M. Wellmann: Zwischen Militanz, Verzweiflung und Disziplinierung

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Titel
Zwischen Militanz, Verzweiflung und Disziplinierung. Jugendliche Lebenswelten in Moskau zwischen 1920 und 1930


Autor(en)
Wellmann, Monica
Reihe
Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas 12
Erschienen
Zürich 2005: Pano Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 37,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sandra Dahlke, Universität der Bundeswehr Hamburg

Mit Monica Wellmanns Monografie über Lebenswelten Jugendlicher im Moskau der 1920er- und 1930er-Jahre liegt nun eine weitere Studie vor, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Jugend und Gewalt in Sowjetrußland 1917-1932“ entstanden ist.1 Das Projekt ging von der Beobachtung aus, dass sich in der Sowjetunion der 1920er- und 1930er-Jahre insbesondere junge Menschen durch eine hohe Gewaltbereitschaft auszeichneten. So waren es z.B. überwiegend junge Arbeiter aus der Stadt, die sich bereitwillig an den gewaltsamen Getreiderequirierungskampagnen während der Kollektivierung beteiligten, und es war die Generation der Kommunisten, die als ganz junge Menschen im Bürgerkrieg gekämpft hatte, die in den 1930er-Jahren in die mittleren und höheren Führungspositionen der bolschewistischen Partei und des sowjetischen Staats aufstieg. Diese Beobachtung führte zu der Annahme, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Gewaltbereitschaft junger Menschen und der Etablierung des Stalinismus bestehe. Monica Wellman macht es sich zur Aufgabe, am Beispiel des städtischen Raums Moskau die Fragen zu klären, warum sich gewaltsame Handlungsoptionen gegen Ende der 1920er-Jahre durchsetzen konnten, welche Rolle das Erleben des Bürgerkriegs für das gewalttätige Verhalten junger Menschen spielte und schließlich ob junge Menschen lediglich für die Ziele der durch die Stalinfraktion dominierten Parteiführung instrumentalisiert wurden, oder ob sie als dynamisierender Faktor selbst einen entscheidenden Anteil an der Gewalttätigkeit des Stalinismus hatten.

Die Studie orientiert sich an dem Konzept der Lebenswelt, das „die gegenseitige Beeinflussung (...) zwischen den Verhaltensweisen der Menschen, politischen Maßnahmen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Blick nimmt.“ So sollen durch die Analyse von konkreten Fallbeispielen, die „Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Vorgaben und deren Aneignung durch die Jugendlichen“ untersucht und dabei zwischen den Deutungsmustern der Erwachsenen und der Perspektive der Jugendlichen unterschieden werden (S. 16). Das Konzept der Lebenswelt wird jedoch nicht ausreichend präzisiert. Es wird weder genau definiert, aus welchen Bestandteilen sich die Lebenswelt konstituiert, noch eindeutig zwischen Handlungs- und Diskursebene unterschieden. Obwohl Wellmann Jugend als ideologisches und soziales Konstrukt begreift, merkt sie ausdrücklich an, keine Diskursanalyse betreiben zu wollen. Stattdessen legt sie ihren Ausführungen aus pragmatischen Gründen eine formale Definition von Jugend zugrunde und beschränkt sich auf die Altersgruppe der 14- bis 23-jährigen. Sie konzentriert sich überwiegend auf junge Arbeiter und ausschließlich auf die Orientierungs- bzw. Reibungsflächen Komsomol und Partei. Die Familie, die einen wichtigen Bestandteil der Lebenswelt vieler Jugendlicher darstellte 2, wird nicht berücksichtigt. Diese Beschränkung erscheint im Hinblick auf die Konzentration der Studie auf den angenommenen Zusammenhang zwischen Jugendgewalt und Stalinismus berechtigt, hätte aber explizit gemacht werden müssen. Auch in Bezug auf den Gewaltbegriff hätte einleitend deutlicher zwischen Handlungs- und Diskursebene differenziert werden müssen. Einerseits möchte sich Monica Wellmann auf die Analyse der in den Quellen am besten zu fassenden physischen Gewaltakte konzentrieren, aber auch „Formen psychischer und struktureller Gewalt“ einbeziehen (S. 23). Andererseits vertritt sie einen soziologischen Gewaltbegriff, der von einem „‚Doppelcharakter von Gewalt’ als ‚diskursiver Konstruktion und sozialer Praxis’“ ausgeht (S. 28).

Im ersten Teil der Arbeit werden die in der Partei und im Komsomol geführten Debatten über „kommunistische Ethik“ und die „klassengemäße Erziehung“ der kommunistischen Jugend dargestellt und die zeitgenössischen Diskussionen über die „revolutionäre Gesetzlichkeit“ sowie die Rechtspraxis gegenüber jugendlichen Straftätern analysiert. Dabei wird deutlich, dass die Parteiführung selbst eine sehr ambivalente Politik verfolgte und unterschiedliche Parteiführer unterschiedliche Positionen vertraten. Den jungen Menschen wurden so keine eindeutigen Verhaltensregeln an die Hand gegeben. Die Bewertung von Gewalt war höchst uneindeutig: Auf der einen Seite wurde revolutionäre Gewalt legitimiert, „leidenschaftlicher Haß gegen unseren Klassengegner“ propagiert und das Gebot „Du sollst nicht töten“ in seiner Grundsätzlichkeit außer Kraft gesetzt. Auf der anderen Seite wurden zivile Umgangsformen und die Verbindlichkeit rechtlicher Normen eingefordert. Ebenso uneindeutig war die Rechtspraxis. Obwohl die Gerichte die „revolutionäre Gesetzlichkeit“ auch gegenüber „klassenfremden Elementen“ gewährleisten sollten, gab es nach wie vor klassendiskriminierende Grundsätze im Strafgesetzbuch, die bei gewalttätigen jungen Arbeitern häufig strafmildernd zur Anwendung gebracht wurden.

Monica Wellmann macht deutlich, dass die Jugendlichen widersprüchlichen Diskursen ausgesetzt waren und ihnen ein hohes Maß an Eigenverantwortung in der Beurteilung der Legitimität von Gewalt zugemutet wurde. Am Beispiel der Analyse von in Gerichtsprotokollen überlieferten Verteidigungsstrategien junger Gewalttäter kann sie zeigen, dass die offiziellen Klassenkampfparolen und die damit verbundene Abqualifizierung „klassenfremder Elemente“ gewalthaftes Handeln der Jugendlichen aus deren Sicht legitimierten und möglicherweise provozierten. Die Jugendlichen hätten häufig die Unterscheidung zwischen ihren persönlichen Interessen und den abstrakten Interessen der Arbeiterklasse nicht treffen können oder wollen. Insgesamt konstatiert Monica Wellmann ein hohes Maß an Militanz und Gewaltbereitschaft unter Arbeiterjugendlichen; so sei im Komsomol die Legitimität von Klassenjustiz selbst im Falle der Erschießung Unschuldiger als Vergeltungsmaßnahme nicht in Frage gestellt worden.

Im zweiten Teil ihrer Studie untersucht Monica Wellmann die Probleme von Komsomol und Partei bei der Integration von Jugendlichen am Beispiel devianten Verhaltens, des so genannten chuliganstvo, von jungen Selbstmördern und der Situation von integrationswilligen Kindern „sozial fremder Elemente“. Dabei versucht sie, die Deutungsmuster der Erwachsenen über die Jugend und das Verhalten bzw. die Perspektive der Jugendlichen aufeinander zu beziehen. Sie macht deutlich, dass die Jugendlichen häufig mit Unverständnis auf Maßregelungen von oben reagierten, da zwischen der Führung von Partei und Komsomol und den Jugendlichen unterschiedliche Vorstellungen darüber herrschten, was erlaubt war und was nicht. Die Studie zeigt überzeugend, dass sich die im Komsomol organisierten Jugendlichen in ihrem Verhaltenskodex weder wesentlich von den nicht-organisierten Arbeiterjugendlichen noch von den chuligany-Banden unterschieden.

In all diesen Gruppierungen hätten die für die Arbeiterkultur und die Kultur des russischen Dorfs typischen traditionellen gewalttätigen Mechanismen der Integration und der Ausgrenzung vorgeherrscht, die der Abschottung nach außen gegen alles Fremde und der Verstärkung des inneren Zusammenhalts der Gruppe dienten. Für die Jugendlichen sei es vor allem um die Zugehörigkeit zu „anerkannten Verteidigungs- und Angriffsgemeinschaften“ gegangen (S. 212ff.). Diese traditionellen Ausgrenzungsmechanismen seien durch die klassendiskriminierenden Diskurse der Parteiführer noch befördert worden, allerdings mit ambivalenten Folgen, da sich die Jugendlichen durch die revolutionäre Umkehrung traditioneller Hierarchiebezüge häufig gegen Vorgesetzte in der Fabrik und im Komsomol sowie gegen staatliche Instanzen richteten. Wellmann kann zeigen, dass sich die Klassenkategorien zwar nicht, wie bolschewistische Theoretiker vorgaben, zur Analyse der Konflikte in der Fabrik und auf dem Land eigneten, dafür aber traditionelle Ausgrenzungsmechanismen perpetuierten, die diese Theoretiker ja eigentlich hatten eindämmen wollen. So deutet Wellmann den sich verschärfenden Diskurs über chuliganstvo in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre als Ausdruck der Befürchtungen in der Partei und im Komsomol, dass sich die Arbeiterjugend ihrem Zugriff entziehen könnte.
Im Hinblick auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Gewaltbereitschaft junger Menschen und der Etablierung des Stalinismus kommt Wellmann zu einer ambivalenten Bewertung: Zwar habe die Parteiführung mit ihrer klassendiskriminierenden Politik insbesondere gegen Ende der 1920er-Jahre den radikalen Bedürfnissen der Jugend nachgegeben, tatsächlich seien die Jugendlichen aber Spielball der Politik gewesen und hätten aus ihrer schwierigen Lebenssituation heraus auf die Vorgaben von oben reagiert, die sie in ihre traditionellen Verhaltensformen integrierten. Hier drängt sich der Rezensentin die Frage auf, ob nicht Stalin und einige seiner hochrangigen Anhänger wie z.B. Kaganowitsch und Ordschonikidse mit einem ganz ähnlichen Verhaltenskodex sozialisiert worden sind, der sich bis in die höchsten Ebenen der Partei fortsetzte.3

In einigen Teilen der Arbeit, insbesondere aber im Kapitel über Selbstmord, neigt Wellmann zu einer zu einfühlenden, essentialistischen und zu wenig methodisch reflektierten Betrachtung der jugendlichen Befindlichkeiten. Diese versucht sie gelegentlich aus Quellen herzuleiten, die darüber keine Auskunft geben, da sie dem didaktischen Diskurs der erwachsenen Bolschewisten angehören, so z. B. aus den Äußerungen der Bolschewistin Sofija Smidowitsch über den Selbstmord einer Komsomolzin. Insbesondere die sich sehr häufig wiederholenden Formulierungen wie „die Jugendlichen hatten das Gefühl“, „der Jugendliche XY fühlte sich“ scheinen oft nicht aus den analysierten Selbstzeugnissen bzw. dem zeitgenössischen Diskurs generiert, sondern durch eine psychologisierende Interpretation präjudiziert. Der gelegentliche Mangel an analytischer Schärfe wird jedoch durch die an vielen Stellen quellennahe und dichte Darstellung aufgewogen. Besonders lesenswert sind die Teile der Arbeit, in denen Wellmann konkrete Konflikte dicht beschreibt und aufgrund dessen eine genaue Analyse der Interaktionsmuster vornimmt.

Anmerkungen:
1 Bisher im Rahmen des Projekts erschienen: Kuhr-Korolev, Corinna; Plaggenborg, Stefan; Wellmann, Monica (Hrsg.), Sowjetjugend 1917-1941. Generation zwischen Revolution und Resignation, Essen 2001; Tschudi, Daniela, Auf Biegen und Brechen. Sieben Fallstudien zur Gewalt im Leben junger Menschen im Gouvernement Smolensk 1917-1926, Zürich 2004; Kuhr-Korolev, Corinna, Gezähmte Helden. Die Formierung der Sowjetjugend 1917-1932, Essen 2005.
2 Obertreis, Julia, „Ehemalige“, „Spießbürger“ und Aktivisten – Lebensstile und Konflikte in Leningrader Kommunalwohnungen in den 1920er Jahren, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 2 (2001).
3 Suny, Ronald Grigor, Beyond Psychohistory: The Young Stalin in Georgia, in: Slavic Review 50 (1991), S. 48-58; Baberowski, Jörg, Zivilisation der Gewalt. Die kulturellen Ursprünge des Stalinismus, in: Historische Zeitschrift 281 (2005), S. 59-102.

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