W. Faulstich (Hrsg.): Das Erste Jahrzehnt

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Titel
Das Erste Jahrzehnt.


Herausgeber
Faulstich, Werner
Reihe
Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts
Erschienen
Paderborn 2006: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominik Geppert, Freie Universität Berlin

Wenn Historiker nach den mentalitäts- und strukturprägenden Perioden am Anfang des 20. Jahrhunderts suchten, richtete sich ihr Interesse lange Zeit vor allem auf den Ersten Weltkrieg als „Urkatastrophe“ des Jahrhunderts (George F. Kennan). In jüngster Zeit wird jedoch auch den vorangegangenen Jahrzehnten verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt, insbesondere den Dekaden um die Jahrhundertwende, als Formationsphase von Trends, die Gesellschaft, Politik, Ökonomie und Kultur des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Die Jahre zwischen 1890 und 1914 markieren in dieser Sicht den Beginn der sozialhistorischen Umbruchprozesse der Ersten Moderne, die mit der Durchsetzung der Industriegesellschaft, einer forcierten Urbanisierung, beschleunigter Migration, einer veränderten Rolle der Frauen in der Gesellschaft und Reformen im Erziehungswesen fundamentale Transformationsprozesse einleiteten. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive ist auf Verschiebungen im Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre hingewiesen worden sowie generell auf veränderte Wahrnehmungsmuster und den Wandel politischer Kommunikation als Ergebnis einer Fundamentalpolitisierung breiter Bevölkerungsgruppen und der Ausdifferenzierung massenmedial geprägter Öffentlichkeiten. Vorangetrieben wurden diese Trends durch mediale Veränderungen wie gewandelte journalistische Formate, die Professionalisierung des Journalistenberufs oder Visualisierungsschübe durch den Siegeszug des Kinos, die Perfektionierung der Pressefotografie, das Aufkommen von Illustrierten und die Verbreitung der Plakatwerbung.

Es erscheint daher methodisch und inhaltlich vielversprechend, wenn der Lüneburger Literatur- und Medienwissenschaftler Werner Faulstich die neue Medienkultur ins Zentrum seiner Kulturgeschichte der Jahre 1900 bis 1910 stellt. Der Band setzt das ehrgeizige Projekt einer um die Medien kreisenden Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts fort, in dessen Rahmen bereits die 1950er- bis 1980er-Jahre behandelt wurden. 1 Für das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erscheint der Fokus auf die medialen Dimensionen gesellschaftlichen und kulturellen Wandels besonders einleuchtend, hat die neuere Mediengeschichte gerade diese Jahre doch wahlweise als „zweiten Strukturwandel der Öffentlichkeit“, als „massenmediale Sattelzeit“ oder schlicht als „Medienrevolution“ beschrieben, in deren Verlauf sich erst so etwas wie nationale Kommunikationsgemeinschaften herausbildeten. 2 Diese Charakterisierungen greift der Herausgeber programmatisch auf, indem er die neuen Kommunikationsmedien – von der Massenpresse über Kino und Film bis zu Werbeträgern wie Plakatsäulen, Schaufenstern oder Leuchtreklamen – in seiner Einleitung als die „gesellschaftsübergreifenden, kulturell dominanten sinnproduzierenden Steuerungs- und Orientierungsinstanzen“ bezeichnet, die „Zeit ästhetisch strukturieren und die Zeitwahrnehmung synchronisieren“. (S. 9)

Wie eine derartige Kulturgeschichte der Jahrhundertwende als Geschichte urbaner Medienkultur geschrieben werden kann, hat der amerikanische Historiker Peter Fritzsche in seiner Studie „Reading Berlin 1900“ vor zehn Jahren vorgemacht. 3 Fritzsche analysierte am Beispiel der preußisch-deutschen Hauptstadt genau jene Auswirkungen des rasanten medialen Wandels der Jahre um 1900 auf das Lebens- und Zeitgefühl, die Umweltwahrnehmungen, Realitätsinterpretationen und Sinnstiftungen der Zeitgenossen, um die es auch Faulstich in seiner Einleitung zu tun ist. Umso mehr verwundert es, dass weder der Herausgeber noch einer der 14 Autoren auf Fritzsches Studie Bezug nehmen.

Statt dessen werden überblickshaft – meist solide und oft scharfsinnig – verschiedene Segmente deutscher Kultur der Jahrhundertwende beschrieben: von der Tagespresse und den Illustrierten (Hans Dieter Kübler) über die Kulturzeitschriften (Dirk Stegmann), Literatur, Buchmarkt und Theater (Sven Kramer), Kino und Film sowie Architektur, Mode und Design (in zwei Beiträgen von Ricarda Strobel), die Kunstfotografie (Jörn Glasenapp), Pädagogik (Detlev Gaus und Reinhard Uhle), Jugendkultur (Wilfried Ferchhoff), Musik (Melanie Unseld), Werbung (Karin Knop), Liebe, Sexualität und Geschlechterverhältnisse (Jens Fleming), Frauen und Frauenkultur (Claudia Lilge) bis zum Sport (Michael Schaffrath) und Freuds Psychoanalyse (Franz X. Eder).

Zu den Leistungen des Bandes gehört der Nachweis, wie stark sich im Zeichen medialer Wandlungsprozesse ehemals getrennte Bereiche kultureller Aktivität in jenen Jahren zu durchdringen und gegenseitig zu befruchten begannen: zum Beispiel in der Kunstfotografie, die bewusste Anleihen bei der Malerei vornahm, um sich vom amateurhaften Knipser mit seinen Schnappschüssen zu distanzieren, oder bei der Filmmusik, die allmählich auch für die musikalische Avantgarde interessant wurde. Gleichzeitig wurden die Grenzen zwischen Hochkultur und Populärkultur zunehmend in Frage gestellt, wenn etwa die boomende Werbebranche Impulse der Malerei und bildenden Künste aufnahm oder wenn das Kino aus den Kirmeszelten allmählich in ortsfeste Lichtspieltheater überwechselte, deren Name schon andeutete, dass es dort seriöser zugehen und der frühe Film den Ruf der Jahrmarktsattraktion loswerden sollte.

Allerdings nehmen nicht alle Autoren die vom Herausgeber vorgeschlagene Konzentration auf die Medien und deren kulturelle Wirkungen gleichermaßen ernst. Beim Beitrag über die Jugendkultur hätte man beispielsweise eher eine Auseinandersetzung mit Abenteuerromanen, Groschenheften und anderen Formen kommerziell erfolgreicher Jugendliteratur erwartet als eine weitere Abhandlung über den Wandervogel. Im Hinblick auf die Pädagogik verweist Faulstich zwar in seiner Einführung auf den Boom pädagogischer Zeitschriften, im Beitrag von Gaus und Uhle wird dieser Aspekt jedoch nicht weiter vertieft. Mitunter gewinnt man den Eindruck, die Themenstellung einzelner Beiträge sei möglicherweise mehr den Interessen und Kenntnissen der Autoren geschuldet als der Relevanz für die übergeordnete Fragestellung. Im Ergebnis hat der Sammelband einen eigentümlichen Zwittercharakter: teils herkömmliche Kulturgeschichte, teils Geschichte der Medienkultur.

Ein weiteres Manko ist die fehlende internationale Einbettung vieler Beiträge. Diese Kulturgeschichte bleibt weitgehend eine deutsche Kulturgeschichte, die nur in Ansätzen die zahlreichen Anregungen der jüngeren Forschung gerade auch zum Kaiserreich aufnimmt, die deutsche Nationalgeschichte zu entgrenzen und transnational zu erweitern. 4 Wo über Deutschland hinausweisende Dimensionen aufscheinen, ist die Darstellung manchmal bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, wie bei der Schilderung der mediengeschichtlichen Begleitumstände der ersten Marokkokrise (S.43), oder schlicht falsch, wie die Behauptung, die BZ am Mittag habe im Jahr 1908 als einzige deutsche Zeitung ein Korrespondentenbüro in London unterhalten (ebd.).

In Wirklichkeit vermehrte sich die Zahl deutscher Auslandskorrespondenten in den Jahren um 1900 geradezu explosionsartig und spiegelte damit die zunehmende internationale Verflechtung der Medienwelt ebenso wider wie das drastisch gewachsene Interesse des deutschen Publikums an fernen Weltregionen. Hiermit zusammenhängende Phänomene, wie die Marinebegeisterung der Deutschen oder die Faszination, die von überseeischen Kolonien ausging, sind weitere blinde Flecke dieses Bandes, der sich mitunter wie eine in die Vergangenheit verlängerte Kulturgeschichte der Bundesrepublik liest: Was uns heute an der Gesellschaft und Kultur der Jahrhundertwende fremdartig vorkommt – seien es Navalismus und Militarismus, sei es die Weltgeltung deutscher Wissenschaft – bleibt unterbelichtet gegenüber dem, was als Vorläufer aktueller Entwicklungen und Phänomene interpretiert werden kann.

Zu bedauern ist auch ein nachlässiges Lektorat. Der Anmerkungsapparat ist uneinheitlich. Die Literaturverweise einiger Beiträge sind lückenhaft (Kurztitel, die im Text genannt werden, fehlen im Literaturverzeichnis). Die Schreibweise mancher Namen ist falsch (die wiederholt zustimmend zitierte Ute Frevert schreibt sich mit „v“, nicht mit „w“). Ein Register hätte dem Leser die Orientierung erleichtert.

Insgesamt hätte man dem Sammelband, der einen hochinteressanten Ansatz verfolgt, viele Detailinformationen enthält und einen hilfreichen Überblick über einige Segmente deutscher Kultur im Kaiserreich gibt, eine konsequentere und sorgfältigere Umsetzung gewünscht. Dann hätte aus einem anregenden Buch ein innovatives und wertvolles werden können.

Anmerkungen:
1 Faulstich, Werner (Hrsg.), Die Kultur der 50er Jahre, Paderborn 2003; ders. (Hrsg.), Die Kultur der 60er Jahre, Paderborn 2003; ders. (Hrsg.), Die Kultur der 70er Jahre, Paderborn 2004; ders. (Hrsg.), Die Kultur der 80er Jahre, Paderborn 2005.
2 Weisbrod, Bernd, Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 270-283; Knoch, Habbo; Morat, Daniel, Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960. Zur historischen Kommunikologie der massenmedialen Sattelzeit, in: dies. (Hrsg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienbilder und Gesellschaftsbilder 1880-1960, München 2003, S. 9-33; Kohlrausch, Martin, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Diplomatie, Berlin 2005, S. 48-53.
3 Fritzsche, Peter, Reading Berlin 1900, Cambridge/Mass. 1996.
4 Conrad, Sebastian; Osterhammel, Jürgen (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004; Conrad, Sebastian, Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, München 2006.

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