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Titel
Fremde - Hafen - Stadt. Chinesische Migration und ihre Wahrnehmung in Hamburg 1897-1972


Autor(en)
Amenda, Lars
Reihe
Forum Zeitgeschichte 17
Erschienen
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Reinecke, Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas

Mehr als andere Themen erfordert es die Geschichte internationaler Migrationsbewegungen, sich aus der nationalen Fixierung der historischen Forschung zu lösen. Sowohl der Dynamik globaler Wanderungen als auch ihrer spezifischen lokalen Ausprägungen gerecht zu werden ist allerdings eine komplexe Aufgabe. Lars Amenda gelingt es in seiner Dissertation auf eindrückliche Weise, den transnationalen Charakter der verzweigten chinesischen Übersee-Migration ebenso zu berücksichtigen wie deren konkrete Entwicklung in Hamburg ausführlich und theoretisch reflektiert zu analysieren.

Amenda untersucht einerseits die Wanderungsbewegung von Chinesen nach Hamburg, andererseits ihre gesellschaftliche Wahrnehmung und ihre Behandlung durch die dortigen Behörden vom späten 19. Jahrhundert bis zu den 1970er-Jahren. Er verbindet dabei die sozialgeschichtliche Fragestellung nach Struktur und Verlauf der Migration mit einer kulturgeschichtlichen Perspektive, indem er anhand von Zeitungsartikeln und literarischen Quellen die Wahrnehmungsmuster und massenmedial perpetuierten rassistischen Stereotypen der Aufnahmegesellschaft analysiert. Die Wahl des konkreten Zeitraums begründet er weniger mit lokalhistorischen als mit internationalen Entwicklungen, die den Migrationsverlauf indirekt beeinflussten: 1897 besetzten deutsche Truppen Kiautschou, und China rückte verstärkt in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. 1972 wandelte sich die westdeutsche Wirtschaftsentwicklung, während die Volksrepublik China sich außenpolitisch öffnete.

Amenda behandelt vier Phasen der chinesischen Migration nach Hamburg: Ausgehend von der im ersten Kapitel beschriebenen Präsenz chinesischer Seeleute im Kaiserreich konzentriert sich die Analyse in einem zweiten Abschnitt auf die zunehmende Ansiedlung von chinesischen Migranten während der 1920er-Jahre. Daran anknüpfend beschreibt Amenda drittens ihre rassenpolitische Diskriminierung und Verfolgung während der NS-Zeit, die sich mit Beginn des Zweiten Weltkriegs weiter verschärfte. Viertens schließlich geht er auf den Boom der chinesischen Gastronomie im Hamburg der 1950er- und 1960er-Jahre ein.

Da die Handelsmarine in erhöhtem Maße nichteuropäische Seeleute einstellte, waren chinesische Migranten im Hamburger Hafenviertel seit dem späten 19. Jahrhundert präsent. Sie arbeiteten vor allem als Heizer und Feuerleute auf den Schiffen oder wurden als Wäscher angeworben. Entsprechend damals gängiger Männlichkeits-Vorstellungen mieden deutsche Schiffsleute die weiblich konnotierte Wäscherei, so dass vielfach Chinesen diese Arbeit verrichten. Dabei wird deutlich, dass sich die Anstellung chinesischer wie überhaupt nichteuropäischer Seeleute zu einem ständigen Streitpunkt zwischen den deutschen Seeleuten und ihren Reedern entwickelte. Amenda zeigt, wie die Zuschreibung spezifischer Rasseeigenschaften diese Auseinandersetzungen sowie die generelle Wahrnehmung der chinesischen Seeleute und Zuwanderer dominierte.

Im zweiten Abschnitt beschreibt Amenda, wie sich der verstärkte Zuzug chinesischer Migranten während der 1920er-Jahre vor dem Hintergrund der veränderten diplomatischen Beziehungen zwischen China und Deutschland entwickelte. Die beiden Länder hatten sich nach Kriegsende einander angenähert und ihre jeweiligen Handels- und Niederlassungsbedingungen 1921 vertraglich geregelt. In den folgenden Jahren ließen sich zahlreiche Chinesen in Hamburg nieder. Mit ihren Ausrüstungsläden, Restaurants und Wäschereien siedelten sie sich vor allem in einer Straße im Hafenviertel an. Bereits im Kaiserreich, vor allem aber in den 1920er-Jahren hatte sich St. Pauli zu einem zentralen Vergnügungsviertel entwickelt, dessen Ruf von einem internationalen Publikum profitierte. In das medial überhöhte Bild des exotischen Hafenviertels fügte sich das „Chinesenviertel“ anscheinend nahtlos ein. Zugleich, so Amenda, führte die geografisch konzentrierte Ansiedlung in der Stadt jedoch dazu, dass die chinesischen Migranten verstärkt als Problem wahrgenommen wurden. Anhand ihrer Darstellung in Presse und Literatur sowie ihrer Behandlung durch die Polizei beschreibt Amenda den Prozess einer „systematischen Kriminalisierung“ der Chinesen in Hamburg: Während sie in der zeitgenössischen Berichterstattung primär als kriminelle Gestalten wahrgenommen wurden, die Opium schmuggelten und dem Glücksspiel frönten, waren ihre Läden und Wohnungen häufiges Ziel polizeilicher Razzien.

Aus Sicht der lokalen Behörden galten vor allem die der unteren Schicht zugerechneten Seeleute und Straßenhändler als „unerwünschte Ausländer“, deren Zuzug die Beamten zu verhindern suchten. Bis zu einem gewissen Grad kollidierten in diesem Zusammenhang jedoch die Interessen der staatlichen und der lokalen Behörden; aufgrund außenpolitischer Bedenken mahnte das Auswärtige Amt die Hamburger oftmals zur Mäßigung. Amenda analysiert anhand zahlreicher Beispiele, dass sich der staatliche Rassismus der Behörden nicht auf die 1930er- und 1940er-Jahre beschränkte, dass die Diskriminierung der chinesischen Bewohner besonders mit Beginn des Zweiten Weltkriegs aber zunahm und vermehrt die deutschen Partnerinnen der fast ausschließlich männlichen Migranten einbezog. Sie alle wurden im Rahmen der so genannten „Chinesenaktion“ 1944 von der Gestapo in Hamburg festgenommen. Ein Teil von ihnen wurde in ein „Arbeitserziehungslager“ gebracht, einige der Frauen wurden in Konzentrationslager überführt. Die wenigen nach Kriegsende noch in Hamburg verbliebenen Opfer der rassenpolitisch motivierten „Chinesenaktion“ scheiterten bei ihren Bemühungen, von den Wiedergutmachungsämtern als Verfolgte anerkannt zu werden.

In seiner gesamten Studie legt Amenda Wert darauf, die Migranten nicht als passive Objekte der Wahrnehmung und Behandlung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft erscheinen zu lassen, sondern sie als eigenständige Akteure zu begreifen. Trotz der schwierigen Quellenlage behandelt er ausführlich alltagsgeschichtliche Aspekte. Zu oft ist in diesem Kontext jedoch vom „Eigen-Sinn“ oder der „Renitenz“ der Migranten die Rede, ohne dass deren mögliche Motive näher beleuchtet oder alternative Deutungsmuster erörtert würden. Dass chinesische Schiffsleute desertierten oder sich, ohne polizeilich gemeldet zu sein, in Hamburg aufhielten bzw. sich überhaupt dort niederließen, konnte Produkt zahlreicher Umstände und Motivationen sein. Der häufige Verweis auf den „Eigen-Sinn“ der Migranten hätte jedenfalls einer größeren Differenzierung bedurft.

In der Theorie der Diaspora gelten räumlich-soziale Netzwerke als zentrale Bezugspunkte eines gemeinsamen Handlungs- und Vorstellungsraums; die Beziehungen zu den Mitgliedern der Diaspora an anderen Orten ermöglichen die erhöhte Mobilität zwischen den Räumen.1 Wenngleich Amenda den Begriff „Diaspora“ nicht verwendet und zudem auf die ethnische und sprachliche Heterogenität der chinesischen Migranten verweist, beschreibt er dennoch einen ähnlichen Sachverhalt: Die „chinesische Färbung der hafennahen Gegend Hamburgs“ betrachtet er als ein „gemeinsames Phänomen westeuropäischer Hafenstädte“. Für die chinesischen Seeleute hätten diese Städte einen transnationalen Raum gebildet, „in dem sie sich mittels persönlicher Kontakte und einer gemeinsamen regionalen Herkunft [...] gut orientieren konnten“ (S. 122). Sei es in London, Rotterdam oder eben Hamburg – die Art, wie sich chinesische Migranten in diesen Städten etablierten, welche Läden sie eröffneten und welche Strukturen des Zusammenlebens sie entwickelten, ähnelte sich. Amenda situiert die konkrete lokale Entwicklung damit in einem transnationalen Gefüge.

Auch in seinem Kapitel zu den 1950er- und 1960er-Jahren beschreibt Amenda, wie sich chinesische Gastronomen – trotz der gegen nichteuropäische Migranten gerichteten westdeutschen Politik – in Hamburg und anderen Großstädten etablierten. Indem er konsum- und migrationsgeschichtliche Entwicklungen zueinander in Beziehung setzt, vermag er zu zeigen, wie die Internationalisierung der Essgewohnheiten in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und die zunehmende Verbreitung chinesischer Restaurants einander ergänzten. Dieser Boom der chinesischen Küche in der Nachkriegszeit war Amenda zufolge jedoch nicht für Hamburg spezifisch – er war ein verbreitetes westeuropäisches Phänomen.

Amenda verfolgt das Verhältnis zwischen den chinesischen Migranten und ihrer städtischen Aufnahmegesellschaft über einen weiten Zeitraum, ohne in der ausschließlichen Analyse der lokalen Verhältnisse zu verharren. Wie oftmals in der Forschung gefordert, aber seltener realisiert, bindet er die Ergebnisse seiner historischen Lokalstudie in einen übergreifenden Zusammenhang ein und ergänzt sie so zu einer sehr lesenswerten und instruktiven Untersuchung.

Anmerkung:
1 Zum Begriff der Diaspora siehe z. B. Tölölyan, Khachig, The Nation-State and Its Others: In Lieu of a Preface, in: Diaspora 1 (1991) H. 1, S. 3-7; Ma, Laurence J. C., Space, Place, and Transnationalism in the Chinese Diaspora, in: dies.; Cartier, Carolyn (Hgg.), The Chinese Diaspora. Space, Place, Mobility, and Identity, Lanham 2003, S. 1-49.