M. Gierl: Geschichte und Organisation

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Titel
Geschichte und Organisation. Institutionalisierung als Kommunikationsprozess am Beispiel der Wissenschaftsakademien um 1900


Autor(en)
Gierl, Martin
Reihe
Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge 233
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
667 S.
Preis
€ 149,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele B. Clemens, Universität Trier

Studien zur Wissenschaftsgeschichte, Institutionalisierung von Fächern, Organisationen des Wissenschaftsbetriebs und damit unter anderem auch zu Akademien haben in den letzten Jahren Konjunktur. Verwiesen sei hier lediglich auf einen instruktiven Sammelband zum dreihundertjährigen Bestehen der Akademie der Wissenschaften zu Berlin.1 Die vorliegende überarbeitete Habilitationsschrift über eine Akademie und nationale beziehungsweise internationale Zusammenschlüsse von Akademien beschreitet neue methodische Wege gegenüber vorliegenden Studien, die sich meist auf biografische, wissenschafts- und organisationsgeschichtliche Aspekte konzentrieren. Anders als der Titel vielleicht zunächst vermuten lässt, geht es in diesem voluminösen Buch nicht in erster Linie um Fragen der Institutionalisierung oder der Neuorganisation von Akademien zur Zeit der Jahrhundertwende, sondern vielmehr um die zeitgenössischen Diskurse über diese Prozesse. Im Fokus von Gierls detaillierter Untersuchung stehen drei Gegenstände: die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften beziehungsweise ihre Reorganisation zu Beginn der 1890er-Jahre, der 1893 gegründete deutsche Verband wissenschaftlicher Körperschaften (das so genannte Akademikerkartell) sowie das Zustandekommen und die Entwicklung der Internationalen Assoziation der Akademien (IAA) im Jahr 1899. Des Weiteren verfolgt der Autor die Entwicklung dieser Institutionen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Deutlich wird in dieser Studie der enge Zusammenhang, der zwischen der Neuorganisation der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften und der Gründung des Akademikerkartells bestand. Diesem Kartell schlossen sich die Wiener und Münchener Akademie der Wissenschaften, die Leipziger und Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, 1906 die Berliner und schließlich 1911 die Heidelberger Akademie an.

Verglichen etwa mit Frankreich oder Italien entstanden seit dem 18. Jahrhundert in den deutschen Ländern weniger, aber dafür sehr renommierte Akademien. Sie bemühten sich in ihren Reihen wissenschaftlich bedeutende Mitglieder zu versammeln und genossen im 19. Jahrhundert durchweg ein sehr hohes Ansehen; man könnte dieses Jahrhundert auch durchaus als Saeculum der Akademien bezeichnen. Sie waren bestrebt, Eliteinstitute für Fachgelehrte zu bilden. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gerieten die Akademien jedoch, zumindest im Bereich der Naturwissenschaften, unter Druck, weil sie von der rasanten Forschungsentwicklung an den Universitäten und neu gegründeten Forschungsinstituten förmlich „abgehängt“ wurden. Es lastete ein regelrechter Reformdruck auf den Akademien. Gierl beschreibt in diesem Zusammenhang eindrücklich ihre Reaktion, wie sie sich von den publizierenden zu den Wissenschaft organisierenden Institutionen wandelten.

Es geht ihm aber nicht in erster Linie um eine Beschreibung der Ergebnisse dieses Reformprozesses, sondern darum, was über die Reformen von den einzelnen Akteuren kommuniziert wurde. Dabei nutzt er konsequent einen kommunikationsgeschichtlichen Ansatz.2 Der Autor versteht Geschichte als Aggregat der stattgefundenen Kommunikationsereignisse und er fragt nach der sozialen Konstruktion der Gesellschaft. Als Quellen benutzt er die mehr als reichlich überlieferten Denkschriften der Akademiker, ihre Korrespondenz, ihre Nachlässe, Testamente und Personalakten. Er analysiert ihre Narrative und Diskurse. Dass Gierl neben Geschichte auch Soziologie studiert hat, belegen Ansatz und Duktus, aber er grenzt sich nach eigener Aussage dahingehend ab, dass er nicht eine soziologische Theorie anwendet, sondern sich in seinen Fragestellungen von dieser Wissenschaft inspirieren lässt; ihn interessieren in seiner analytischen Kommunikationsgeschichte die Entstehung, Verfestigung, Interdependenz und Umwelt von Institutionen.

Der erste Abschnitt des Buches befasst sich mit Utopien, Gutachten und Projektvorschlägen zu Wissenschaftsorganisationen etwa von Seiten Theodor Mommsens und Gustav Schmollers, wobei hier nicht immer ein thematischer Zusammenhang zu den drei engeren Untersuchungsgegenständen besteht. Im zweiten Abschnitt geht es dann um die Reorganisation der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, wobei Gierl die Pläne, die Diskussionen und die errungenen Ergebnisse vorstellt. Der dritte Abschnitt ist dem Aufbau des nationalen Verbandes wissenschaftlicher Körperschaften gewidmet, beziehungsweise den zeitweilig existierenden Schwierigkeiten und Widerständen gegenüber diesem Vorhaben. So betrieb vor allem die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin lange eine Blockadepolitik. Der vierte über 200 Seiten umfassende Abschnitt analysiert detailliert die Gründung und die Anfangsjahre des IAA. Materialreich wird hier die internationale Entwicklung dargestellt, wobei es wiederum nicht nur um Fragen der Finanzierung und Organisation geht, sondern abermals um Ideen, Utopien, politisches und soziales Handeln. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Autorepräsentation der Protagonisten bei den Generalversammlungen und den in diesem Rahmen stattfindenden Festen, Empfängen und Audienzen, von Gierl zutreffend als inszenierte Geschichte und soziale Liturgie bezeichnet. Abschließend bietet dieser vierte Abschnitt einen Ausblick auf die Reorganisation internationaler Akademikerkooperation nach dem Ersten Weltkrieg.

Eine wie auch immer zu benennende Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse und einen Ausblick bietet der gewiss anregende, materialreiche Band leider nicht. Das mag dem Ort der Endredaktion geschuldet sein: Florenz. Auch in italienischen Geschichtspublikationen sucht man meist vergeblich ein Resümee. Die Kolleg/innen jenseits der Alpen begründen dies mit Verlagsvorgaben und dem Hinweis, man möge doch das ganze Buch lesen. Genau hier liegt aber das Problem der vorliegenden prätentiösen Arbeit. Die Analyse befolgt nicht nur konsequent den gewählten diskurs- und systemtheoretischen Ansatz, sondern bemüht sich auch dies sprachlich entsprechend zu gestalten. Ein wie auch immer geartetes Lesevergnügen bietet diese im Soziologenjargon verfasste Arbeit nicht; zudem sind manche Phrasen unverständlich, kryptisch oder schlichtweg überflüssig.

Anmerkungen:
1 Kocka, Jürgen (Hg.), Die Königlich preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999.
2 Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass eine grundlegende Studie, die sich mit Wissenschaftsgeschichte als Kommunikationsgeschichte und Diskursanalyse – wenn auch in einem anderen Zeitraum – beschäftigt, anscheinend nicht rezipiert wurde, vgl. dazu: Raphael, Lutz, Die Erben von Bloch und Febvre. Annales Geschichtsschreibung und „nouevelle histoire“ in Frankreich 1945-1980, Stuttgart 1994.

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