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Titel
Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961-1989


Autor(en)
Detjen, Marion
Erschienen
München 2005: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
475 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Heitmann, Marburg

Innerdeutsche Fluchthilfe, das heißt die Unterstützung von Menschen bei der Flucht aus der DDR bzw. aus Ost-Berlin in den Westen ist von der Forschung bisher weitgehend nicht beachtet worden. Während Mauerbau und Mauerfall, Grenzregime, Passierschein- und Transitabkommen sowie Flucht und Übersiedlung sich seit 1989 ausführlichen Forschungsinteresses erfreuen, blieb die Fluchthilfe ein Desiderat. Dies mag daran liegen, dass das Thema quellenmäßig schwer zu fassen ist und es eine kaum überschaubare Vielzahl von mehr oder weniger Beteiligten gibt, so unter anderem die Fluchtwilligen und ihre Fluchthelfer/innen (die kaum schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben), die (West-)Alliierten, die Öffentlichkeit in Westdeutschland, die Medien und deren unterschiedliche Interessen, die Regierungen in Bonn sowie West- und Ost-Berlin und schließlich deren Geheimdienste, die nicht nur konspirativ, sondern auch desinformativ gewirkt haben.

Marion Detjens Studie schafft einen Einblick in diese verwobene Geschichte. Sie stützt sich dabei überwiegend auf Quellen aus der Provenienz der DDR-Staatssicherheit, der Bundesregierung (vor allem des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen und innerdeutsche Beziehungen) sowie auf von Detjen selbst gefertigte bzw. bereits in den 1960er Jahren entstandene und bisher unveröffentlichte Zeitzeugeninterviews.

Doch bevor sie eine Fülle akribisch recherchierter und bisher oftmals nicht bekannter Fälle von Fluchthilfe schildert, widmet sie sich einleitend zwei übergeordneten Fragestellungen, die für die Interpretation und Bewertung der Fluchthilfe in einem größeren Zusammenhang von Bedeutung sind, nämlich den Kategorien „Nation“ und „Widerstand“. Das Besondere der innerdeutschen Fluchthilfe, im Unterschied z.B. zur Fluchthilfe für Menschen während des Nationalsozialismus in ein Land außerhalb des deutschen Herrschaftsgebietes oder aktuell die Einschleusung von Ausländern nach Deutschland von außerhalb, war eben der Umstand, dass aus der DDR Deutsche nach Deutschland flüchteten. Dies war nur möglich, weil das Grundgesetz der Bundesrepublik an dem Konstrukt der Staatsbürgernation festhielt, wonach jeder DDR-Bürger einen verbindlichen Anspruch auf die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik hatte, also während der Zeit des Aufenthaltes in der DDR nur an der Ausübung seines Bürgerrechts auf Freizügigkeit innerhalb Deutschlands gehindert wurde. Der Fluchthelfer verhalf dem DDR-Bürger bei der Verwirklichung dieses Rechts und konnte somit (eigentlich) in der Bundesrepublik weder justiziell inkriminiert noch politisch diskriminiert werden, sondern hätte im Gegenteil sogar staatlich unterstützt werden können (wie es in der Anfangszeit auch tatsächlich geschehen ist). Dies lenkt den Blick zum Begriff des Widerstands, den Detjen als zweite übergeordnete Kategorie einführt. Denn indem die Fluchthilfe die Grenzen der DDR überwinden half, richtete sie sich zugleich gegen die diktatorische Herrschaft der SED über die Menschen in der DDR, welche ganz wesentlich auf Mauer und Stacheldraht fußte. Somit konnte Fluchthilfe also zugleich als Widerstand gegen das SED-Regime gelten. Nun kann aber schwerlich jedes Zuwiderhandeln gegen Herrschaftsansprüche als Widerstand klassifiziert werden; vielmehr ist dem Widerstandsbegriff insbesondere eine politische oder moralische Legitimation immanent. Genau diese aber wurde Flüchtlingen sowie Fluchthelfer/innen in der Bundesrepublik zunehmend abgesprochen, und es überwog das Bild von den „Wirtschaftsflüchtligen“, wie Detjen in einer kurzen Skizze der Massenfluchtbewegung aus der SBZ/DDR in den Jahren 1945 bis 1961 sowie des Umgangs mit den Flüchtlingen in Westdeutschland eingangs beschreibt.

Nach dem Mauerbau kam es in Westdeutschland zu einer Solidarisierung mit den Flüchtlingen aus der DDR und es begann – in Detjens Chronologisierung von 1961 bis 1963/64 – die „Zeit der Helden“. In diese Zeit fällt einerseits eine Vielzahl von spontanen Fluchten unter Hilfe von beherzten, einander unbekannten Menschen innerhalb der geteilten Stadt Berlin. Andererseits professionalisierte sich die Fluchthilfe alsbald, und es entstand in West-Berlin eine Vielzahl vor allem studentischer, idealistisch motivierter Gruppen, die mit erstaunlich viel Elan und Kreativität aktive Fluchthilfe leisteten. Detjens detail- und kenntnisreiche Schilderung dieser vielfältigen Unternehmungen lässt dem Leser mitunter den Atem stocken. Die Fluchthelfer begannen, unter der Mauer hindurch Tunnel zu graben, in Autoverstecken Menschen zu schleusen, mittels gefälschter Papiere oder Verkleidungen die DDR-Grenzkontrolleure „auszutricksen“ oder durch Bestechung Ost-West-Pendler als Helfer zu gewinnen. Dass dies keine Abenteuerspiele Heranwachsender waren, belegen Verhaftungen, Verurteilungen zu teils hohen Haftstrafen und nicht zuletzt Todesfälle. Die Motive der Helfer/innen in dieser „Heldenzeit“ waren idealistischer Natur: Solidarität mit den Eingeschlossenen, der Wunsch, Freund/innen und Angehörige in den Westen zu holen, eigene Verfolgungserlebnisse oder Ablehnung des DDR-Systems. Erst in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre entwickelte sich der neue Typus des kommerziellen Fluchthelfers, der Menschen gegen Bezahlung aus der DDR ausschleuste. Während in den Monaten unmittelbar nach dem Mauerbau diese Fluchthilfeaktivitäten vor allem von der West-Berliner Politik mehr oder weniger offen unterstützt wurden, änderte sich diese Haltung mit den Verhandlungen über das Passierscheinabkommen. Denn 1963 hatten der West-Berliner Senat und die DDR-Regierung eine Regelung getroffen, die es erstmals seit dem Mauerbau zigtausenden (West-)Berlinern ermöglichte, über die Jahreswende ihre Verwandten im anderen Teil der Stadt zu besuchen. Von nun an stand die Fluchthilfe im Westen zunehmend im Abseits, und es begann die zweite Phase, die bis 1989 andauerte. Die westdeutsche Politik bemühte sich, durch Verhandlungen die Mauer stückweise durchlässig zumachen und zugleich perfektionierte die DDR ihr Grenzregime unablässig. Die Fluchthelfer wurden seitdem in Westdeutschland von Politik und Medien kritisch bis ablehnend betrachtet. Man warf ihnen vor, die Entspannungspolitik zu gefährden und nicht humanitäre, sondern kommerzielle Interessen zu verfolgen. Tatsächlich waren die aus idealistischen Motiven handelnden studentischen Fluchthelfer durch den gestiegenen Verfolgungsdruck und den Ausbau der DDR-Grenzsicherungsanlagen ihrerseits gezwungen, sich zu professionalisieren und immer aufwendigere Fluchtprojekte zu ersinnen. Um diese zu finanzieren, hatte man Kooperationen mit der Presse vereinbart, die z.B. für Tunnelbauten Geld gab und dafür Bildrechte bekam. Doch dies erwies sich als Spiel mit dem Feuer, denn westdeutsche Zeitschriften, die eben noch ein Projekt aktiv gefördert hatten, verurteilten die Fluchthilfe nun als kriminelle Machenschaften. Und auch die amtliche offizielle Hilfe wurde alsbald ganz eingestellt, die heimliche zumindest reduziert, wenngleich den beteiligten Fluchthelfern seinerzeit oftmals unbekannt blieb, woher die eine oder andere Zuwendung oder Information kam. Diese Entwicklung bedeutete insgesamt das Aus für die idealistisch motivierte und zugleich den Beginn der ausschließlich kommerziellen Fluchthilfe. Sie wurde von der DDR nicht minder erbittert bekämpft. Wegen der zwingend nötigen Konspiration war die bundesdeutsche Öffentlichkeit kaum über ihre Tätigkeit unterrichtet und vielleicht auch gar nicht daran interessiert. Die Haltung der bundesdeutschen Politik gegenüber der Fluchthilfe blieb bis in die 1980er-Jahre ambivalent. Um die Erfolge der Verständigungspolitik (insbesondere das Transitabkommen von 1972, welches aus Sicht der DDR häufig zur Flucht missbraucht wurde) nicht zu gefährden, bemühte sich die Bundesregierung der DDR zu demonstrieren, dass man Fluchthilfe missbillige und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten verhindere. Da dies aus verfassungsrechtlichen Gründen aber nicht denkbar war, verfiel man auf eine weiche Strategie der Behinderung: Das Finanzministerium strich per Erlass die steuerliche Absetzbarkeit der Kosten für Fluchthilfe, und westdeutsche Staatsanwaltschaften ermittelten gegen Fluchthelfer wegen Urkundenfälschung oder ähnlicher Delikte. Die Zahl der Verurteilungen sowie das Strafmaß blieben allerdings äußerst gering, so dass sich ein widersprüchliches Bild ergibt. Wie sehr die politisch Verantwortlichen wirklich die Fluchthilfe nachhaltig zu unterbinden bereit waren, ist schwer zu fassen. Wenn überhaupt richteten sich die Maßnahmen der Politik nicht gegen die Flüchtlinge, sondern gegen Fluchthelfer, doch letztlich konnten sich auch diese immer auf den Rechtsschutz der Bundesrepublik verlassen.

Die Bewertung der Effekte der Fluchthilfe insgesamt fällt schwer. Eine statistische Auswertung am Ende des Bandes (S. 440f) zeigt, – bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber den Zahlen – dass in den Jahren 1973-1976 immerhin etwa die Hälfte aller „Sperrbrecher“ (das heißt derjenigen DDR-Flüchtlinge, welche die Grenze ohne Erlaubnis passierten) Fluchthelfer hatten. Und auch danach pendelte der Wert noch zwischen 43 (1981) und 15 Prozent (1986). Unter 20 Prozent fiel der Wert erst im Jahr 1984, wofür Detjen die geänderte Ausreisepolitik der DDR verantwortlich macht, und in deren Folge sowohl die Zahl der Fluchten (das heißt Sperrbrecher/innen) als auch der Fluchthilfe deutlich abnahm. Doch Fluchthilfe wird man nicht nur an der Zahl der mit ihrer Hilfe Geflohenen messen können. Zur Fluchthilfe gehören auch verhaftete Flüchtlinge und Fluchthelfer (darunter sogar so genannte „Opfer“, das heißt Menschen, die unwissentlich zu Fluchthelfern geworden waren) sowie Verletzte und Tote (vgl. dazu die Übersicht S. 442ff.). Und dazu zählen auch die Fluchthelfer, die von der Zersetzungsstrategie des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zermürbt wurden, die sich jahrelang verfolgt fühlten und auf die sogar (zuletzt 1982) durch das MfS Mordanschläge verübt wurden. Die Machthaber in Ost-Berlin mögen die Fluchthilfe gefürchtet haben, doch ob deren Handeln sie über (geheim-)polizeiliche Maßnahmen hinaus beeinflusst hat, ist zweifelhaft. Die bundesdeutsche Politik und Gesellschaft standen dem Phänomen Fluchthilfe seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre zunehmend mehrheitlich ablehnend gegenüber. Im Grunde richtete sich die Fluchthilfe seitdem auch gegen eine Politik des Westens, die das Grenzregime der DDR zu vergessen lassen drohte. Ob die Fluchthelfer/innen Held/innen waren und Widerstand leisteten, ist also im hohen Maße subjektiv. Den einen erschienen (und erscheinen) die Träger/innen eines wie auch immer gearteten Widerstandes gegen das Unrechtsregime der SED als Held/innen, den anderen aber als ewiggestrige Entspannungsstörer/innen. Marion Detjen nimmt den Leser/innen dieses Urteil nicht ab (wenngleich sie sich selbst eindeutig positioniert). Mit ihrer quellengesättigten, argumentativ tiefgründigen sowie ungewöhnlich gut lesbaren (und auch handwerklich ansprechenden) Arbeit hat sie weniger einen Beitrag zur Erforschung des vielfältigen Widerstandes gegen des SED-Regime vorgelegt als vielmehr der ambivalenten bundesdeutschen Deutschlandpolitik der 1970er- und 80er-Jahre. Im andauernden Streit um die Beurteilung ihrer Intentionen und Effekte wird Detjens Studie sicher von Bedeutung sein.

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