S. C. Pils u. a. (Hrsg.): Ein zweigeteilter Ort?

Cover
Titel
Ein zweigeteilter Ort?. Hof und Stadt in der Frühen Neuzeit


Herausgeber
Pils, Susanne Claudine; Niederkorn, Jan Paul
Reihe
Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 44
Erschienen
Wien 2005: StudienVerlag
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Weller, SFB 496, Projekt C1, Universität Münster

Der vorliegende Band dokumentiert die Referate des achten Workshops des Arbeitskreises „Höfe des Hauses Österreich“, den die Historische Kommission der Akademie der Wissenschaften und das Wiener Stadt- und Landesarchiv in Zusammenarbeit mit dem Ludwig-Bolzmann Institut für Stadtgeschichtsforschung, dem Verein für die Geschichte der Stadt Wien und dem Institut für die Erforschung der Frühen Neuzeit im März 2003 in Wien veranstaltet haben. Bedauerlicherweise verzichten die Herausgeber auf eine konzeptionelle Einführung in das vielversprechende Thema, das in der Tat ein „Forschungsdesiderat“ (S. 7) darstellt, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Stadt Wien. Die neun Beiträge sind vier übergeordneten Themenkomplexen zugeordnet, die den Sektionen des Workshops entsprechen.

Unter der Rubrik „Hof und Stadt – die Stadt als Residenz“ widmen sich die beiden ersten Beiträge den Residenzstädten im Heiligen Römischen Reich, und zwar einmal aus der Makro-, einmal aus der Mikroperspektive. Jörg Wettlaufer stellt das von ihm mitbearbeitete und von der Residenzen-Kommission der Göttinger Akademie der Wissenschaften herausgegebene Handbuch der Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich vor. Das Handbuch, dessen ersten beiden Teile inzwischen erschienen sind1, erlaube „einen überregionalen Blick hinsichtlich der allgemeinen Qualität der Beziehungen zwischen Stadt und Stadtherrn“ (S. 13). Dabei bestätigten sich zum Teil schon länger bekannte Phänomene, so etwa die strukturelle Schwäche bischöflicher Herrschaft in den spätmittelalterlichen Städten. Allerdings seien die Städte nicht immer in ihrem Bemühen erfolgreich gewesen, sich dauerhaft aus der Abhängigkeit von ihrem Stadtherrn zu befreien. Inwieweit diese Einsicht indes „neue Akzente“ (S. 21) offenlegt, sei dahin gestellt.

Ein besonders enges Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem Hof lässt sich generell beim „Typus der kleinen Residenzstadt“ beobachten, dem sich Holger Thomas Gräf am Beispiel der hessischen Städte Butzbach und Arolsen zuwendet. Obwohl Butzbach sich aus einem mittelalterlichen Kern entwickelte und es sich bei dem zur Grafschaft Waldeck gehörigen Arolsen um eine barocke Planstadt handelte, prägte der Hof in beiden Fällen ganz entscheidend das Stadtbild und das städtische Leben. Dies führt Gräf vor allem auf die geringe Größe der Städte (zwischen 800 und 1200 Einwohner) zurück, die eine klare Trennung zwischen städtischer und höfischer Sphäre im Alltag kaum möglich machte.

Die drei folgenden Aufsätze beschäftigen sich am Beispiel Wiens mit dem Thema „Hof und Wirtschaft“. In seinem Beitrag über die Bedeutung des Wiener Hofes für die städtische Ökonomie hebt Andreas Weigl die von der modernen Wirtschaftstheorie meist unterschätzten Wachstumsimpulse hervor, die von den großen Höfen ausgingen. Indem der höfische Luxuskonsum zur Einbindung größerer Bevölkerungsgruppen in den Markt, zur Hebung der Nachfrage auch über den engen Kreis der Hofgesellschaft hinaus und zur räumlichen Konzentration von Produktionsbetrieben beitrug, habe er gleichsam die Voraussetzungen für die spätere Entwicklung industrieller Massenproduktion geschaffen.

Ähnlich wie der Beitrag von Jörg Wettlaufer gewährt auch die knappe Skizze von Herbert Haupt über das „Hof- und das hofbefreite Handwerk“ Einblicke in ein Handbuchprojekt. Hofhandwerker und hofbefreite Handwerker stellten Sondergruppen innerhalb des städtischen Handwerks dar, über deren Alltag und Lebensumstände das vom Verfasser herausgegebene Handbuch demnächst umfassend informieren soll. 2

Peter Rauschers Aufsatz über die Wiener Juden zur Zeit des Ghettos (1625-1670) fasst Rauschers eigenes Referat über die „Wirtschaftstätigkeit der Wiener Juden zwischen Hof und Stadt“ sowie den von Barbara Staudinger auf dem Workshop gehaltenen Vortrag über die „Integration der Wiener Hofjuden in den städtischen und höfischen Raum“ zusammen. Nach ihrer Vertreibung aus den Stadtmauern war die Stadt Wien aus Sicht der Juden kein zwei-, sondern ein dreigeteilter Ort. Insbesondere die führenden Vertreter der auf der anderen Seite des Donauarms angesiedelten jüdischen Gemeinde verfügten auch weiterhin über enge, vor allem wirtschaftliche Kontakte zum Hof, sahen sich aber andererseits wiederholten Anfeindungen und Repressionsmaßnahmen durch die politischen Vertreter der Stadt Wien ausgesetzt, die in den unter dem Schutz des Kaiserhofes stehenden jüdischen Kaufleuten und Gewerbetreibenden nicht zuletzt eine ökonomische Konkurrenz erblickten. Insofern waren die Juden Teil eines „grundlegenden Interessenskonflikts zwischen Hof und Stadt“ (S. 109), in welchem sich die Stadt jedoch langfristig nicht behaupten konnte.

Die dem Oberthema „Die Stadt als Bühne“ zugeordneten Beiträge von Harald Tersch über die Wahrnehmung Wiens und des Wiener Hofs in der Reiseliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts sowie von Rouven Pons über den diplomatischen Alltag in der Donaumetropole um 1700 nähern sich dem Spannungsverhältnis von Hof und Stadt gleichsam aus der Außenperspektive. Tersch macht in der zeitgenössischen Reiseliteratur zwei unterschiedliche Raumbilder aus, die der Beschreibung von Stadt und Hofstatt jeweils zugrundelagen. Die „imaginäre Grenzlinie“ (S. 133) zwischen Hof und Stadt fand ihren Ausdruck dabei teils in der formalen Zweiteilung einiger Reiseführer, teils wirkte sie sich auf die Beschreibung einzelner Gebäude oder Personengruppen aus. Die von Autor zu Autor verschiedene Wertigkeit, die dabei der höfischen und der städtisch-bürgerlichen Sphäre zugeschrieben wurde, demonstriert Tersch an der höchst unterschiedlichen Wahrnehmung der in Wien bereits 1687 eingeführten Straßenbeleuchtung, die von den einen als Symbol „höfischer Ordnung“, von den anderen als Ausdruck „moralischer Verkommenheit der Großstadt“ (S. 136) gedeutet wurde. Generell sei die Fremdwahrnehmung Wiens im 17. Jahrhundert stärker von der Dominanz höfischer Räume geprägt gewesen, doch schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts habe eine Gegenbewegung eingesetzt, die den Blick der Reisenden auf eine sich formierende bürgerliche Öffentlichkeit freigab.

Die Ausstrahlung höfischer Kultur und Umgangsformen auf den städtischen Raum und deren zeitweilige Dominanz betont auch Rouven Pons mit seinem Blick auf den Alltag frühneuzeitlicher Diplomaten in Wien. Dabei konzentriert er sich in erster Linie auf die Gesandten kleinerer Territorien des Heiligen Römischen Reichs. Pons konstatiert zwar einerseits eine erhebliche Diskrepanz zwischen den offiziellen Auftritten der Gesandten bei Hof und deren weitaus weniger glanzvollem Alltag, stellt aber andererseits fest, dass höfische Formen auch in anderen gesellschaftlichen Sphären Einzug gefunden und letztlich „Auswirkungen auf die ganze Stadt“ (S. 182) gehabt hätten. Pons vermutet, dass solche Formen außerhalb des höfischen Kontextes kaum noch eine eindeutige Botschaft oder Aussage transportierten und lediglich Teil eines von den Zeitgenossen nicht mehr hinterfragten Dekorum waren. Dies wäre im Einzelfall zu diskutieren. Dass aber ursprünglich genuin höfische Interaktionsmuster in der Tat „bis hin zum täglichen Leben des Bürgers oder gar der unteren Schichten“ (S. 183) von Bedeutung waren, kann angesichts neuerer Untersuchungen auch über die Residenzstädte hinaus als gesichert gelten.

Die letzten beiden Beiträge des Bandes, die trotz ihres engen thematischen Zusammenhangs unterschiedlichen Oberthemen zugeordnet sind, nähern sich aus unterschiedlicher Perspektive dem Phänomen der städtischen Armut. Unter der ein wenig irreführenden und nur diesen einen Beitrag umfassenden Rubrik „Die Stadt und ihre Ränder“ bietet Thomas Just einen knappen Aufriss über die Finanzierung der städtischen Armenfürsorge, aus der sich der Hof mehr und mehr zurückzog. Martin Scheutz, dessen Beitrag wiederum dem Thema „Die Stadt als Bühne“ subsumiert wurde, beschäftigt sich mit der rituellen Praxis der Armenspeisung und der Gründonnerstags-Fußwaschung am Kaiserhof. Dieses Ritual stellte einen der wenigen Anlässe dar, bei dem die städtische Bevölkerung in das höfische Zeremoniell einbezogen wurde, wobei die zuvor individuell ausgewählten Armen nach Auffassung des Verfassers freilich kaum mehr als „Objekte dieser kaiserlichen Gnadenbezeugung“ (S. 217) darstellten. Obgleich das Ritual seiner äußeren Form nach bis zum Ende der Habsburgermonarchie unverändert blieb, fragt sich doch, ob dies auch für seinen Bedeutungsgehalt zutrifft. Diese Frage lässt der ansonsten sehr reichhaltige Beitrag leider unbeantwortet. Bestimmte Entwicklungen werden zwar benannt – so etwa die Ausweitung der Öffentlichkeit durch gedruckte Zeremonialbeschreibungen – aber nicht in den Kontext einer solche und andere Veränderungen erklärenden Gesamtinterpretation gestellt.

Der Band bietet eine Vielzahl von interessanten Einblicken in ein Thema, zu dem das letzte Wort noch lange nicht gesprochen ist. Eine stärkere gegenseitige Annäherung der Hof- und der Stadtgeschichtsforschung, wie sie hier verfolgt wird, dürfte sich auch künftig als äußerst fruchtbarer Weg erweisen.

Anmerkungen:
1 Paravicini, Werner (Hrsg.), Höfe und Residenzen im Spätmittelalterichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch, bearb. v. Jan Hirschbiegel und Jörg Wettlaufer. Teil I: Dynastien und Höfe (= Residenzenforschung 15,1), Ostfildern 2003; Teil II: Bilder und Begriffe (= Residenzenforschung 15,2), Ostfildern 2005.
2 Haupt, Herbert (Hrsg.), Das Hof- und hofbefreite Handwerk im barocken Wien 1620 bis 1770: Ein Handbuch, Innsbruck 2007 [im Druck].

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