Titel
Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart


Autor(en)
Graf, Friedrich Wilhelm
Reihe
Beck Wissen, Beck'sche Reihe 2108
Erschienen
München 2006: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
127 S.
Preis
€ 7,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Friedrich, Geschäftsstelle der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa - Leuenberger Kirchengemeinschaft, Wien

Gesichertes Wissen und konzentrierte Information auch dem Laien verständlich darzubieten, das ist der Anspruch der erfolgreichen Taschenbuchreihe aus dem Beck-Verlag. Mit dem Münchener Systematiker Graf konnte für diesen Band einer der profiliertesten evangelischen Theologen gewonnen werden, der zudem glänzend zu schreiben versteht. Ihm gelingt es, auf knappstem Raum einen Überblick zu geben über das vielgestaltige Phänomen des neuzeitlichen Protestantismus, der in der Tat allen interessierten Leser/innen empfohlen werden kann.

Es macht die Stärke wie die Problematik des Buchs aus, dass es die ganze Bandbreite des Protestantismus (dessen Erkundung im ersten Kapitel vor allem begriffsgeschichtlich vorangetrieben wird) abdecken will. Im Grunde arbeitet Graf mit zwei Begriffen. Konfessionskundlich sind für ihn alle Gestalten des Christentums protestantisch, die nicht orthodox oder katholisch sind. Zum Protestantismus gehören so Luthertum und Calvinismus sowie die Freikirchen, von denen Baptismus und Methodismus exemplarisch dargestellt werden, aber auch Anglikanismus und Pfingstbewegung. Dass bei den beiden Letzteren die Einordnung problematisch ist, verschweigt Graf nicht, sieht beide aber (wohl zu recht) in der Reformation wie in der evangelikalen Erweckungsbewegung verwurzelt. In zuverlässiger Weise stellt er die sechs Konfessionen mit ihren wichtigsten Hauptzügen dar (S. 31-60). Geschickt ist herausgearbeitet, wie in der Geschichte, oft schon vom Anfang her, die Charakteristika auch der gegenwärtigen Gestalt begründet liegen. Nur beim Anglikanismus hebt Graf ganz auf die aktuelle Situation ab. Das ist schade, denn der historische Zugriff hätte auch hier zur besseren Profilierung beitragen können. Auch das Kapitel zu Mitgliederzahlen und geografischer Verbreitung (S. 20-30) bietet konfessionskundliche Basisinformationen.

Im vierten Kapitel (S. 61-105) geht es unter der charakteristischen Überschrift „Protestantismus und Kultur“ aber eigentlich um einen anderen Protestantismusbegriff. In Anknüpfung an konfessionell-politische Debatten seit dem 18. Jahrhundert fragt Graf nach dem „Wesen des Protestantismus“ und seiner Bedeutung für die moderne Welt. Er sieht sie vorrangig in seiner Tendenz zu Verinnerlichung und Individualisierung, in der Aufhebung des Unterschieds von heilig und profan, aus der Weltfrömmigkeit und Heilsaktivismus resultierten, in der Moralisierung des Politischen und im besonderen Engagement für Bildung. Dabei verschweigt Graf auch problematische Konsequenzen nicht, als Folge des neuen Weltverhältnisses etwa die rigide Triebkontrolle.

Dieses Kapitel ist das spannendste, und doch muss man sich über Einschränkungen klar sein. Erstens hat Graf vor allem die deutsche Situation vor Augen. Weder dem skandinavischen Protestantismus, der sich nicht um Abgrenzung vom Katholizismus zu bemühen hatte, noch dem südost- und mitteleuropäischen, der längst nicht dieselbe enge Verbindung mit der Aufklärung eingegangen war, schenkt er genügend Beachtung. Zwar weist er auch auf die Situation in den USA und in Lateinamerika hin (wo er ein weiteres Wachstum des Protestantismus erwartet), aber zu einer wirklichen Überprüfung seines weitgehend kulturprotestantischen Protestantismusbegriffs bringt ihn das nicht. Zweitens ist Graf ein exzellenter Kenner der Konfessionskontroversen des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts und erschließt aus ihnen in eindrucksvoller Weise die Selbstdeutung des Protestantismus. Aber dabei wird bisweilen nicht deutlich, inwieweit die seinerzeit herausgestellten „Vorzüge“ des Protestantismus auch zur Kennzeichnung von dessen heutiger Situation geeignet sind. Graf betreibt zwar gewiss keine Verklärung, setzt sich aber zu wenig mit der heutigen kirchengeschichtlichen und religionssoziologischen Forschung auseinander.

Eine dritte Engführung wird vor allem aus dem Schlusskapitel zur „Zukunft des Protestantischen“ (S. 106-117) deutlich. Im Anschluss an die Begriffsbestimmung des liberalen Bürgertums ist es der kirchenlose Protestantismus, dem Grafs Sympathie gilt, mit den Worten seines Lehrers Trutz Rendtorff das „Christentum außerhalb der Kirche“. Daher sieht er in den „massiven Klerikalisierungstendenzen“ (S. 109) in den deutschen evangelischen Landeskirchen nur eine Fehlentwicklung. Eine Chance gibt er dem landeskirchlichen Protestantismus nur, wenn er sich auf seine Tradition als Religion der Bildung und der Freiheit besinnt. In den USA und Lateinamerika sind es dagegen gerade die „harten, in Lehre und Lebensführung stark bindenden Protestantismen“ (S. 113), die im Wachstum begriffen sind.

Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa – Leuenberger Kirchengemeinschaft – wird bei Graf nicht erwähnt, obwohl sie erst eine kirchliche Gemeinschaft von Lutheranern/innen, Reformierten und Methodisten/innen hergestellt hat und seit 2001 den Anspruch formuliert, die „protestantische Stimme in Europa“ zur Geltung zu bringen. Ihre Beiträge zur ökumenischen Diskussion und zu den politischen und sozialen Debatten in Europa hätten gewiss auch das Bild des gegenwärtigen Protestantismus profilieren können – und zugleich belegt, dass er auch in seiner kirchlichen Gestalt vital ist.