deutschen Ökonomie. Die deutsche Zwischenkriegszeit war ein Lehrbeispiel, wie militant vor allem die Schwerindustrie auf den Nationalstaat setzte, um sonst vermeintlich unerreichbare Expansionsmöglichkeiten im Zweifel „freizukämpfen“. Für die Expansionsphase nach 1945 macht James das Argument von der Bedeutung der Familienunternehmen in Deutschland als Besonderheit stark, aber man könnte weitergehen und sagen, dass die weltweiten Exportoffensiven schon vor 1914 ja auch in einem beträchtlichen Maße von Familienunternehmen (etwa im Werkzeugmaschinenbau) getragen waren, dass hier also vielleicht ein Defizit an politischer Organisationsfähigkeit langfristig eine friedliche, den zunehmenden Freihandel nutzende ökonomische Expansion notwendig machte, die sich in die Globalisierungsprozesse seit 1945 flexibel einschmiegen konnte. Ganz plakativ gesagt, war dies der Siegeszug des supranationalen Europakonzepts (Europa spielt in dem Band eine erstaunlich randständige Rolle) gegenüber dem hegemonialen europäischen Wirtschaftsraumkonzept der SS.

Weitere Beiträge stützen das Argument. Die Kontinuität eines tendenziell ausbaufähigen Systems an Infrastrukturen mit den entsprechenden Experten (Dirk van Laak) war sicher politisch janusköpfig und konnte sowohl für militärische Aggression als auch für friedliche Verflechtung Ressourcen bereitstellen; die aufsteigenden Expertenkulturen gab es in Deutschland wie anderswo (Lutz Raphael), allerdings mit der entscheidenden Wendung von der „nationalen“ zur „internationalen“ Orientierung. Die Frage nach den Generationen (Andreas Wirsching, Jürgen Reulecke) sollte vielleicht weniger zu einem antistrukturalistischen Argument Anlass geben, das sich von einem antiquierten Strukturbegriff absetzt (den in der Geschichtswissenschaft wohl kaum noch jemand vertritt), als vielmehr auf der lebensgeschichtlichen Ebene die Verfestigungen oder auch radikalen Umschläge zwischen aggressiv „nationaler“ und vermittelnd (transnational) „demokratisierender“ Denk- und Handlungsausrichtung nachvollziehbar machen und damit das Gerede von der „Stunde Null“ endgültig historisieren. Dass beim Ziehen großer Linien die Geschichte der Juden wie ein blutiger Monolith im Wege bleibt, wie Moshe Zimmermann eindringlich klarmacht, ist der Radikalität der NS-Herrschaft geschuldet, aber auch – im Sinne des hier vorgetragenen Arguments – der Irreversibilität mancher „großen Entwicklungen“.

Vielleicht war das 20. Jahrhundert also von der Dialektik des modernen Machtstaates und der industriellen Wachstumsgesellschaft unter kapitalistischen Vorzeichen geprägt. Das Ende des Zweiten Weltkriegs könnte vor diesem Hintergrund schon als Anfang vom Ende der Expansion tatsächlicher staatlicher Regelungskapazität interpretiert werden, mit Margaret Thatchers (und eher unfreiwillig Ronald Reagans) „neoliberaler Wende“ in gesellschaftspolitischer Kontinuität. Das heraufziehende Informationszeitalter, das Unternehmenssteuerung und Produktion räumlich entkoppelte (Doering-Manteuffel spricht zutreffend von einer „Dritten Industriellen Revolution“), entzog dann seit den 1980er-Jahren dieser älteren Konstellation auch ökonomisch dauerhaft den Boden. Insofern wären die vierzig Jahre des Kalten Krieges letztlich nur ein politischer Anachronismus gewesen, der solange Bestand hatte, wie man meinte, das Ökonomische noch staatlich einhegen zu können. Dann wiederum – welche Ironie – hätte das nukleare Wettrüsten allein die Funktion gehabt, den Supermächten die Einschränkung ihrer Gestaltungsmacht unter Vernichtungsdrohung vor Augen zu führen und damit die ökonomischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen allmählich von ihrer Staatsfixierung freizusetzen.

Werden seit dieser Umbruchphase zwischen den 1950er- und den 1980er-Jahren die welthistorischen (und damit auch die deutschen) Zäsuren nunmehr ökonomisch-gesellschaftspolitisch und nicht mehr vordergründig politisch-militärisch gesetzt? Das kann eine Rezension ebensowenig eindeutig beantworten wie der Sammelband – der aber auf jeden Fall zum Weiterdenken anregt.

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