N. Geske: Nikias und das Volk von Athen

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Titel
Nikias und das Volk von Athen im Archidamischen Krieg.


Autor(en)
Geske, Norbert
Reihe
Historia Einzelschriften 186
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Schubert, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Die in der Reihe Historia-Einzelschriften erschienene Untersuchung von Norbert Geske zu Nikias und dem Volk von Athen im Archidamischen Krieg beruht auf seiner an der Philosophischen Fakultät der Westfälischen-Universität Münster 2003 eingereichten Dissertation. Der Autor behandelt auf rund 170 Seiten das Nikiasbild sowohl in den antiken Quellen, vor allem bei Thukydides und Plutarch, als auch in der modernen Forschung und kontrastiert dies mit seiner eigenen Einschätzung über den Staatsmann. Die größtenteils negative Beurteilung des Nikias in den antiken Quellen und der Sekundärliteratur lässt sich nach Ansicht Geskes darauf zurückführen, dass der Feldherr und Politiker von dem gescheiterten, nach ihm benannten Frieden, seiner persönlichen Niederlage in der Sizilischen Expedition (415-413 v. Chr.) und seinen letzten Lebensjahren her beurteilt wird. Geske dagegen versucht ein alternatives Nikiasbild zu entwickeln, das sich bei der Charakterisierung der Persönlichkeit und der Leistungen des Staatsmannes an seinen Aktionen und Verdiensten während des Archidamischen Krieges (431-421 v. Chr.) und beim Abschluss des Nikiasfriedens im Jahre 421 v. Chr. orientiert. Dagegen lehnt er es ab, aus den Ereignissen der Sizilischen Expedition "ein abgeschlossenes Persönlichkeitsbild des Nikias zu formen und es dann auf die vorliegenden Jahre insbesondere des Archidamischen Krieges zu übertragen" (S. 12).

Geske entfaltet im Folgenden eine ausführliche und sorgfältig aufbreitete Studie der militärischen Operationen des Nikias, des Verhältnisses zur athenischen Bevölkerung und der Ausbildung seines Prestiges in der ersten Phase des Peloponnesischen Krieges. Entgegen eines anders lautenden Berichts Plutarchs (Nik. 2,2) geht Geske davon aus, dass Nikias zum Zeitpunkt von Perikles' Tod trotz seines fortgeschrittenen Alters – er war ungefähr Mitte 40 – am Beginn seiner Karriere stand und seine ersten strategischen Erfahrungen erst bei der Eroberung von Minoa (427/26 v. Chr.) sammelte. Die erfolgreiche Minoa-Expedition verhalf Nikias nicht nur zu einem schnellen Popularitätsgewinn und der Wiederwahl im Strategenamt, sondern riss Athen auch aus seiner passiven Kriegshaltung, die seit Perikles' Tod und dem Ausbruch der Seuche in der Stadt herrschte.

Bei den militärischen Operationen des Jahres 426 auf der Insel Melos, in Boiotien und an der Küste des opuntischen Lokris setzte Nikias auf eine Taktik der Macht- und Stärkedemonstration. Durch das Mitführen zahlreicher Schiffe bzw. Hopliten und die Verwüstung des umliegenden Landes sollte der psychologische Druck auf den Gegner erhöht werden, die unbedingte Einnahme der jeweiligen Gebiete war jedoch nicht vorgesehen. Deshalb ist für Geske aus den Quellen nicht zu schließen, die Expeditionen seien ein Fehlschlag gewesen und Nikias habe als Feldherr versagt, sondern ganz im Gegenteil habe Nikias alle athenischen Erwartungen erfüllt. Seine Erfolge dürften ihm "einen großen Popularitätsgewinn gebracht haben und zu der Entwicklung seines Rufes als guter Stratege entscheidend beigetragen haben" (S. 60). Der Vergleich mit den Leistungen anderer Strategen wie Demosthenes und Phythodoros verdeutlicht, "daß Nikias eindeutig als erfolgreichster Feldherr in dem Zeitraum vor der Pylosdebatte gelten kann" (S. 71). Er suchte sich bewusst Operationen mit einem für die athenische Bevölkerung hohen emotionalen Stellenwert aus und schaffte die Gratwanderung zwischen der von ihm erwarteten Aggressivität einerseits und der Rücksichtnahme auf die personellen und finanziellen Ressourcen der Polis andererseits.

Einen zentralen Punkt in Geskes Buch nehmen die Ereignisse und Diskussionen um die Lage der athenischen Truppen in Pylos im Sommer 425 v. Chr. ein. Plutarchs (Nik. 7-8) Darstellung der Debatten rund um die Pylos-Affäre, in der er Nikias als ein schlechtes, nicht nachahmenswertes Beispiel seinen Lesern vor Augen führt, scheint sich an Thukydides (4,27) anzulehnen. Nach Plutarch "brachte die Pylosaffäre dem Nikias große Verachtung [...], weil er aus Feigheit [...] das Feldherrenamt abtrat" (S. 30). Doch kann Geske überzeugend darlegen, dass Thukydides in seinem Bericht offenbar zwei athenische Volksversammlungen zu einer verschmolz und Nikias nicht zum Leiter eines Verstärkungsheeres für Pylos gewählt wurde. Während die Pylos-Debatte häufig als ein Paradebeispiel für die unterschiedliche Kriegspolitik von Nikias und Kleon – Nikias als Kämpfer für den Frieden und Kleon als Kriegshetzer – gesehen wird, weist Geske darauf hin, dass es zwischen diesen beiden keinen grundsätzlichen Dissens über den Fortgang des Krieges gegeben habe. Eher musste Kleon die militärischen Erfolge des Nikias und die damit einhergehende Beliebtheit des Feldherrn als Konkurrenz empfinden. Während Kleon mit Hilfe der Demagogie andere zu Aktionen drängte, selber aber nicht eingriff – von Geske als emotionaler Theoretiker des Krieges (S. 87) beschrieben –, profilierte sich Nikias "als profunder Kenner des Kriegshandwerks" (ebd.) und drohte Kleon in der Gunst des Volkes zu überflügeln. Im Unterschied zu Plutarch (Nik. 8,2) will Geske in dem unerwarteten Erfolg des Kleon vor Sphakteria keinen Ansehensverlust für Nikias erkennen. Kleon konnte seine Popularität durch seine militärische Leistung zwar enorm steigern, unmittelbar geschadet habe dies Nikias jedoch nicht.

Nikias' positives Image in der athenischen Öffentlichkeit beruhte aber nicht allein auf seinen militärischen Erfolgen, sondern auch auf einer aktiv betriebenen individuellen Selbstdarstellung. Zum einen propagierte er, dass bei militärischen Entscheidungen die Emotionen auszuschalten seien und allein der ungetrübte Verstand Entscheidungen zu fällen habe, um durch sorgsame Planung, Vorbereitung und Durchführung eines Kriegszuges alle zufallsbedingten Gefahren auszuschalten. Da für diese vernunftmäßige Leistung Reife und Erfahrung eine unerlässliche Vorraussetzung war, konnte sich Nikias wegen seines fortgeschrittenen Alters gegenüber den anderen Strategen profilieren. Zum anderen spielte die Religion eine entscheidende Rolle in seiner Selbstdarstellung. Nikias war allgemein für seine Frömmigkeit bekannt. So übernahm er 426/25 v. Chr. die Leitung der neu eingerichteten Delia. Mit seiner umsichtigen und sorgfältigen Planung und dem Wohlwollen der Götter auf seiner Seite bot Nikias nach Geske den Athenern "eine Art ,Rundumschutzpaket’ gegen Niederlagen und eine ,umfassende Garantie’ für Erfolge" (S. 84). "Denn das Volk sah in ihm einen neuen Fachmann für das Kriegswesen [...], der den Krieg aus der Stagnation führen konnte. Andererseits heilte er die psychische Wunde, indem über ihn eine Versöhnung mit den Göttern möglich war" (S. 91). Problematisch ist allerdings, dass sich Geske für die Beschreibung der Selbstdarstellung des Nikias verstärkt auf den Bericht über die Sizilienexpedition im sechsten Buch des Thukydides stützt, aber gerade diese Ereignisse für die Beurteilung der Leistungen des Nikias nicht heranziehen will. Geske sieht Nikias in seiner Selbstdarstellung in erster Linie als Ratgeber und ständigen Warner. Seine Funktion innerhalb der athenischen Gesellschaft beschreibt er als "weise, fürsorgliche Vaterfigur" (S. 76; vgl. S. 155, 177).

Zum Ende seines Buches widmet sich Geske den Entwicklungen, die zum Nikias-Frieden führten. Nach seiner Meinung arbeitete Nikias in allen seinen Unternehmungen darauf hin, Sparta in die Enge zu treiben und es in eine so verzweifelte Situation zu manövrieren, dass sich der Rivale gezwungen sähe, einen für Athen vorteilhaften Frieden zu akzeptieren. Er wollte die Friedensverhandlungen aus einer Position der athenischen Stärke heraus führen, jedoch machten die Misserfolge seiner Mitstrategen in überambitionierten Projekten, die anhaltenden Erfolge des spartanischen Feldherrn Brasidas in Thrakien und die angespannte finanzielle Lage Athens dieses Vorhaben zunichte. Geske weist darauf hin, dass man nach den Rückschlägen des Winters 424/23 v. Chr. den enormen psychischen Druck und die völlige seelische Erschöpfung der athenische Bevölkerung als Motor für die Vertragsverhandlungen nicht unterschätzen sollte. Zudem wäre es schwer gewesen, "einen Zeitpunkt zu finden, an dem die beiden Parteien [...] wieder gleichzeitig ernsthaft zum Frieden bereit waren" (S. 159). Der Abschluss des Friedens wurde in Athen mit großer Erleichterung und Euphorie aufgenommen und zweifellos der Person des Nikias zugeschrieben, "der dadurch in großem Ansehen stand und den Höhepunkt seiner Laufbahn erreicht hatte" (S. 160f.).

Im Allgemeinen gelingt es Geske gut, das Nikiasbild von seiner einseitigen negativen Konnotation zu befreien. Allerdings verfällt er m.E. stellenweise in das andere Extrem, indem er versucht, alle Aktionen und Persönlichkeitsmerkmale des Strategen zu rationalisieren und auf ein höheres Ziel für Athen auszurichten. Er überzeichnet Nikias als einen "Fels in der Brandung" (S. 177) für die Athener und eine "Vaterfigur" (ebd.) für den Staat, die in allen ihren Handlungen stets das Wohl der Polis im Sinn hatte. Sein Lebensweg im Archidamischen Krieg wird durch zahlreiche militärische und politische Erfolge sowie durch das Geschick, selbst aus athenischen Niederlagen oder Zwangslagen für die Polis etwas Positives zu gewinnen, gekennzeichnet. Durch das Ausblenden der Sizilien-Expedition ist dieses Bild jedoch so unvollständig, dass der Gesamteindruck aus der Darstellung Geskes unstimmig wird. So führt die Behandlung des Nikias im Archidamischen Krieg genauso zu einem einseitigen Urteil über seine Leistung und Persönlichkeit wie die von Geske abgelehnte Perspektive von der Sizilischen Katastrophe her.

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