S. Todt: Kleruskritik, Frömmigkeit und Kommunikation in Worms

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Titel
Kleruskritik, Frömmigkeit und Kommunikation in Worms im Mittelalter und in der Reformationszeit.


Autor(en)
Todt, Sabine
Reihe
Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 103
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
386 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Konersmann, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Sabine Todt hat sich in ihrer 2004 am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Hamburg eingereichten und von Hans-Jürgen Goertz betreuten Dissertation ein anspruchsvolles Ziel gesetzt: Sie möchte die Spezifika der Reformation der Ende des 15. Jahrhunderts als Reichsstadt anerkannten Bischofsstadt Worms aus einer diachronen und synchronen Forschungsperspektive erschließen. Im ersten und zweiten Kapitel rekonstruiert sie anhand zahlreicher Konfliktszenarien zwischen dem Hochmittelalter und dem Ende der 1520er-Jahre die „longue durée“ wechselhafter und konträrer Interessenlagen von Bischof, Klerus und Stadt, die maßgeblich den Reformationsverlauf geprägt hätten (S. 13ff.). Im dritten Kapitel analysiert sie Funktionen von Öffentlichkeit und Kommunikation für die „reformatorischen Durchsetzungsprozesse“ in Worms zwischen 1520 und 1529 mit Hilfe „eines für diesen Untersuchungszweck entwickelten Kommunikationsmodells“ (S. 16), wobei sie sich insbesondere auf die „Spurensuche nach dem Rezipienten“ begibt (S. 233). Ihre Analyse beruht vor allem auf 70 deutschen und 14 lateinischen Flugschriften (S. 263 Anm. 1056, S. 293 Anm. 1201), die sich mehr oder weniger auf Vorgänge in Worms beziehen. Sie bilden das wesentliche Medium des von Todt sogenannten „Wormser Diskurses“. Als inhaltliche Kriterien dieses Diskurses benennt sie Heilsverlangen, Wissensvermittlung und Wahrheitssuche (S. 262, 323). Bei der Rekonstruktion des Rezipientenkreises geht die Autorin allerdings von der methodisch bedenklichen Annahme aus, dass die Rezipienten anhand einer „inhaltlichen und formalen Analyse jeder einzelnen Flugschrift“ (S. 232) annäherungsweise ermittelt werden können, also die aus den Flugschriften erschlossenen Adressaten mit den tatsächlichen Rezipienten gleichgesetzt werden können.

Für ihr anspruchsvolles Vorhaben hat sich die Autorin mit der Bischofs- und Reichsstadt Worms ein günstiges Fallbeispiel gewählt. Denn erstens sind in der älteren und neueren Stadt- und Bistumsgeschichte die religiösen und sozialen Emanzipationsbewegungen während des Hoch- und Spätmittelalters schon weitgehend herausgearbeitet worden. 1 Zweitens liegen mittlerweile einige Aufsätze nicht nur über die zahlreichen religiösen Gruppen und theologischen Reformansätze zu Beginn des 16. Jahrhunderts vor2, sondern auch über die spezifischen Probleme der Konfessionsbildung 3 und über die Strukturen der „Mehrkonfessionalität“ in Worms während der Frühneuzeit.4 Mit der Wahl diachroner und synchroner Forschungsperspektiven für die Rekonstruktion der Vorläufer der Reformation und der Analyse des Reformationsverlaufs und insbesondere dank ihres kommunikationsgeschichtlichen Ansatzes im dritten Kapitel bewegt sich die Autorin auf dem aktuellen Kenntnisstand der interdisziplinär ausgerichteten Reformationsforschung und greift dabei auch neue Fragestellungen auf.5 Das gilt insbesondere für ihr Interesse an religiösen Laien als Rezipienten reformatorischer Anliegen und als Akteure bei der Einführung und Durchsetzung der Reformation. Der Nachweis ihrer Beteiligung am reformatorischen Diskurs in Worms wäre ein entscheidendes Kriterium, um die „Reformation als epochales Ereignis“ (S. 16) und damit als einen Epocheneinschnitt zu bewerten (S. 73f., 189-228).

Die Autorin beantwortet diese Frage vor allem in ihrer Analyse des Kommunikationsprozesses in den 1520er-Jahren positiv, da er den Reformationsverlauf entscheidend geprägt und in drei inhaltlich unterscheidbare Phasen strukturiert habe. Dank der Reformation bzw. des von der Stadtbevölkerung positiv rezipierten ‚Wormser Diskurses‘ vermochte der Stadtrat seinen „Macht- und Einflußbereich“ innerhalb der Stadt zuungunsten des Weltklerus nachhaltig auszuweiten (S. 331), fand die traditionsreiche kleruskritische Protestbewegung der Laien in den reformatorischen Forderungen eine „adäquate Ausdrucksform“ (S. 329), boten die theologischen Inhalte des ‚Wormser Diskurses‘ und die Agenten des neuen „Kommunikationssystems aus Autoren, Druckern, Verlegern und Händlern“ (S. 330) den Laien vielfältige Möglichkeiten, „die Macht des altgläubigen Klerus individuell zu bekämpfen“ (S. 331), und erlaubten verschiedenen Gruppen, allmählich „eigene reformatorische Linien (lutherisch, täuferisch, reformiert, F. K.) auszubilden“ (S. 329). In dieser konfessionellen Vielfalt besteht der Autorin zufolge das wesentliche Spezifikum des ‚Wormser Diskurses‘ (S. 315, 324, 327). Bei ihrer abschließenden Bewertung geraten allerdings nicht nur die Katholiken, die spätestens seit den 1550er-Jahren eine Minderheit von immerhin etwa 20 % darstellten, sondern auch die in Worms mit etwa 15 % stark vertretende jüdische Bevölkerung aus dem Blick.

Die bei der Lektüre zunächst unverständliche Verteilung des Umfangs der drei Kapitel wird erst mit Blick auf die Schlussbetrachtung wirklich nachvollziehbar. So nimmt die Darstellung der Konflikte zwischen Bischof, Klerus und Stadt im mittelalterlichen Worms in den ersten beiden Kapiteln weit mehr als die Hälfte der Untersuchung ein. In allzu umständlicher Weise werden die Kontinuität dieser Konfliktstruktur bis in die Reformationszeit, das fortwährende Streben nach Eigenständigkeit des Wormser Stadtrates und die Dauerhaftigkeit der laikalen Frömmigkeitsbewegung bis in das frühe 16. Jahrhundert hervorgehoben. In dem deutlich kleineren dritten Kapitel über die vom Stadtrat durchgeführten Kirchenreformen und das Auftreten reformatorischer Bewegungen wird hingegen vor allem der Einschnitt betont, der nicht zuletzt auf neue, die Reformation beflügelnde Kommunikationsmodi zurückzuführen sei.

Die Autorin neigt in der Schlussbetrachtung denn auch zu der neuerdings in der Forschung favorisierten „Umbruch-in-der-Kontinuitäts-These“ (S. 330). Soweit mag man ihr noch folgen. Hingegen ist ihre negative Einschätzung des ‚gemeinen Mannes‘ als „Träger der reformatorischen Durchsetzungsprozesse“ (S. 320) gerade im Fall von Worms nicht nachvollziehbar, zumal einige ihrer Befunde im Widerspruch zu diesem Gesamturteil stehen. Denn die Bauernaufstände in unmittelbarer Nachbarschaft von Worms und die offensichtlichen Kontakte hussitischer Prediger zu Bauern im benachbarten Pfeddersheim im 15. Jahrhundert (S. 107, 156f., 167f., 173, 291f.), aber auch die den Stadtrat immer wieder unter Druck setzenden Zünfte (S. 94, 124, 133f., 135-150) und erst recht die überaus rege Täuferbewegung im ländlichen Umfeld und in der Stadt Worms seit den frühen 1520er-Jahren (S. 284f., 298f., 307) können nicht ernsthaft als eine quantité négligeable bewertet werden, zumal dann nicht, wenn man, wie Sabine Todt das tut, der „starken und regen Täuferbewegung“ doch einen wesentlichen Anteil am sogenannten ‚Wormser Diskurs‘ zubilligt (S. 327).

Insgesamt ist die Untersuchung in ihrer Fragestellung und angesichts vieler Einzelbefunde durchaus beachtenswert. Einige konzeptionelle Mängel erschweren jedoch die aufmerksame Lektüre und das Nachvollziehen der Argumentation. Denn die Fragestellung, das ihr zugrunde liegende Konzept und die hierfür relevante Forschung werden in der Einleitung nicht präzise ausgebreitet, sondern in verschiedenen, weit voneinander entfernt liegenden Abschnitten erläutert. Besonders hinderlich für die Lektüre und zumeist wenig zielführend für die Argumentation sind manche vor allem die Belesenheit der Autorin dokumentierenden Einschübe. Dort werden zahlreiche Forschungsfelder und Konzepte z.T. in extenso vorgestellt, deren Relevanz aber für die Fragestellung nicht immer nachvollziehbar ist (z.B. zum Epochenbegriff, S. 69ff., oder zur spätmittelalterlichen Krise, S. 185ff.) und deren systematischer Stellenwert für die Untersuchung z.T. offen bleibt: Dies gilt für Luhmanns Kommunikationsbegriff, S. 75, 204ff., für den Machtbegriff und die Diskursanalyse Foucaults (S. 86, 215f.), für Bourdieus Sozialisations- und Habitusverständnis (S. 257) und schließlich auch für heterogene Begriffe von Öffentlichkeit und entsprechende Konzepte (S. 206, 217ff., 225f.). Der Studie hätte vor ihrer Veröffentlichung eine konsequente Straffung vor allem der ersten Kapitel sicher gut getan, um die Rezeption zu erleichtern.

1 Jürgensmeier, Friedhelm (Hg.), Das Bistum Worms. Von der Römerzeit bis zur Auflösung 1801, Würzburg 1997; Bönnen, Gerold (Hg.), Geschichte der Stadt Worms, Stuttgart 2005.
2 Kammer, Otto, Die Anfänge der Reformation in der Stadt Worms, in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 68 (2001), S. 219-251.
3 Konersmann, Frank, Kirchenregiment, reformatorische Bewegung und Konfessionsbildung in der Bischofs- und Reichsstadt Worms (1480-1619), in: Bönnen (Hg.), Geschichte der Stadt Worms [wie Anm. 1], S. 262-290; ders., Spezifika der Konfessionalisierung in Reichsstädten. Das Beispiel der Reichs- und Bischofsstadt Worms (1552-1620), in: Wormsgau 26 (2007) [im Druck].
4 Reuter, Fritz, Mehrkonfessionalität in der Freien Stadt Worms im 16.- 18. Jahrhundert, in: Kirchgässner, Bernhard; Reuter, Fritz (Hgg.), Städtische Randgruppen und Minderheiten, Sigmaringen 1986, S. 9-48.
5 Mörke, Olaf, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung, München 2005.

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