D. Jajesniak-Quast u.a. (Hrsg.): Soziale Konflikte und nationale Grenzen

Titel
Soziale Konflikte und nationale Grenzen in Ostmitteleuropa. Festschrift für Helga Schultz zum 65. Geburtstag


Herausgeber
Jajesniak-Quast, Dagmar; Lorenz, Torsten; Stoklosa, Katarzyna
Anzahl Seiten
210 S.
Preis
EUR 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffi Franke, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Der Titel der Festschrift für Helga Schultz, Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, beschreibt die beiden Themenkreise des Bandes präzise. Dabei ist zu beachten, dass „nationale Grenzen“ – insofern es um das räumliche Phänomen in seinen politischen, sozialen und kulturellen Dimensionen geht – hier ausschließlich anhand der deutsch-polnischen Konstellation untersucht, „soziale Konflikte“ jedoch tatsächlich für die gesamte Region betrachtet werden. Hier richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Modernisierung und Nationalstaatsbildung in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert. Insbesondere stehen agrarökonomische und -politische Entwicklungen im Zentrum, analysiert als Folge oder als Motor des nation building in der ostmitteleuropäischen Region. Insofern kommt für diesen Schwerpunkt des Bandes auch die Frage nach der Konstruktion nationaler Grenzen – oder Abgrenzungen – im Sinne von Homogenisierungsbewegungen im Prozess der Nationalstaatsbildung große Bedeutung zu.

Insgesamt sieben von fünfzehn Aufsätzen widmen sich der deutsch-polnischen Grenzregion. Dabei wählen die Autoren zumeist einen alltagsgeschichtlichen bzw. anthropologischen Zugang, der in mehreren Fällen anhand von Tagebüchern oder Umfragen umgesetzt wird. Zurückgegriffen wurde dafür unter anderem auf die Sammlung des Westinstituts Posen, das 1957, 1966 und 1970 „Wettbewerbe für die besten Tagebücher der Neuansiedler in Nord- und Westpolen“ (S. 44) organisiert hatte. Diese von mehreren Autoren des Bandes genutzte Sammlung sei durchaus „umstritten [...]“ (S. 44), bemerkt Beate Halicka in ihrem Beitrag. Sie bleibt die einzige Beiträgerin, die diese Quelle vorsichtig kritisiert und einordnet, indem sie auf die Entstehungskontexte dieser Texte verweist.

Fruchtbar ist der Versuch, tatsächlich grenzüberschreitende Geschichten der Region zu erzählen, wobei Transferprozesse im Zentrum stehen sowie die wechselseitigen Projektionen kollektiver Identitäten auf den Raum, den seit 1945 eine nationalstaatliche Grenze durchtrennt. Dies zeigt beispielsweise Elzbieta Opilowska am Beispiel der Erinnerungsmuster in Görlitz/ Zgorzelec beiderseits der Neiße. Waren die kollektiven Erinnerungen westlich des Flusses sowohl von Tabus als auch von Nostalgie gekennzeichnet, so mussten sie sich am östlichen Ufer in einer Umgebung der Unsicherheit und des Übergangs entwickeln. Herle Forbrich untersucht in seinem Beitrag anhand von Herrenhäusern die Transformation von Erinnerungsorten und die symbolisch-funktionale Aneignung des Gebiets beiderseits der Grenze nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Die Umnutzung dieser Gebäude im Zuge der Bodenreform spielte sich zwischen pragmatischen Notwendigkeiten und geschichtspolitischem Kalkül ab. In den 1970er-Jahren begann sowohl in der Volksrepublik Polen als auch in der DDR eine Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe und der Frage nach der Integration in die jeweilige nationale Erzählung.

Die Geschichte des „Bevölkerungsaustauschs“ wird als verflochtene Geschichte verschiedener Grenzregionen präsentiert. Anna und Jerzy Tutaj organisieren in ihrem Beitrag diesen Prozess entlang der deutsch-polnisch-ukrainischen Achse. Damit können die schwierigen Aneignungsprozesse, die im Kontext multipler Vertreibungen standen, über den nationalen Rahmen hinaus erzählt werden. Die Front verläuft dann nicht zwischen Deutschen und Polen oder Polen und Ukrainern, sondern zwischen Einheimischen und Neuansiedlern einerseits, sowie zwischen verschiedenen Gruppen von Flüchtlingen, abhängig von regionaler, sozialer und politischer Herkunft andererseits. 1 Vor allem für die deutsche Diskussion, die das Schicksal der deutschen Vertriebenen in regelmäßigen Abständen wieder entdeckt, ist ein Blick auf die andere Hälfte des Grenzgebiets und vor allem die Perspektive von sich überlappenden Vertreibungsgeschichten sehr hilfreich. So wird beispielsweise deutlich, dass die Rückkehr-Rhetorik deutscher Vertriebenenverbände aber auch die antizipierte Rückkehr der Deutschen zu einer spezifischen Unsicherheits- und Übergangsmentalität der neuen, aus dem Osten in die „wiedergewonnen“ Gebiete vertriebenen Polen führte, die die wirtschaftliche, politische und soziale Stabilität der Region langfristig beeinflusste.

Zbigniew Kurcz entwickelt in seinem Beitrag eine soziologische, theoretisch-begriffliche Fundierung der Studien zur Grenze, indem er ein Grenzgebiet dann konstituiert sieht, wenn sich soziale Kontakte und Netzwerke über die Grenze hinweg entwickelt und somit eigene Gemeinschaften gebildet haben. Er sieht dabei die deutsch-polnische Grenzregion bei der Herausbildung einer solchen grenzüberschreitenden Gemeinschaft als Modellfall für andere polnische Grenzen. Dabei spiele auch „der Wille zur Übertragung bestimmter institutioneller Arrangements aus Westeuropa in das deutsch-polnische Grenzgebiet und später in die östlichen Grenzregionen Polens als universeller Transfer von Mustern und Werten“ (S. 82) eine wichtige Rolle. Auf diese Weise können die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Rolle Polens wohl auch als Zivilisierungsmission gedeutet werden. Polen wird so erneut zur „Brücke“ zwischen Ost und West.

Die einzelnen Beiträge zeigen, wie anhand mikrohistorischer und erinnerungskultureller Prozesse sowie am Beispiel der Aneignung symbolischer Formen und deren Verbindung mit gesellschaftlich-funktionalen Faktoren eine übergreifende, verflochtene Geschichte von Grenzgebieten geschrieben werden kann. Dieses Vorhaben ist dabei normativ begründet, es wird für eine gemeinsame Geschichtsaufarbeitung geworben und gleichzeitig gegen nationalistische Vereinseitigung Stellung bezogen. Die grenzüberschreitende Verständigung – in die Wissenschaftler häufig nicht nur als Beobachter sondern auch als Akteure involviert sind 2 – erscheint hier als Mittel zur ausgewogenen Bearbeitung der verflochtenen Vergangenheit und Zukunft. Diese Perspektive führt bei einigen Autoren dazu, dass die Distanz zu den historischen Akteuren schrumpft und der Plädoyercharakter einzelner Texte unübersehbar wird.

Das Spektrum der Beiträge zur Wirtschafts- und Agrargeschichte ist breit gefächert. Dagmar Jajesniak-Quast historisiert beispielsweise den wirtschaftnationalistischen Diskurs im heutigen Polen anhand der Zwischenkriegsdebatte um „Fremdkapital“. Sie kann den Nachweis führen, dass die Wurzeln dieser politischen Haltung nicht in einer neuen euroskeptischen Position zu suchen sind, sondern über länger zurückreichende Traditionen in der polnischen Politik verfügen. Am Beispiel des rumänischen Agrarismus (Angela Harre), der Genossenschaftsbewegungen in Ostmitteleuropa (Torsten Lorenz) und der Landreformen in der Region (Uwe Müller) werden diese Reformen und Bewegungen als Medium der Massenmobilisierung im Zuge des nation building seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit untersucht.

Die Studie von Andrea Komlosy besticht durch die Originalität und die Reichweite ihrer Schlussfolgerungen. Am Beispiel der Textilindustrie in Ostmitteleuropa in der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jahrhundert wird das auf die Region gemünzte Rückständigkeitsparadigma differenziert, indem sie diese in einen weltwirtschaftlichen und globalhistorischen Zusammenhang stellt und alternative Erklärungsmuster testet. Die verspätete Modernisierung des für die frühe Industrialisierung bedeutenden Wirtschaftssektors in Ostmitteleuropa wird nicht auf endogene Faktoren zurückgeführt, sondern die Stellung im weltwirtschaftlichen System als Faktor des Modernisierungsdrucks betrachtet, der im Vergleich zur britischen Entwicklung erst später für die Wirtschaftsakteure relevant wurde. Als Kolonial- und Seemacht bezog das Empire Baumwollstoffe vor allem aus Indien, die Textilindustrie war hier also einer massiven Importkonkurrenz ausgesetzt, die zur Effizienzsteigerung und Modernisierung der eigenen Produktion zwang, um den billigen Importen aus Süd- und Südostasien etwas entgegensetzen zu können. Die zentraleuropäischen Staaten ohne Zugang zu Kolonien bezogen ihre Baumwollstoffe über die britischen Zwischenhändler. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts erlangten sie nach der Zurückdrängung der militärischen Macht des osmanischen Reichs und nach dem Abschluss von Handelsverträgen Zugang zu Rohstoffen aus einer anderen Herkunftsregion. Deswegen etablierte sich eine eigenständige Textilindustrie später, die sich dann an dem zu diesem Zeitpunkt bereits fortgeschrittenen britischen Modell orientierte. So standen indirekt die mitteleuropäischen Staaten einschließlich Deutschlands und des Habsburger Reichs „unter dem Eindruck der asiatischen Ausstrahlung und Marktmacht: denn indem diese Großbritannien zur importsubstituierenden Industrialisierung im Baumwollbereich bewegte, setze das Kompetenzgefälle eine Kettenreaktion in Gang, die sich auf sämtliche anderen Textilregionen der Welt auswirkte“ (S. 134).

Mit ihrer Untersuchung liefert Andrea Komlosy ein gelungenes Beispiel dafür, wie die Geschichte dieser Region in transnationaler Perspektive neu zu denken wäre. Der Ansatz geht über die wissenschaftliche und identitätspolitische Perpetuierung der regionalen Konstruktion hinaus. Sie wird in transnationalen Zusammenhängen betrachtet und ihre Entwicklung als Teil eines globalen Prozesses begriffen. Damit kann einerseits der Fluch des Modernisierungsdefizits, der auf Ostmitteleuropa zu liegen scheint, differenziert und historisiert, andererseits der Gefahr von Essentialisierungen der ostmitteleuropäischen Region abwägend entgegengetreten werden.

Für beide Themen stellt der Band also zahlreiche Anregungen bereit. Er weist damit über das Œuvre der Jubilarin, das es zu feiern gilt, hinaus. Eine solche progressive Wendung ist immer auch ein Qualitätsmerkmal von Festschriften. Zu begrüßen ist außerdem die binationale Zusammensetzung des Autorenteams, die dem Thema und der deutsch-polnisch aktiven Wissenschaftlerin Helga Schultz angemessen sind. Dass sich die Publikation an mindestens diese beiden Nationen richtet, ist auch daran abzulesen, dass der Band sowohl eine polnische als auch eine deutsche ISBN erhalten hat. Vor diesem Hintergrund wäre es vielleicht denkbar gewesen, eine englische Fassung auf den Markt zu bringen, um die Texte auch für nicht unmittelbar mit der konkreten Grenzregion befassten und mithin häufig bilingualen polnischen Kollegen und Kolleginnen zugänglich zu machen. Höchst bedauerlich ist allerdings die schlechte Qualität des Drucks und der Lektorierung, die die Lesefreude erheblich beeinträchtigen. Dies ist vor allem bei einer Festgabe nur schwer erträglich.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Beiträge unter anderem von Faraldo, Halicka, Tutaj/ Tutaj.
2 Vgl. S. 78. Bereits das Projekt der Universität Viadrina und des Collegium Polonicum – das heißt der gegenwärtigen Wirkungsstätten der Jubilarin – an sich sind selbst Teil dessen, was als „deutsch-polnische grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ untersucht werden kann. Vor allem im Feld der „border studies“ ist häufig eine Verflechtung zwischen Akteuren und wissenschaftlichen Beobachtern des Feldes zu verzeichnen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension