Chr. M. Merki (Hrsg.): Europas Finanzzentren

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Titel
Europas Finanzzentren. Geschichte und Bedeutung im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Merki, Christoph Maria
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
305 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kreutzmüller, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Milliardenschwere Geldströme fließen täglich um die Welt, sammeln sich aber immer wieder an bestimmten Orten. Trotz ihrer enormen Bedeutung sind die „Knotenpunkte für Geld- und Kapitalverkehr“ (S. 9), die Finanzzentren, bislang kaum in den Fokus der deutschsprachigen Forschung gekommen. Zwar liegen mittlerweile Studien zu den Finanzzentren Berlin 1 und Frankfurt am Main 2 vor, doch fehlen vergleichende Studien für Europa. Allenfalls konnte bislang auf den von Hans Pohl herausgegebenen Sammelband „Europäische Bankengeschichte“ zurückgegriffen werden.3 Hier setzt der vorliegende, vom Liechtensteiner Wirtschaftshistoriker Christoph Maria Merki herausgegebene Sammelband an. In seiner präzisen – und allgemeinverständlichen – Einleitung weist der Herausgeber darauf hin, dass die Traditionslinien der Finanzplätze trotz der eher flüchtigen Natur des Geldes überraschend stark sind. Demzufolge seien Untersuchungen von Strukturen von Finanzplätzen und Wechselbeziehungen zwischen ihnen auch von großer Relevanz für die Gegenwart. Damit ist die Zielrichtung des Bandes vorgegeben.

Der Band ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden die vier „alten“ europäischen Finanzzentren London, Frankfurt am Main, Paris und Amsterdam vorgestellt. Während London, Frankfurt und Paris schon im Mittelalter wichtige politische und wirtschaftliche Zentren waren, entwickelte sich Amsterdam mit einiger Verspätung, wurde aber im 17. Jahrhundert zum wichtigsten Finanzzentrum Europas. Nachdem die Stadt im 19. Jahrhundert einen immensen Bedeutungsverlust hatte hinnehmen müssen, konnte sie, wie Jaap Barendregt zeigt, nach dem Ersten Weltkrieg vom Zerfall der wirtschaftspolitischen Vorkriegsordnung profitieren und an ihre alte Bedeutung anknüpfen. Es war hauptsächlich deutsches Fluchtkapital, das den Aufschwung einleitete. Das Finanzzentrum Paris hingegen verlor seinen Rang in Folge der wirtschaftlichen Verwerfungen im Zuge der beiden Weltkriege. André Strauß kommt zu dem Schluss, dass Paris erst Ende des 20. Jahrhunderts wieder an die Stellung anknüpfen konnte, die der Stadt zu Beginn des Jahrhunderts eigen war. Nach der kriegsbedingten Inflation, die faktisch erst 1928 überwunden wurde, konnten zwar immense Goldreserven aufgebaut werden, gleichzeitig wurde aber auch der unsinnige Versuch unternommen, London auf dem Wechselmarkt Konkurrenz zu machen. Zwischen 1936 und 1938 musste der Franc dann dreimal abgewertet werden. Durch Krieg und Besatzung kam der internationale Handel fast vollständig zum erliegen und der Abbau der Beschränkungen nach 1945 erfolgte vor dem Hintergrund tiefgreifender binnenwirtschaftlicher Probleme nur sehr schleppend. Neuerdings profitierten Amsterdam und Paris aber auch von der Gründung der Euronext. Carl-Ludwig Holtfrerich zeigt in seinem Beitrag über Frankfurt am Main, dass die Geschichte dieses Finanzzentrums starken politischen Zäsuren unterworfen war. Der Abstieg des Finanzzentrums im 19. Jahrhundert ging einher mit dem Aufstieg der neuen Reichshauptstadt Berlin. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es dann das politische Gewicht der amerikanischen Besatzungsmacht, das zum Wiederaufstieg Frankfurts führte. Denn obgleich die Ausgangsbedingungen in Hamburg günstiger waren, wandten sich die Amerikaner gegen die Etablierung der geplanten neuen Zentralbank in der von den Briten verwalteten Hafenstadt und setzten Frankfurt durch. Es waren dann aber auch andere Faktoren, die zum Wiederaufstieg Frankfurts beitrugen: Wirtschaftswunder, Stabilität der DM und europäische Integration, die letztlich dazu führte, dass die Europäische Zentralbank 1993 in Frankfurt etabliert wurde. Während sich die Börsen von Amsterdam und Paris (Brüssel und Lissabon) zur Euronext zusammengeschlossen haben, die sich wiederum unlängst mit der New York Stock Exchange zur größten Börse der Welt zusammengetan hat, ist die Zukunft der Frankfurter Börse noch ungewiss. Der Versuch, die Londoner Börse zu übernehmen, ist ja bekanntlich gescheitert – die Entwicklung des Finanzplatzes hingegen veranschaulicht Ranald C. Michie in seinem inspirierenden Beitrag. Michie erlaubt sich, die Geschichte des Finanzzentrums London an der Frage, ob die Stadt ein offshore-Zentrum sei, zu entwickeln und dabei die Gründe aufzuzeigen, wieso dies nicht so ist, obwohl das Empire bekanntlich verschwunden, die Wirtschaftskraft Großbritanniens begrenzt ist.

Im zweiten Teil des Bandes werden mit der Schweiz, Luxemburg, Liechtenstein und den Kanalinseln vier Finanzzentren vorgestellt, deren Bedeutung sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts voll entfaltete und die als offshore-Zentren bezeichnet werden können. Letzteres trifft, das betont Jakob Tanner in seinem Beitrag, am wenigsten auf die Schweiz zu. Tanners Argumentation überzeugt an diesem Punkt freilich ebenso wenig, wie der Umstand, dass die Schweiz als „neues“ Finanzzentrum angesprochen wird, reichen doch die Wurzeln des Platzes ins 17. Jahrhundert zurück. Fraglos aber wuchs die Bedeutung des Platzes im Windschatten der politischen und wirtschaftlichen Katastrophen des letzten Jahrhunderts. Daneben waren es auch die (währungs-)politische Stabilität und die restriktive Handhabung des Bankgeheimnisses, die zur Attraktivität des Finanzplatzes beitrugen. Inzwischen werden rund 30 Prozent aller transnationalen Privatguthaben durch die Schweiz verwaltet. Letztlich betreiben die Schweiz wie auch Luxemburg, Liechtenstein sowie die Kanalinseln Jersey und Guernsey etwas, das Christoph Maria Merki in seinem Beitrag über Liechtenstein prägnant als „die Kommerzialisierung ihrer Souveränität“ (S. 168) beschreibt. Die Gesetze und Usancen der Finanzplätze werden dem Ziel untergeordnet, attraktive Rahmenbedingungen für ausländische Investoren zu schaffen. Dies wird freilich – wie auch Norbert Franz und Stefan Altorfer in ihren Beiträgen über Luxemburg und die Kanalinseln feststellen, im Zuge der europäischen Integration zunehmend schwierig.

Im dritten Teil des Bandes werden übergreifende Themen angesprochen: Richard Tilly analysiert in einem diachronen Vergleich die Veränderungen der Strukturen der europäischen Finanzplätze. Er legt den Schluss nahe, dass der andauernde Erfolg Londons auf die stärkere Marktorientierung des dortigen Finanzsystems zurückzuführen ist. Tobias Straumann untersucht, warum London und Luxemburg, nicht aber Frankfurt und die Schweiz vom Aufkommen der Eurodollar profitierten. Seine Schlussfolgerung ist, dass die Konzentration auf die Sicherung der Geldwertstabilität in der Schweiz und der Bundesrepublik, die Zulassung der Eurodollars sozusagen nicht zuließ. Richard T. Meier weist auf etwas hin, was oft übersehen wird: dass nämlich die gewaltigen technischen Fortschritte das Geschäft der Finanzzentren prägen. Im zwölften und letzten Beitrag vergleicht Harold James dann die Entwicklung der europäischen mit den amerikanischen Finanzzentren. James arbeitet heraus, dass es die regulatorischen Rahmenbedingungen seien, die langfristig den Erfolg von Finanzzentren bestimmen.

Das hier besprochene Buch will Anstöße zu weiteren finanzgeschichtlichen Forschungen geben (S. 15) und gleichzeitig bereits erste Forschungslücken schließen. Beides gelingt ihm in beeindruckender Weise. Allerdings ist zu bedauern, dass der Begriff des offshore-Zentrums von den verschiedenen Autoren auf unterschiedliche Weise verwandt wird. Die Lektüre verdeutlicht aber, dass wir noch immer viel zu wenig über die Entwicklung der europäischen Finanzzentren wissen. Dies wiederum erklärt, warum auch in der neueren Bankengeschichtschreibung allzu oft die eigentlich naheliegende Referenzebene des Finanzplatzes vernachlässigt wird.

Anmerkungen:
1 Pohl, Hans (Hrsg.), Geschichte des Finanzplatzes Berlin, Frankfurt am Main 2002; Ullrich, Annet, Finanzplatz Berlin. Entstehung und Entwicklung. Eine theoriegeleitete historisch-empirische Analyse, Potsdam 2005.
2 Holtfrerich, Carl-Ludwig, Finanzplatz Frankfurt. Von der mittelalterlichen Messestadt zum europäischen Bankenzentrum, München 1999
3 Pohl, Hans (Hrsg.) Europäische Bankengeschichte, Frankfurt am Main 1993.

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