Ch. Geisel: Auf der Suche nach einem dritten Weg

Titel
Auf der Suche nach einem dritten Weg. Politisches Selbstverständnis der DDR-Opposition in den achtziger Jahren


Autor(en)
Geisel, Christof
Reihe
Forschungen zur DDR-Gesellschaft
Erschienen
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Richter, Universität Dresden

Trotz der nach 1989 in Gang gesetzten Forschungs- und Veröffentlichungsflut zur DDR-Opposition gestaltet sich die Suche nach ihrem politischen Selbstverständnis schwierig und kontrovers. Zum einen liegt das an jenen Autoren, die nur eine Wahrheit gelten lassen wollen und die Komplexität ihres Untersuchungsgegenstandes ignorieren. Zum anderen wird bei der politischen Profilanalyse der DDR-Opposition allzu oft vernachlässigt, dass das Ende der SED-Herrschaft für Ost wie West ein völlig unerwartetes Ereignis darstellte und heutige Gewissheiten dem geistigen Horizont vor 1989 nicht einfach zugeschlagen werden können. Das zunächst wichtigste Verdienst von Christoph Geisel ist es, diese historische Kontingenz anstelle einer wahlweise mit positiven oder negativen Vorzeichen stratifizierten DDR-Oppositionsgeschichte in Erinnerung zu rufen.

Seine Untersuchung will zeigen, warum Oppositionelle mit ihrem politischen Selbstverständnis nicht nur bei der SED, sondern auch bei „nicht systemloyalen DDR-Bürgern kaum auf Gegenliebe hoffen konnten“ (S. 11). Neben Archivmaterial und Interviews mit Zeitzeugen zieht Geisel seine Schlüsse aus einem an 350 ehemalige Akteure versendeten Fragebogen, dessen Rücklaufquote von etwa 41 Prozent er als „halbwegs repräsentativ“ einstuft und der samt Ergebnissen in einem Anhang aufgeführt wird. Zudem durchpflügt Geisel die einschlägige Literatur mit kritischem Blick und großer Gründlichkeit. So entfaltet bereits die Einleitung ein weites Panorama der Opposition und ihres Kontrahenten SED-Regime, dessen Verortung zwischen „totalitärem System“ und „Koloss auf tönernen Füßen“ Geisel sehr lesenswerte Passagen über unscharfe Wiederbelebungsversuche des Totalitarismusbegriffes entlocken (S. 18ff.).

Die Mehrzahl der bislang vorgelegten Oppositionsdefinitionen lehnt Geisel als widersprüchlich ab und plädiert im Anschluss an Torsten Moritz für einen offenen Begriff, der jene Gruppen und Personen umfasst, „die sich außerhalb der Nationalen Front der DDR politisch organisierten, bezüglich ihres politischen Gesamtkonzepts oder mehrerer politischer Einzelfragen im Dissens mit der Staats- und Parteiführung standen und diesen Dissens auch öffentlich kundtaten“ (S. 17). Zwar dürfte auch dieser Ansatz nicht das letzte Wort zum Thema sein, doch beinhaltet er sinnvolle Kategorien und vermeidet dumpfe Vereinfachungen. Für den Herbst 1989 zieht Geisel aus bedenkenswerten Gründen – und wohl zum Verdruss einiger ehemals Beteiligter sowie mancher Kommentatoren der DDR-Opposition – den analytisch offeneren Begriff der Wende dem der Revolution vor (S. 10f., Anm. 5).

Die Debatte um das Verhältnis der Oppositionellen zum Sozialismus kann ohne Übertreibung als ‚vermintes’ Gelände bezeichnet werden. Geisel durchquert es, indem er nicht nur bei den Quellen, der veröffentlichten Literatur sowie auch und gerade bei den Wortmeldungen ehemals ‚Aktiver’ sehr genau hinschaut, sondern zugleich ein Auge auf die erinnerungspolitischen Befindlichkeiten der osterweiterten Bundesrepublik wirft (S. 60). Letzteren und einem gerüttelt Maß an Selbstkasteiung ist es wohl zu verdanken, warum Autoren, wie Ehrhart Neubert, früheren, sozialismusaffinen Äußerungen nicht deutlich mehr Aufmerksamkeit widmen, oder, wie Ilko-Sascha Kowalczuk, bei Quelleneditionen politisch weniger ‚anschlussfähigen’ Texten nicht unbedingt den Vorzug einräumen, statt sich und anderen deren geistigen Hintergrund selbstbewusst in Erinnerung zu rufen. Klaus Wolfram jedenfalls bezeichnet das Argument, Oppositionelle hätten ihren Protest nur sozialistisch ‚getarnt’, als „Heldentaten nach dem Kampf“ (S. 114). Als müsste sich schämen, wer die Realitäten der vergangenen Gegenwart – übrigens in bester Gesellschaft mit dem westdeutschen Establishment – ernst zu nehmen bereit war. An anderer Stelle hat Christof Geisel dieses Problem in die Frage gefasst, „warum DDR-Oppositionelle [...] solche Probleme haben, sich zu den Zielen zu bekennen, die sie einst im Herbst 1989 verfolgt hatten“1, zumal sich die „Strahlkraft“ der Sozialismusidee nachweisen lässt (S. 62), ohne dies, wie etwa Christian Joppke, mit SED-Nähe zu verwechseln. Daher ist auch zweitrangig, ob die von sich selbst und auswärtigen Beobachtern bis 1989/90 als mehrheitlich links, antikapitalistisch und parlamentarismuskritisch bewertete Opposition die durch den Staatssozialismus als disqualifiziert empfundene Vokabel explizit verwendet hat.

Die Formel von der Opposition „in den Farben der DDR“ (S. 92) ist vor allem deshalb sinnvoll, weil die Ablehnung des westlichen Kapitalismus – ein wichtiger Unterschied zur polnischen oder ungarischen Opposition – eben nur ein Grund war, warum Ende 1989 ironischerweise viele Oppositionelle als „treueste Anhänger der DDR“ (S. 151) galten und sich angesichts des Zorns beitrittswilliger Massen beinahe in einem Boot mit den SED-Nachfolgern wiederfanden. Gerade weil sie – in Anknüpfung an Detlef Pollack – ein „selbständiges Phänomen innerhalb der DDR-Geschichte“ waren (S. 44), verstand die Mehrzahl der Oppositionellen den westdeutschen Teilstaat noch als „Ausland“, als diese Haltung längst obsolet war. Ihre kritische Haltung zur Wiedervereinigung hatte wesentlich das Motiv, jegliche Vorstellungen vom „dritten Weg“ allein in einer eigenständigen DDR umsetzen zu können. Geisels These, ihr Festhalten an einer reformierten DDR 1989/90 sei auch auf das langjährige Desinteresse der Bundesrepublik an der deutschen Frage zurückzuführen (S. 41), erscheint daher eher für andere, passivere Bevölkerungsteile plausibel. Einen wichtigen Hinweis für die Debatte um Bindungskräfte innerhalb der DDR-Gesellschaft enthält die Äußerung eines Interviewpartners, der zögerliche Umgang des Westens mit der NS-Vergangenheit habe ihn „zehn Jahre länger als nötig an den überzogenen Sozialismusvorstellungen festhalten“ lassen (S. 147, Anm. 118).

Geisels Fazit, wie der Traum vom „dritten Weg“ konkret ausgesehen habe, ist klar und wenig schmeichelhaft. So habe das Neue Forum mit seinen Forderungen im Herbst 1989 versucht, „schwimmen zu gehen, ohne nass zu werden“ (S. 108). Den Versuch, nur die Vorteile beider politischer Systeme zu übernehmen, bezeichnet er als „systemische Äquidistanz“ (S. 107). Gegenüber solch einem Begriff ist jedoch Skepsis angebracht, weil er im Idealtypischen verharrt, Geisels eigenen Befund von der oppositionellen „Identifikation mit dem Aggressor“ (S. 236) konterkariert und eine Aussage, wie die von Jens Reich, Oppositionelle in der DDR hätten „in den Kategorien des Sozialismus gedacht“, (S. 71) inhaltlich nicht aufzuschlüsseln vermag. Hier wird nach einzelnen Personen und Themen zu unterscheiden bleiben. De facto jedenfalls beschränkt wohl auch Geisel die „Suche nach einem dritten Weg“ auf die Phase der Runden Tische, als die aus dem herbstlichen „Plattformfieber“ hervorgegangenen Oppositionsgruppen, die „ihre historische Rolle am 9. November 1989 im Grunde schon zu Ende gespielt hatten“ (S. 215), so etwas wie Gestaltungsmacht besaßen. Sie scheiterten aber, urteilt Geisel, weil „konzeptionelles, geschweige denn programmatisches Denken [...] der späten DDR-Dissidenz überwiegend fremd, mitunter wohl sogar zuwider“ (S. 194) gewesen war.

Im vorletzten Kapitel widmet sich Geisel der Frage, ob die DDR-Opposition nun als „politische Bewegung oder alternative Lebensform“ aufzufassen ist. Er selbst scheint der Wahrnehmung von Jens Reich zuzuneigen, wonach die Opposition „mehrheitlich unpolitisch“ (S. 214) oder, wie Reinhard Schult meint, „ja mehr eine Szene“ (S. 197, Anm. 18) war. Dies wäre freilich nicht allein ein Widerspruch zu der von Torsten Moritz übernommenen Beschreibung (siehe oben). Die Vokabel „Opposition“ würde für die späte DDR auch generell obsolet, da sie sinnvoller Weise nur im Bereich des Politischen denkbar ist. Kann jedoch eine apolitische Opposition „auf der Suche nach einem [politischen; S.R.] dritten Weg sein“? Eine Auflösung dieses Widerspruchs dürfte im Verzicht auf die entweder-oder-Frage liegen. Geisel selbst weist hinsichtlich des Umgangs mit Unangepassten in der Ära Honecker auf das „Wegfallen des ideologisch motivierten Exterminismus“ der Ulbricht-Jahre und die „Nischen einer nicht marktorientierten Wirtschaftsform“ als Keimboden herrschafts- bzw. politikferner Selbstfindung der Nonkonformen hin (S. 207). Wenn sich innerhalb dieser „Szene“ einzelne Personen oder Gruppen ansatzweise organisierten, inhaltliche Positionen bezogen und diese auch öffentlich zu äußern versuchten, wäre im Sinne des Moritz’schen Oppositionsbegriffs durchaus von politischer Opposition zu sprechen, ohne das andere Etikett abzugeben. Eine weitere Entschärfung dieser Frage liegt möglicherweise in jenem Generationenkonflikt, der Klaus Wolfram für die 1980er-Jahre von „zwei Oppositionen“ (S. 59) sprechen lässt. So wird die von Geisel diagnostizierte „Theoriefeindlichkeit“ des oppositionellen Mainstreams durch seine Erhebung bestätigt, wonach „77,3% der jungen Oppositionellen Sympathien für den Anarchismus hegten“ (S. 195, 257ff.). Zugleich empfanden letztere die „Atmosphäre der Lesegrüppchen und Diskussionszirkel“ der „Älteren“, bei denen es sicher um mehr als individuelle Verweigerung ging, als antiquiert (S. 59, Anm. 25). Insgesamt handelte es sich nicht, auch darin ist Geisel zuzustimmen, um „Fackelträger einer Gegengesellschaft, wie dies im Polen der achtziger Jahre der Fall war“ (S. 208). In der „Szene“, lässt sich wohl resümieren, haben manche einen „dritten Weg“, vor allem Jüngere aber zunächst ihren eigenen gesucht.

Geisel formuliert streitbare Thesen, die sachlicher Natur sind, mitunter freilich zu eben solchem Widerspruch einladen. Seiner Ansicht etwa, dass die bei DDR-Oppositionellen verbreitete Sympathie für anarchistische und postmaterialistische Werte ihre Einstufung als „Außenstelle der West-Grünen“ rechtfertige (S. 177), sei entgegengehalten, dass dies nicht allein die Bedeutung der deutsch-deutschen Systemgrenze für die Opposition selbst, sondern auch ihre spezifischen „DDR-Farben“ zu sehr nivellieren dürfte. Gegen den Strom und doch nicht verfehlt erscheint dagegen seine Forderung, die Rolle des MfS bezogen auf das Selbstverständnis der Opposition nicht zu überschätzen und es nicht „pauschal als Verkörperung und Minenhund des Honeckerschen Dogmatismus zu betrachten“ (S. 102, 106).

Christof Geisel hat ein sehr dicht argumentierendes Buch vorgelegt, dessen historiographiekritischer und zeithistorisch scharfer Blick einen hohen Standard erreicht und das deshalb weithin gelesen werden sollte.

Anmerkungen:
1 Geisel, Christof, Rezension über: Kowalczuk, Ilko-Sascha; Sello, Tom (Hrsg.), Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos, Berlin 2006, in: DA 39 (2006) 5, S. 927-928.

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