W. Eckart (Hrsg.): Man, Medicine and the State

Cover
Titel
Man, Medicine, and the State. The Human Body as an Object of Government Sponsored Medical Research in the 20th Century


Autor(en)
Eckart, Wolfgang U.
Reihe
Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft Band 2
Erschienen
Stuttgart 2006: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
297 S.; 4 Abb.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Hau, Australien School of Historical Studies, Monash University

Der von Wolfgang Eckart herausgegebene Sammelband verfolgt zwei Ziele. Zum einen dient er der Dokumentation von medizinhistorischen Forschungsergebnissen der Arbeitsgruppe zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) von 1920 bis 1970, die zur Zeit 18 Forschungsprojekte an verschiedenen deutschen Universitäten umfasst. Das Forschungsvorhaben analysiert – ähnlich wie das nun abgeschlossene von der Max-Planck-Gesellschaft finanzierte Projekt zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus – die Rolle von Wissenschaftlern, Wissenschaft und Wissenschaftsförderung im Nationalsozialismus.

Um das Spezifische der Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus herauszuarbeiten, wurde der Untersuchungszeitraum für die Projekte nicht auf die Nazizeit beschränkt, sondern schließt die Jahre der Weimarer Republik und der Bundesrepublik bis in die 1970er-Jahre mit ein. Zum anderen stellt der Band die Forschungsergebnisse in einen erweiterten internationalen Kontext staatlich geförderter medizinischer Forschung im 20. Jahrhundert. Die Aufsatzsammlung präsentiert deshalb nicht nur Arbeiten zur engeren Geschichte DFG-finanzierter medizinischer Forschung im 20. Jahrhundert. Sie enthält auch einige Beiträge zu ähnlich gelagerten Forschungsvorhaben in anderen Ländern, wobei die meisten der Beiträge sich mit staatlich geförderten Humanexperimenten auseinander setzen.

Die Aufsatzsammlung beginnt mit einem Beitrag von Christian Bonah zu Impfexperimenten in der französischen Armee zwischen den Jahren 1916 und 1933. Anhand von Experimenten mit Typhus-, Peumonie- und Tuberkuloseimpfungen an Soldaten französischer Kolonialtruppen zeigt Bonah, dass sich nur dann nennenswerter Widerspruch gegen derartige Versuche entwickelte, wenn das Verteidigungsministerium oder die Armeeführung negative Publizität befürchten mussten. Das Militär überwachte derartige Versuche deshalb weniger wegen der Sorge um das Wohlergehen Einzelner, sondern im Hinblick auf seine gesellschaftliche Reputation.

Der Beitrag von Wolfgang Eckart und Andreas Reuland beschäftigt sich mit dem Weimarer Sozialhygieniker und sozialdemokratischen Politiker Julius Moses, der sich vor 1933 erfolgreich für effektiveren Patientenschutz bei medizinischen Experimenten einsetzte. Die neuen Richtlinien des Reichsinnenministeriums von 1931 für Humanexperimente und neue Therapien waren nicht zuletzt auch sein Verdienst. Die verbindlichen Vorschriften verlangten den Vorrang des Tierexperiments vor dem Humanexperiment, die Zustimmung der Patienten für Experimente und neue Therapien, den besonderen Schutz von Kindern und Minderjährigen sowie ein Verbot von Experimenten an Sterbenden.

Die folgenden beiden Aufsätze beschäftigen sich mit Aspekten der Leistungsmedizin im Nationalsozialismus: Alexander Neumann stellt erste Ergebnisse seiner Forschung zur Ernährungsphysiologie im Dritten Reich vor, während Peter Steinkamp über Experimente und Missbrauch des Metamphetamins Pervitin in der Wehrmacht berichtet. Im Anschluss daran untersucht Volker Roelcke die Zusammenhänge zwischen Forschungsförderung und nationalsozialistischer Rassenpolitik am Beispiel der psychiatrischen Genetik. Da der Rassenhygieniker Ernst Rüdin die wichtigsten institutionellen und professionellen Schlüsselpositionen in der deutschen Psychiatrie der Nazizeit besetzte, konnte er, so Roelcke, die Entwicklung der psychiatrischen Genetik über die Kontrolle von „career resources“ entscheidend beeinflussen. Die Hinwendung junger Wissenschaftler zur psychiatrischen Genetik und Rassenhygiene war so das Resultat gezielter Anreize für Forscher, die sich bessere Karrierechancen in einem expandierenden anwendungsbezogenen Forschungsfeld erhofften.

Anne Cottebrune untersucht Nachkriegsdebatten über die zukünftige Ausrichtung der Humangenetik in der Bundesrepublik. Die Tatsache, dass sich in Deutschland im Vergleich mit den USA erst relativ spät molekularbiologische Ansätze in der Humangenetik durchsetzten, erklärt sie nicht so sehr mit der Diskreditierung des Fachs im Nationalsozialismus und der internationalen Isolierung der deutschen Genetik, sondern mit der Kontinuität von Forschungstraditionen, die die Selbstisolation begünstigten. Im Anschluss gibt Karl-Heinz Roth einen Überblick über die luftfahrtmedizinische Forschung in Deutschland von 1925 bis 1975. Er kommt zu dem Fazit, dass während des Nationalsozialismus die DFG keinen entscheidenden Einfluss auf die luftfahrtmedizinische Forschung ausüben konnte, da sich die Forscher auf eigene Unterstützungsnetzwerke an Universitäten, Forschungsinstituten und im Reichsluftfahrtministerium stützen konnten. Die finanzielle Unterstützung der DFG für luftfahrtmedizinische Forschung schätzt er dennoch für signifikant ein.

Die folgenden drei Beiträge beschäftigen sich mit Menschenversuchen an Häftlingen und/oder Kriegsgefangenen. Florian Schmaltz untersucht tödliche Experimente mit chemischen Kampfstoffen an Häftlingen des Konzentrationslagers Natzweiler. Er zeigt, wie der Hauptverantwortliche Otto Bickenbach von der medizinischen Fakultät der Reichsuniversität Straßburg in ein institutionelles und personelles Netzwerk eingebunden war, dass das SS-Ahnenerbe, den Reichsforschungsrat und das Kaiser-Wilhelm-Institut für medizinische Forschung mit einschloss. Anschließend fassen Wolfgang Eckart und Hans Vondra noch einmal die wichtigsten Sachverhalte der Hypothermieexperimente im Konzentrationslager Dachau zusammen. In einem Kapitel über „Barbaric Research“ beschreibt Till Bärnighausen japanische Menschenversuche im besetzten China und erörtert die ethischen Implikationen der Nutzung von Daten, die auf unethischen Forschungen beruhen.

Drei weitere Aufsätze beschäftigen sich wieder mit der NS-Medizin. Gabriele Moser schildert den Aufstieg von Kurt Blome zum Stellvertreter des „Reichsgesundheitsführers“ und „Reichsbevollmächtigten für Krebsforschung“, während Marion Hulverscheidt DFG-finanzierte Malariaexperimente untersucht. Basierend auf der Forschung der letzten zwanzig Jahre versucht Paul Weindling das Ausmaß der Menschenversuche im Nationalsozialismus zu rekonstruieren, bevor er sich der Opferperspektive zuwendet und die mangelnde Entschädigung überlebender Opfer zur Sprache bringt.

Den Abschluss des Bands bilden Beiträge zu Forschungen in nicht-deutschen Kontexten. James H. Jones fasst die Ergebnisse seiner Arbeiten zu den Tuskegee-Spyhilisexperimenten an Afroamerikanern zusammen. Susan E. Lederer beschreibt, wie in den USA der 1950er-Jahre vor dem Hintergrund eines möglichen Atomkriegs Verbrennungsexperimente mit Wissenschaftlern, Studenten und ,freiwilligen‘ Gefängnisinsassen durchgeführt wurden. Ein Artikel von David T. Rothmann berichtet über Aids und Arzneimitteltests in Ländern der Dritten Welt. Rothmann zeigt, dass die globalisierte Forschung keineswegs zu allgemein verbindlichen ethischen Standards führt. Viele Wissenschaftler und internationale Gesundheitsorganisationen sind offenkundig dazu bereit, unterschiedliche ethische Standards für Experimente in der Ersten und in der Dritten Welt zu akzeptieren.

Trotz einiger wirklich empfehlenswerter Beiträge – als Beispiele seien hier stellvertetend nur die Aufsätze von Bonah und Roelcke genannt – ist der Sammelband insgesamt nicht optimal strukturiert. Die Kriterien für die Auswahl der Themen sind unklar. Einige der Arbeiten, wie die von Neumann und Hulverscheidt, beschränken sich auf die Darstellung vorläufiger Forschungsergebnisse im Rahmen des DFG-Projekts, während andere über abgeschlossene Forschungsprojekte berichten, die mit diesem Projekt nichts zu tun haben (zum Beispiel der an sich lesenswerte Aufsatz von Jones). Zu viele Aufsätze bleiben den Ansätzen einer medizinhistorischen Spartenhistoriografie verhaftet, die breitere gesellschaftliche und wissenschaftspolitische Zusammenhänge ausblendet. Man erfährt zum Beispiel kaum etwas darüber, ob und wie sich Veränderungen in der Präsidentschaft und Organisationsstruktur der DFG auf die medizinische Forschungsförderung auswirkten.

Die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Humanexperimenten in Deutschland und anderen Ländern sind zudem nur ungenügend herausgearbeitet. Es bleibt die Erkenntnis, dass ein tieferes Verständnis der Medizin in der NS-Zeit nicht schon allein dadurch entsteht, dass man einen Sammelband zur Medizin im Nationalsozialismus mit Beiträgen zu ähnlichen Problemen in anderen politischen und nationalen Kontexten anreichert. Dafür wäre ein systematischerer Vergleich notwendig, der die Untersuchung unterschiedlicher institutioneller und politischer Konstellationen verstärkt einbezieht.

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