P. Niederhäuser (Hrsg.): Appenzellerkriege

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Titel
Die Appenzellerkriege - eine Krisenzeit am Bodensee?.


Herausgeber
Niederhäuser, Peter; Niederstätter, Alois
Reihe
Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs (N.F.) 7
Erschienen
Konstanz 2006: UVK Verlag
Anzahl Seiten
181 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Willem Huntebrinker, Europäisches Graduiertenkolleg 625, Technische Universität Dresden

Die Appenzellerkriege des beginnenden 15. Jahrhunderts heben sich in unserer heutigen Wahrnehmung aus den zahlreichen kriegerischen Konflikten der Region vor allem deswegen hervor, weil sich die Geschichtsschreibung schon früh um eine Einordnung der Ereignisse in bedeutende politische Zusammenhänge sowie um Mythenbildungen bemühte. Die Appenzellerkriege wurden lange Zeit als bäuerliche Freiheitskämpfe gegen die feudalen Fesseln der St. Gallener Äbte oder als Abwehrkampf gegen Habsburger Expansionspolitik stilisiert. In der Geschichte eines ‚demokratischen eidgenössischen Befreiungskampfes’ wurde ihnen somit ein fester Platz zugewiesen und ihr historischer Wert bestimmt.

Jüngere Forschungen melden allerdings starke Zweifel an diesen Deutungen an. Die Streitigkeiten zwischen den Äbten von St. Gallen und ihren Untertanen sowie die Bauernunruhen im Appenzeller Land lassen sich nämlich auch mit Konzepten wie dem „Kommunalismus“ (Peter Blickle), also dem Ausbau und der Stärkung von Gemeindestrukturen erklären. Mit dem Wechsel der Perspektive auf die Appenzellerkriege, vom ‚demokratischen Freiheitskampf der Eidgenossenschaft’ hin zu einer typischen Erscheinung im Prozess der Kommunalisierung, müsste man den Appenzellerkriegen aber auch eine andere historische Bedeutung zuschreiben.

Die Herausgeber und AutorInnen des Sammelbandes stellen sich der Herausforderung, dieses Geflecht zwischen bröckelnden nationalen Geschichtsmonumenten und neuen sozialgeschichtlichen Großkonzepten zu entwirren, um damit, vorwiegend aus regionalgeschichtlicher Blickrichtung, zu einer Neubewertung der Bedeutung und Stellung der Appenzellerkriege beizutragen.

Die Beiträge zeigen bei diesem Versuch vor allem die Vielschichtigkeit der Konflikte auf. Einfache Reduktionen, wie sie die traditionellen Deutungen vorschlugen, verbieten sich allein schon aufgrund der Komplexität beteiligter Akteure, ihrer möglichen Interessen und Ressourcen. Der Abschnitt „Regionale Sichtweisen“, der die meisten Artikel unter sich vereint, führt dies eindrücklich vor Augen. Alois Niederstätter zeigt etwa, dass die strikte Frontlinie zwischen Habsburgern, ihren Verbündeten und kleinen Territorialherren keineswegs immer so eindeutig verlief, wie oftmals angenommen wurde. Letztere bildeten keine eigenständige Koalition, sondern fochten untereinander selbst Machtkämpfe aus. Dies führte zu zahlreichen, nur schwer zu überschauenden Verflechtungen und Konflikten. Zudem wird aufgezeigt, dass dabei die große Politik und das alltägliche Handeln nicht unbedingt deckungsgleich sein mussten, so dass vermeintliche Frontstellungen bei näherem Hinsehen im alltäglichen Umgang nicht immer relevant waren.

Eine Ausweitung des Blickfeldes auf bisher kaum beachtete Akteure, wie die Stadt Konstanz sowie den Bischof von Konstanz, und ihr Verhalten im Appenzellerkrieg nimmt Andreas Bihrer vor. Er argumentiert sehr überzeugend für eine Neubewertung der Rolle dieser Akteure. Die Stadt Konstanz trat viel stärker mit ambitionierten Zielen auf, als es die regionalgeschichtliche Forschung bisher dargestellt hat. Anstatt auf Ausgleich und Konsens zwischen den Konfliktparteien abzuzielen, beanspruchte die Stadt die Führungsrolle in der Region und trug somit auch erheblich zu einer Zuspitzung des Konfliktes bei.
Die Auswirkungen und die Bedeutung der Appenzellerkriege für vom eigentlichen Konfliktgeschehen entfernte Orte beleuchtet Peter Niederhäuser am Beispiel Winterthurs. Er zeigt damit auch, wie Winterthur mit seinen Entscheidungen in Bezug auf das Konfliktgeschehen sozusagen „einen Mittelweg“ zwischen den beiden lokalen Mächten Österreich und Zürich zu realisieren versuchte.

Das Agieren eines direkt an den kriegerischen Auseinandersetzungen Beteiligten, dem Landort Schwyz, behandelt Andreas Meyerhans. Er konzentriert sich dabei auf eine Einordnung in eine längerfristige Entwicklung der Erweiterung von Territorium und Einfluss des Landortes. Verschiedene Mechanismen und Strategien, die dem Landort zur Verfügung standen und von ihm ausgeschöpft wurden, werden herausgearbeitet. Schließlich erkennt Meyerhans im Appenzellerkrieg eine „katalytische Funktion“ für das Werden des Landes Schwyz.

Die regionalgeschichtlichen Beiträge, von denen hier nicht alle erwähnt wurden, steuern mit ihren Lokalstudien auf eine Neubewertung des Appenzellerkrieges zu. Diese sieht tatsächlich von der Einordnung der Appenzellerkriege in eine große Erzählung, wie den ‚demokratischen Freiheitskampf’ ab, ohne ihnen dabei allerdings gänzlich eigene Bedeutungen abzusprechen. Vielmehr zeigen sie, die jeweils ganz verschiedenen Bedeutungen des Konfliktes auf, die er für unterschiedliche Akteure und lokale Gemeinwesen erlangen konnte. Damit gelingt es unterm Strich das eingangs erwähnte Geflecht zwischen traditionellen Geschichtsmythen und sozialgeschichtlichen Großkonzepten zu entwirren und eine Neubewertung der Appenzellerkriege anzubieten. Vor allem darin liegt der Wert einer Zusammenführung der einzelnen Beiträge in diesem Sammelband begründet, da überkommende Deutungen nicht einfach alternativlos ad acta gelegt, sondern jeweils am lokalen Beispiel relativiert und um neue Deutungen erweitert werden. Dieses Unterfangen gelingt im Einzelnen mal mehr, mal weniger gut, erzielt insgesamt aber durchaus ein überzeugendes Resultat.

Allerdings gibt die Komposition des Bandes auch Anlass zur Kritik. Der dritte Abschnitt, der mit „Kriegs- und Überlieferungsgeschichten“ betitelt ist, enthält hierzu lediglich zwei Beiträge. Im Hinblick darauf, dass im Band immer wieder darauf hingewiesen wird, mit alten Mythen aufräumen zu wollen, wäre hier doch eine gute Gelegenheit gewesen, sich stärker der Geschichte der Mythenbildung zu widmen. Dabei beschreiten die beiden Beiträge einen dienlichen Weg in diese Richtung, wenn etwa Rudolf Gamper die Geschichte der chronikalischen Rezeption der Schlacht am Stoss – ein für die Appenzeller Erinnerungskultur zentrales Ereignis – rekonstruiert. Gamper legt dar, wie im Laufe der Zeit aus nüchternen und kurzen Berichten, innerhalb der Chronistik ausgeschmückte Geschichten wurden, die das Ereignis, je nach politischen Kontext, in ein anderes Licht rückten und schließlich die Mythenbildung um die Appenzellerkriege entscheidend prägten. Der Beitrag von Matthias Weishaupt skizziert, wie mit der Legende um den Kämpfer Uli Rotach das Bild eines Nationalhelden konstruiert wurde, das schließlich auch einen spezifischen Blick auf die Bedeutung der Appenzellerkriege mit einschloss.

Schwerwiegender als dieses Ungleichgewicht von Lokalstudien und Analysen der Mythen- und Geschichtsbildkonstruktionen fällt allerdings meines Erachtens das Missverhältnis von Titel und Inhalt des Bandes ins Gewicht. So stellt der Titel des Buches die Frage, ob die Appenzellerkriege als Krisenzeit am Bodensee zu deuten sind. Sicherlich liefern die Lokalstudien teilweise Antworten hierzu. Doch diese muss sich der Leser überwiegend selbst erschließen. Zwar greifen die beiden Beiträge des ersten Abschnitts – „Eine herausgeforderte Landesherrschaft“ – den Krisenbegriff als Interpretationsrahmen auf, als Klammer für den ganzen Band vermag dies aber nicht zu überzeugen. Hier hätte man schließlich auch eine stärkere konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Krisenbegriff erwartet, die im Band dann aufzugreifen wäre. Ohne Zweifel bietet Martina Stercken gute Ansätze dazu, wenn sie die Brauchbarkeit des Krisenbegriffs diskutiert und anhand einer differenzierten Analyse von Klageschriften an die Habsburger Herrschaft ein Krisenbewusstsein sowie ein Krisenmanagement nachzuweisen versucht. Die in ihrem Beitrag eingenommene kommunikationsgeschichtliche Perspektive ist zudem eine erfreuliche Ergänzung zum politikgeschichtlichen Schwerpunkt der Lokalstudien. Auch der Beitrag von Peter Niederhäuser geht auf den Krisenbegriff ein, wenn er das Verhältnis zwischen Herzog Friedrich von Österreich und seinen Landvögten untersucht, indem er die Handlungsspielräume der letzteren im Hinblick auf eine Krise der habsburgischen Landesherrschaft zu Beginn des 15. Jahrhunderts fokussiert. Aber trotzdem greift die Mehrheit der Beiträge des Sammelbandes den im Titel stark gemachten Aspekt der Krisenzeit nicht explizit auf, womit geweckte Erwartungen enttäuscht werden.

Die Gestaltung des Bandes lässt indes nichts zu wünschen übrig. Kleine Quelleneditionen sowie Abbildungen wichtiger oder typischer Dokumente und Bilder erweitern den Horizont des Lesers über die Darstellungen hinaus. Ebenso gelungen ist die Idee, eine Zeittafel zentraler Ereignisse voranzustellen, was den Zugang gerade für den nicht regionalgeschichtlich bewanderten Leser erleichtert.

Insgesamt betrachtet bleibt der Eindruck bestehen, dass es den Beteiligten durchaus gelungen ist, eine facettenreiche Neubewertung der Appenzellerkriege, vor allem in regionalgeschichtlichen Zusammenhängen, zu liefern. Es bleibt zu wünschen, dass die Relativierungen von Geschichtsmythen und ideologischen Deutungsmustern, die der Band anbietet, zu einer Revision überkommender Geschichtsbilder vom Appenzellerkrieg und der Geschichte des Bodenseeraums anregen wird.

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