G. Németh: Kritias und die Dreißig Tyrannen

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Titel
Kritias und die Dreißig Tyrannen. Untersuchungen zur Politik und Prosopographie der Führungselite in Athen 404/403 v. Chr.


Autor(en)
Németh, György
Reihe
Heidelberger althistorische Beiträge und epigraphische Studien 43
Erschienen
Stuttgart 2006: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
203 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Schubert, Historisches Seminar, Universität Leipzig

In seinem 2006 in der Reihe "Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien" (HABES) erschienen Buch fasst György Németh auf rund 160 Seiten die Ergebnisse von über 20 Jahren Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Dreißig Tyrannen und der Hauptakteure der athenischen Innenpolitik am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. zusammen. Mit einer beachtlichen Detailfülle und der Auswertung von zahlreichen literarischen und epigrafischen Quellen zu den Dreißig Tyrannen, den Mitgliedern der 3000, den 300 Hippeis, den verschiedenen Amtsträgern und Anhängern einerseits sowie zu den Verbannten und Opfern der Tyrannen andererseits, untermauert Németh seine vier bereits im Vorwort (S. 9) vorgestellten Thesen: (1.) Die Dreißig bildeten eine Hierarchie von 3000 Hopliten, 300 Hippeis und 30 Tyrannen (100 x 30 + 10 x 30 + 30). Diese Struktur war keine Wiedergabe sozialer Realitäten in Athen, sondern fußte zum einen auf einer numerischen Beschränkung oligarchischer Systeme und zum anderen auf utopistischen Staatsmodellen der Sophisten und des Sokrates-Kreises. (2.) Kritias hat seine politischen Ideen in drei Schritten verwirklicht: zuerst als Poet und Theoretiker, dann durch Unterstützung der Politiker, die seine Vorstellungen am besten in die Tat umsetzen konnten, und schließlich durch seine eigene politische Aktivität in der Zeit der Dreißig. (3.) Die meisten Anhänger der Oligarchie verfügten nur über ein mittelmäßiges Vermögen, weshalb sie eine Oligarchie der Mittelmäßigen gründeten. (4.) Die Opfer der Dreißig waren im allgemeinen reicher als die Tyrannen, deren Verbrechen hauptsächlich von Geldgier und Rache gegenüber den Anführern der Demokratie bestimmt waren.

Mit einer antiken Überlieferung (Lys. 12,76), nach der zehn Mitglieder der Dreißig nach dem Vorschlag des Theramenes ernannt, weitere zehn von den Ephoren berufen und die letzten zehn aus dem Kreis der Anwesenden gewählt wurden, und den Hypothesen der Sekundärliteratur zur Zahl der Tyrannen beginnt Németh seine Betrachtungen zu Struktur, Einheit, Aufbau und Modell hinter dem System der 30 – 300 – 3000. Bevor Németh der Frage nachgeht, warum gerade 3000 Personen das athenische Bürgerrecht erhalten sollten, widmet er sich dem Werdegang des Kritias, dem er letztendlich die Pläne für die Bildung des oligarchischen Regimes zuschreibt. Kritias war einer der Anführer der Dreißig, "aber eher Theoretiker als Realpolitiker. Er schrieb verschiedene Politeiai, in denen er seine konservative, lakonenfreundliche Einstellung deutlich zeigte" (S. 23). Kritias' politische Biografie bis zu seiner Zugehörigkeit zu den Dreißig über die wichtigsten Stufen – die Verhaftung wegen des Hermenfrevels, die wahrscheinliche Mitgliedschaft in den 400, die Anklage des bereits ermordeten Phrynichos wegen Hochverrats, die Rückberufung des Alkibiades und die Verbannung nach Thessalien – nachzeichnend, belegt Németh seine Ansicht, dass Kritias sich in seiner anti-demokratischen und pro-spartanischen Einstellung nie geändert hat und zu keiner Zeit Demokrat war. Ganz im Gegenteil hat Kritias sein oligarchisches Programm konsequent in den erwähnten drei Schritten vom reinen Theoretiker bis zum Mitherrscher im Staat umgesetzt, denn er "wollte ho protos aner werden" (S. 39).

Um seine These einer Hierarchie der 30 – 300 – 3000 zu belegen, beschäftigt sich Németh intensiv mit den 3000, denen allein das athenische Bürgerrecht gewährt wurde. Da die Mitglieder der 3000 zumindest im Prinzip nach dem Hoplitenzensus gewählt wurden, versucht Németh zu ergründen, wie viele Bewohner Attikas grundsätzlich in der Lage gewesen wären, eine Hoplitenrüstung zu stellen und wie viele von ihnen im Heer der Dreißig Tyrannen kämpften. Anhand zahlreicher literarischer und epigrafischer Quellen ermittelt er einen Preis für eine Rüstung Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. zwischen ungefähr 77 und 82 Drachmen, weshalb "Waffen nicht allzu billig" waren, "aber von vielen Athenern gekauft werden" konnten (S. 49). Durch diese und andere Berechnungen gelingt es Németh zu beweisen, dass die 3000 nicht starr nach ihrem Vermögen ausgesucht wurden, ja dass der Anteil der Athener, die generell in der Lage gewesen wären, den Hoplitenzensus zu erfüllen, weit mehr Menschen umfasste, als in die Liste der 3000 eingetragen wurden. Dabei muss man allerdings die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Liste der 3000 nur die Hopliten umfasste, während die Hippeis in einem anderen Verzeichnis eingetragen waren, so dass es unter Umständen 3000 + x Vollbürger zur Zeit der Dreißig gab. Németh vermutet, dass sich die Zahl der athenischen Bürger mit den Pentakosiomedimnoi und Hippeis auf etwa 3400 bis 3600 erhöhte.

Da diese Zahl also nicht direkt der Anzahl der Mitglieder der ausreichend vermögenden Schicht entsprach, muss es andere Gründe für die Festlegung auf 3000 Bürger gegeben haben. Németh bespricht zu dieser Problematik verschiedene in den letzten Jahren in der Forschung vorgestellte Thesen, so etwa folgende Überlegungen: 3000 entspricht genau der Zahl der Anhänger der Oligarchie; 3000 ist die Hälfte von 6000, einer wichtigen Ziffer in der Demokratie; 3000 entspricht einem Zehntel der attischen Bürgerschaft; es gab nur 3000 Athener, die Hoplitendienst leisten konnten u. a. Anschließend legt er durchaus überzeugend seine eigene Erklärung dar: 3000, 300 und 30 sind rein symbolische Zahlen und haben nichts mit der gesellschaftlichen Realität in Athen zu tun. Die Zahl folgte der athenischen Tradition der Tyrannis (Peisistratos besaß eine Leibwache von 300 Mann), der oligarchischen Boule des Isagoras, die 300 Personen zählte, und der Zeit der 400, in der es 30 Syngrapheis gab. Zudem konnte die 3000 als eine ideale Zahl gelten. Mit solchen idealen Zahlen als Vorraussetzung einer utopistischen Staatsform beschäftige sich der Sokrates-Kreis, dem zeitweise auch Kritias angehört hatte. Schließlich konnte das System 30 – 300 – 3000 den Spartanern wie nach heimischen Modell (30 Geronten – 300 Hippeis der Leibwache – geschätzte 3000 Homoioi) geformt erscheinen. Zusätzlich stimmte die Zahl 3000 wohl auch ungefähr mit der Anzahl der athenischen Hopliten überein, die in Attika über Grundbesitz verfügten, obgleich es weitaus mehr Zeugiten (und Hippeis) gab, die den Hoplitenzensus aus anderen Geldmitteln leisten konnten. "Die Tyrannen hätten keine bessere Zahl für ihre Oligarchie wählen können als die 3000" (S. 73).

Der Untersuchung der wirtschaftlichen Lage der Dreißig und ihrer Opfer, die der Begründung von Némeths dritter und vierter These dient, stellt der Autor eine gründliche und ausführliche Prosopografie der gesamten fassbaren athenischen Führungsschicht am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. voran. Die Auswertung ergibt, dass man elf der sechzehn von den Tyrannen Ermordeten, die namentlich bekannt sind, der liturgischen Schicht zuordnen kann. Diese Personen waren also im Durchschnitt reicher als die Tyrannen, allerdings ist "die Dunkelziffer sehr hoch [...], da von rund 1500 Opfern nur die Namen von 16 bekannt sind, also ungefähr 0,1 % der Fälle" (S. 152). Um seine Einschätzung der Vermögensspanne zwischen den Dreißig und ihren Opfern zu festigen, vergleicht Németh zusätzlich die Immobilien der Dreißig und ihrer Anhänger mit den Preisen für Häuser und Grundstücke der Hermokopiden und des Mysterienfrevels von 414 v. Chr. sowie mit weiteren Immobilienwerten des 4. Jahrhunderts v. Chr. Dabei ergibt sich, dass die Preise für die Immobilien der Hermokopiden und des Mysterienfrevels viel höher lagen als die der Tyrannen. Dieses Ergebnis entspricht Némeths Erwartungen, da viele der 414 v. Chr. Verurteilten zu den reichsten Bürgern Athens gehörten, die Dreißig aber, abgesehen von Kritias und Theramenes, der so genannte Mittelschicht entstammten und auch nur über ein mittleres Vermögen verfügten. "Der Wert ihrer Immobilien entsprach vollkommen ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten" (S. 165). Diese Betrachtung führt Németh zu dem Schluss: "Die meisten Anhänger der Oligarchie waren also [...] nicht reich, sie hatten nur ein mittelmäßiges Vermögen. So haben sie eine Oligarchie der Mittelmäßigen gegründet" (S. 166).

Die Menge an literarischen und epigrafischen Quellen, die Németh über die Jahrzehnte gesammelt hat, bereitet er sowohl einzeln wie auch in etlichen Tabellen zusammengestellt auf. Dadurch trägt das Buch zu einem großen Teil den Charakter einer sehr detaillierten Materialsammlung, die durch ihren Aufbau allerdings keinen ununterbrochenen Lesefluss zulässt. Das Quellenmaterial wird immer zuerst vorgestellt und gegebenenfalls mit Zeugnissen vorangegangener oder folgender Jahre verglichen. Erst zum Ende einer jeden Betrachtung schließt Németh die Auswertung der Zeugnisse, die Zusammenfassung der Erkenntnisse und sein eigenes Fazit an. Die große Arbeitsleistung und die Qualität der Materialaufbereitung in diesem Werk sind dabei unbestreitbar.

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