A. Steiner (Hrsg.): Überholen ohne einzuholen

Cover
Titel
Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte?


Herausgeber
Steiner, André
Erschienen
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Müller, Forschungsstelle für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas, Europa-Universität Viadrina

Der Sammelband ist das Ergebnis einer im Jahre 2004 von André Steiner am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam organisierten Tagung. Sein Titel dient mit dem plakativen „Überholen ohne Einzuholen“ und der kokett-provokativen „Fußnote“ nicht nur dazu, die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu erregen. Er hat auch einen sachlichen Hintergrund, denn in historischen Gesamtdarstellungen zur deutschen (Wirtschafts-) Geschichte wird dem „Irrweg“ der DDR zumeist ein eigenes, eher kurzes Kapitel eingeräumt, während die „eigentliche“ deutsche (Wirtschafts-) Geschichte unabhängig davon und wesentlich ausführlicher beschrieben wird.

Steiner, dem wir mehrere grundlegende Arbeiten zur DDR-Wirtschaftsgeschichte verdanken, macht in einer kurzen Einleitung deutlich, dass „das Diktum von der Fußnote“ dem „Stellenwert der DDR in der deutschen Wirtschaftsgeschichte“ nicht gerecht wird und begründet dies vor allem mit der Tatsache, dass die DDR einige deutsche Traditionen – wenn auch mitunter modifiziert – fortgeführt habe. So sollte also die Suche nach spezifisch deutschen Traditionen in der DDR-Ökonomie, gewissermaßen als Ergänzung und wirtschaftshistorische Erweiterung der Debatte um den Grad der Sowjetisierung der DDR-Gesellschaft, das wissenschaftliche leitende Problem der Tagung und des Bandes darstellen. Hierzu hat Steiner bewusst Wissenschaftler/innen eingeladen, die nicht unbedingt DDR-Spezialisten sind, jedoch langfristige Trends in wichtigen Teilbereichen der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte überblicken.

So befassen sich Gerold Ambrosius mit der Wirtschaftsordnung, Hajo Riese mit der Wirtschaftstheorie, Toni Pierenkemper mit der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, Werner Plumpe mit den industriellen Beziehungen, Christoph Buchheim mit dem Außenhandel, Raymond G. Stokes mit der Technikentwicklung sowie schließlich Manfred G. Schmidt mit der Sozialpolitik. Die Einordnung der DDR in die gesamtdeutsche Wirtschaftsgeschichte fällt in den einzelnen Beiträgen recht unterschiedlich aus, was teilweise an den jeweils untersuchten Feldern, vor allem aber an den jeweiligen methodischen Zugängen liegt. Wenn man einen klassischen Wirtschaftsordnungsvergleich anstellt und vom Standpunkt des marktwirtschaftlichen Modells die Systemdefekte der Planwirtschaft theoretisch herleitet sowie entsprechende Belege anführt, muss man den Traditionsbruch betonen. Autoren, die sich stärker für die konkrete Entwicklung gesellschaftlicher Subsysteme interessieren, werden „deutsche“ Gemeinsamkeiten entdecken, die natürlich oft eher allgemeine Probleme später Industriegesellschaften waren.

Christoph Buchheim geht zunächst auf die grundsätzlichen Funktionen von Außenhandel ein, analysiert dann die Außenwirtschaftsordnung der DDR und behandelt schließlich die zentralen Probleme der DDR-Volkswirtschaft in ihren Auswirkungen auf die Außenwirtschaft. Danach lag das Streben nach Autarkie schon in der Logik des Wirtschaftssystems. Der Außenhandel konnte so lediglich eine Versorgungsfunktion erfüllen, jedoch weder Wachstum noch Innovationen fördern. Im RGW kam es nie zu einer echten Spezialisierung, sondern allenfalls zum bilateralen Austausch „weicher“, auf westlichen Märkten nicht absetzbarer Güter. Die Strategie der 1970er-Jahre, mithilfe importierter Technologie Waren für westliche Märkte herzustellen, scheiterte an den schlechten Rahmenbedingungen und dem Mangel an begleitenden Serviceangeboten, so dass letztlich statt der Deviseneinnahmen die Auslandschulden wuchsen. Eine Parallele in der deutschen Außenwirtschaftsgeschichte stellten allenfalls die staatliche Devisenbewirtschaftung und die Förderung bestimmter Exporte während der NS-Zeit dar. Als diese nach sechs Jahren an ihre Grenzen stießen, begannen die Nazis einen Raubfeldzug. Die DDR hatte dagegen durch die komplette Verstaatlichung die Möglichkeit, über Jahrzehnte Ressourcen und Sachkapital zu verschleißen. Sie wurde daher zum Extremfall für die verheerenden Auswirkungen einer illiberalen Außenwirtschaft (S. 103).

So innerlich logisch und prägnant Buchheims Ausführungen auch sind; sie bleiben gerade in Hinblick auf die vom Herausgeber vorgegebene Fragestellung unvollständig und unbefriedigend. So verschwinden hinter der Systemanalyse jegliche Handlungsspielräume der Akteure und damit auch die Entscheidungsalternativen. Schließlich gab es durchaus auch Versuche sinnvoller Arbeitsteilung im RGW, dessen Mitglieder auch sehr unterschiedliche Außenwirtschaftspolitiken betrieben. Vor allem bis etwa 1970 konnte die DDR – gerade durch Anknüpfung an mitteldeutsche Exporttraditionen sowie unter Ausnutzung ihres Sonderstatus im Rahmen der EWG – auch Erfolge auf westlichen Märkten erzielen. Zu wenig einbezogen wurden auch die jeweiligen Handelspartner. Zwar betont Buchheim mehrfach, die DDR sei über den gesamten Zeitraum von der Sowjetunion subventioniert worden, wodurch sogar ein früherer Zusammenbruch verhindert worden sei. Die Bilanz dieser Beziehung wäre aber unter Berücksichtigung der verheerenden Demontagepolitik sowie der sowjetischen Rückständigkeit bei zivilen und der Geheimniskrämerei bei militärischen Technologien differenzierter ausgefallen. Raymond G. Stokes kommt jedenfalls in seinem Beitrag über die Entwicklung der Technik zu einem gegenteiligen Befund. Eine Wirtschaftsgeschichte des Ostblocks, die sich nicht auf die Kritik des Wirtschaftssystems beschränken möchte, sollte sich auch fragen, inwieweit die mangelnde Kooperation im RGW nicht nur systembedingt, sondern eben auch politisch gewollt war. Offenbar wurzeln Wirtschaftsnationalismus und Autarkiestreben nicht ausschließlich in der sozialistischen Planwirtschaft sowjetischen Typs. Schließlich sollte nicht ganz vergessen werden, dass der Kalte Krieg auf die wirtschaftliche Entwicklung der beiden deutschen Staaten ganz unterschiedliche, mitunter direkt gegensätzliche Auswirkungen hatte. So hat etwa die gleichfalls „illiberale“ COCOM-Liste den Technologieimport der DDR zwar nicht gänzlich verhindert, aber durchaus behindert.

Toni Pierenkemper befasst sich unter der Überschrift „Vierzig Jahre vergebliches Mühen“ mit der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik. Er betont dabei die Bedeutung des schon von der Verfassung garantierten und auch praktisch wirksamen Rechtes auf Arbeit für das DDR-Wirtschaftssystem und beschreibt die letztlich unlösbaren Probleme der Planungsbehörden bei den Versuchen, eine optimale Verteilung der Arbeitskräfte zu erreichen. Erfolge der DDR-Arbeitsmarktpolitik sieht er in der außergewöhnlich hohen Erwerbstätigenquote, die darauf beruhte, dass bis zu 91% (!) der sich in der entsprechenden Altersgruppe befindenden Frauen berufstätig waren, sowie in der Verbesserung der beruflichen Qualifikation. Weitgehend gescheitert sind hingegen alle Versuche, wirksame Anreize für eine steigende Arbeitsproduktivität zu entwickeln, was in erster Linie auf die seit dem 17. Juni 1953 präsente Angst vor unzufriedenen Arbeiter/innen sowie das Interesse der Betriebe an weichen Plänen und einer „Hortung“ der chronisch knappen Arbeitskräfte zurückzuführen war. Erst in den 1980er-Jahren hätte die betriebliche Rationalisierung zu einer Freisetzung von Arbeitskräften führen können, was jedoch durch die staatliche Beschäftigungsgarantie konterkariert wurde. Letztlich stellt Pierenkemper zwar einige Ähnlichkeiten der DDR-Arbeitsmarktordnung mit Verhältnissen der Vormoderne und der NS-Zeit fest, betont aber insgesamt deren besonderen Charakter (S. 62).

Etwas anders stellt sich die Sache dar, wenn man sich stärker auf historische Parallelen einlässt, wie es Werner Plumpe in seinem Aufsatz über die „Arbeitsorganisation zwischen sowjetischem Muster und deutscher Tradition – die Industriellen Beziehungen“ tut. Zwar stellt auch er die starken Veränderungen infolge der Systemtransformation von 1947/48 heraus und sieht im Fehlen der „Zuchtpeitschen des Kapitals“, also von Kündigungsgefahr und Leistungslohn, das entscheidende Hemmnis für eine Steigerung der Arbeitsproduktivität. In Plumpes Schilderung der Vorgeschichte wird allerdings deutlich, dass in beinahe allen politischen Parteien Deutschlands seit dem späten 19. Jahrhundert Skepsis gegenüber einem liberalen Arbeitsmarkt dominierte. Seit dieser Zeit setzten auch alle politischen Systeme auf die Pazifizierung der Arbeiterschaft durch soziale Wohltaten. Dies galt auch für die DDR, denn in der Praxis war hier spätestens 1953 das sowjetische System der Planvorgaben, Brigaden, Normen und Kampagnen gescheitert. Zwar gab es keine Tarifpartner mit juristisch abgesicherten Verhandlungsrechten, dafür aber ein arbeitnehmerfreundliches Arbeitsrecht. Faktisch verfügten zudem die Betriebe gegenüber den Planbehörden und die Belegschaften gegenüber den Betriebsleitungen über beträchtliche Verhandlungsmacht. Nur so lässt sich das Paradoxon erklären, dass der ansonsten allmächtige Staat DDR gegenüber seinen Werktätigen geradezu ohnmächtig war. „Im Ergebnis entstand eine Art Patt-Situation aus formaler Leistungslohnpolitik und faktischer Orientierung an den betrieblichen und an den Bedürfnissen der Arbeiterschaft, die so lange anhielt, so lange zusätzliche Konsumchancen als effektive Anreize funktionierten.“ (S. 86)

Auch Gerold Ambrosius geht es in seinem Beitrag nicht um die schon häufig dargestellte „zwangsläufige Schwäche“ der DDR-Wirtschaftsordnung, sondern um deren Historisierung. Auf diese Weise stellt er eine ganze Reihe von bemerkenswerten Gemeinsamkeiten und Unterschieden der die neuere deutsche Geschichte prägenden Wirtschaftsordnungen sowie bei einem Vergleich zwischen BRD und DDR Perioden der Konvergenz und Divergenz fest. So mussten in Deutschland seit dem Kaiserreich alle politischen Systeme ihre Legitimation in außergewöhnlich hohem Maße aus wirtschaftlichem Wachstum beziehen. Alle deutschen Wirtschaftsordnungen waren durch eine starke Verrechtlichung geprägt. Erst das sich abzeichnende Ende der Industriewirtschaft hat etwa ab 1980 dazu geführt, dass im Westen Staatseigentum abgebaut, gemeinwirtschaftliche Umverteilung reduziert sowie Ideen von gesamtwirtschaftlicher Steuerung und die Planung bzw. Regulierung einzelner Wirtschaftssektoren zurückgedrängt wurden.

Raymond G. Stokes argumentiert, dass die DDR in der Technikgeschichte keine Fußnote darstellt, da sie ein geradezu ideales Studienobjekt für die Wirksamkeit von innovationsfördernden und -behindernden Faktoren, von der Persistenz nationaler technischer Kultur einerseits und der Reichweite der Sowjetisierung andererseits ist. Manfred G. Schmidt liefert einen gelungenen Überblick über die verschiedenen Bereiche der Sozialpolitik und vergleicht die DDR mit anderen Wohlfahrtsstaatsmodellen. Die wichtigste Besonderheit der DDR-Sozialpolitik lag danach in ihrem intensiven Eingriff in die Produktionssphäre. In Bezug auf die oben geführte Diskussion ist es interessant, dass Schmidt den Sieg des Sozialschutzes im Zielkonflikt mit der Wirtschaftskraft nicht auf das Gesellschaftssystem, sondern auf politische Faktoren zurückführt.

Das Buch enthält im Anhang eine Zeittafel zur DDR-Wirtschaftsgeschichte (S. 145-186). Es wird vor allem wegen der durchweg theoretisch-anspruchsvollen, gleichwohl verständlich formulierten, eher knappen Überblicke über verschiedene Teilbereiche der DDR-Wirtschaft Eingang in die universitäre Lehre finden und auch außerhalb der Hochschulen manche interessierten Leser/innen erreichen. Ein wichtiges Argument gegen das Diktum von der Fußnote wird jedoch in den meisten Beiträgen gar nicht, bei Ambrosius und Plumpe eher beiläufig erwähnt. Schließlich spricht doch die – freilich bislang nur in Teilen untersuchte – Wirkung der Ökonomie und Sozialpolitik der DDR auf die bundesdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft – und zwar vor und nach 1990 – ebenfalls für die Bedeutung des Themas.

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