A. Silomon: Anspruch und Wirklichkeit der "besonderen Gemeinschaft"

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Titel
Anspruch und Wirklichkeit der "besonderen Gemeinschaft". Der Ost-West-Dialog der deutschen evangelischen Kirchen 1969-1991


Autor(en)
Silomon, Anke
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
764 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Greschat, Münster

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gehörte in der Zeit der staatlichen Teilung zu denjenigen Organisationen, die ihren gesamtdeutschen Charakter besonders lange bewahren konnten. Trotz des wachsenden Drucks der SED, aber auch aufgrund der zunehmenden Neigung kirchlicher Vertreter in der DDR, sich selbstständig mit den ideologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen in ihrem Staat auseinanderzusetzen, kam es 1969 im Gefolge der neuen DDR-Verfassung zur Gründung des „Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR“ (BEK) und damit zur Trennung von der seitdem rein westdeutschen EKD. Politische und theologische Argumente griffen hierbei deutlich ineinander. Um gleichwohl die gesamtdeutsche Verbundenheit zu unterstreichen, formulierte Artikel 4 Absatz 4 der Ordnung des BEK demonstrativ: „Der Bund bekennt sich zu der besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland.“ Die Entwicklung bis zu diesem Punkt wird in der vorliegenden Studie als „Einführung“ in die Thematik detailliert beschrieben (S. 11-148).

Nach 1969 rissen die Beziehungen zwischen evangelischen Christen in beiden Teilen Deutschlands keineswegs ab. Es existierten vielfältige persönliche Verbindungen, Kontakte durch Partnergemeinden, den Gedankenaustausch und die Zusammenarbeit auf der Ebene der Landeskirchen sowie etwa der kirchlichen Zusammenschlüsse der Evangelischen Kirche der Union (EKU), der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) oder der Diakonie. Demgegenüber behandelt Anke Silomons Buch die offiziellen kirchlichen Kontakte, die zwanzig Jahre lang, also bis zum Ende der DDR, von einer bilateralen „Beratergruppe“ wahrgenommen wurden (S. 149-451). Daneben entstand im Kontext der Friedensbewegung 1980 eine mit kirchenleitenden Persönlichkeiten aus Ost- und Westdeutschland besetzte „Konsultationsgruppe“, die sich mit der gemeinsamen Verantwortung der evangelischen Kirchen für den Frieden befassen sollte. Um dieses Thema geht es im zweiten Hauptteil der Studie (S. 455-655).

Die Mitglieder der Beratergruppe trafen sich etwa viermal im Jahr. Der Austausch von Informationen und Meinungen stand im Mittelpunkt, zunächst beherrscht vom Willen, sich auf keinen Fall trennen zu lassen. Minutiös belegt die chronologisch gegliederte Darstellung, wie diese ursprüngliche Einstellung langsam verblasste. Bei wechselnder personeller Zusammensetzung und ohne klare Aufgabenstellung nahm die Bedeutung der Gruppe mehr und mehr ab. Dazu trug auch bei, dass die kirchenleitenden Persönlichkeiten vor allem seit 1978 wieder direkt miteinander reden und verhandeln konnten. Die ostdeutschen Mitglieder der Beratergruppe blieben bestrebt, ihre Eigenständigkeit zu betonen, wobei sie einen schwierigen Kurs zwischen den Forderungen des Staatssekretariats für Kirchenfragen und den Erwartungen der westdeutschen EKD steuerten. Mehrfach hielten die ostdeutschen und westdeutschen Vertreter dann der jeweils anderen Seite vor, sie zeige sich allzu sehr geneigt, sich an das herrschende System anzupassen. Die Wahrnehmung der Verantwortung für den Frieden erschien schließlich als eine tragfähige Grundlage für die Gemeinsamkeit der evangelischen Kirchen in Ost und West.

Der Anstoß dazu ging von Bischof Albrecht Schönherr und dem BEK aus. Die erste Konsultation, an der je sechs offizielle kirchliche Vertreter aus BEK und EKD teilnahmen, fand am 13. März 1980 statt. Bald sah man sich allerdings massiven Schwierigkeiten gegenüber, zum Beispiel in der Bewertung des Wehrdienstes. Da die Kirche in der DDR keine politische Verfügungsgewalt besaß, war sie freier und konnte eindeutiger reden. Sie rückte dadurch näher an Teile der Ökumene heran – was das Verhältnis zur EKD zusätzlich belastete. Das Mühen um gemeinsame Verlautbarungen brachte wenig. Der Bezug auf Daten und Ereignisse der deutschen Vergangenheit allein genügte nun offenkundig nicht mehr. Aber die nach vorn weisenden Aussagen bewegten nichts, weil sie die tiefgreifenden Unterschiede in beiden Systemen lediglich verbal zu überbrücken vermochten. 1989 verlor dann auch die Konsultationsgruppe schnell an Bedeutung. Nun ging es vor allem um die auf den verschiedensten Ebenen diskutierte Frage, an welchen Einsichten und Errungenschaften der BEK bei der anstehenden Wiedervereinigung Deutschlands festhalten solle und wolle. Dabei überwog die Überzeugung, dass man in vielem weiter gekommen sei, vor allem weniger traditionell denke und agiere als die EKD. Trotzdem wurde im Juli 1991 der Zusammenschluss mit der EKD vollzogen.

In der Zeit der staatlichen Teilung gelang es auch der evangelischen Kirche nur begrenzt, den angestrebten Zusammenhalt darzustellen und mit Leben zu füllen. Sicherlich gab es eine intensive Kommunikation, die neben vielfältigen Informationen auch echte Gemeinsamkeit förderte. Aber die notwendige sachliche Auseinandersetzung wurde dadurch eher überdeckt als vorangetrieben. Die Lektüre des Bandes veranschaulicht insofern auch, weshalb die Annäherung nicht nur der evangelischen Christen, sondern der Menschen in Ost- und Westdeutschland nach 1990 insgesamt so beschwerlich und wenig selbstverständlich verlaufen ist und verläuft.

Anke Silomon hat in dieser Habilitationsschrift eine enorme Materialfülle zusammengetragen und verarbeitet. Dabei wird der Stoff in der Konzentration auf die einzelnen kirchlichen Treffen und Begegnungen entfaltet. Diese werden skizziert und kurz historisch eingeordnet, insbesondere im Blick auf das Staatssekretariat für Kirchenfragen und damit die SED. Der Leser erhält dadurch eine Fülle aufschlussreicher Momentaufnahmen. Da sich der Meinungsaustausch auf jeweils aktuelle, mithin rasch wechselnde Themenfelder bezog, bietet die Darstellung ein beeindruckendes, minutiöses Kompendium der angerissenen bzw. behandelten Fragen. Diesem Gewinn steht allerdings ein beträchtliches Defizit hinsichtlich der Bündelung und systematischen Durchdringung des Materials gegenüber. Durch die enge Bindung an die Aussagen der Quellen lösen sich Zusammenhänge oft in einzelne Mitteilungen auf. Die Studie droht dementsprechend im Registrieren und Addieren zahlloser Fakten zu versanden, was nicht zufällig zu einem schwer rezipierbaren Gesamtumfang führt. Die Präsentation reichhaltiger und detaillierter Informationen macht insofern sowohl die Bedeutung als auch die Grenze dieser gründlichen und gut geschriebenen Untersuchung aus.

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