B. I. Reimers: Die neue Richtung der Erwachsenenbildung

Titel
Die neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919-1933.


Autor(en)
Reimers, Bettina I.
Reihe
Geschichte und Erwachsenenbildung 16
Erschienen
Anzahl Seiten
792 S.
Preis
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Christl Ziegler

Reimers legt eine umfangreiche Studie zur Neuen Richtung der Weimarer Volksbildung in Thüringen vor, die auch die Kultur-, Sozial- und Bildungsgeschichte des Landes berücksichtigt. Die Untersuchung versteht sich als empirische, auf die Bildungspraxis bezogene Arbeit. Für ihre Studie hat Reimers neues, bisher nur wenig zugängliches Quellenmaterial ausgewertet und Gespräche mit Zeitzeugen bzw. deren Angehörigen geführt.

Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil behandelt Entstehung und Entwicklung des Vereins „Volkshochschule Thüringen“ von dessen Gründung 1919 bis zur Krise und schließlich Umwandlung des Vereins in die „Deutsche Heimatschule“ 1933. Gleichzeitig wird damit die Geschichte der „Neuen Richtung“ in Thüringen vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung abgedeckt. Der zweite Teil erstreckt sich auf die pädagogische und kulturelle Praxis der „Volkshochschule Thüringen“ und ihrer Bildungseinrichtungen.

Wie bei den meisten Volkshochschulen der Weimarer Republik gehen Impulse zu Gründung, Zielsetzung und Aufgaben des Vereins „Volkshochschule Thüringen“ auf die politische und gesellschaftliche Krise nach Ende des Ersten Weltkriegs und auf die mit einer besseren und breiteren Bildung verbundenen Hoffnungen in der neuen Demokratie zurück. Auch in Thüringen führte dies zu einem raschen Auf- und Ausbau bereits im ersten Jahr 1919 mit insgesamt 76 städtischen und ländlichen Volkshochschulen. Von Beginn an verstanden sich die Repräsentanten der Thüringer Volksbildung als Vertreter der Neuen Richtung, allerdings mit eigenen Akzenten, von Reimers anhand zahlreicher Quellen sorgfältig herausgearbeitet. Das auch in Thüringen zentrale Ziel der Volk-Bildung durch Volks-Bildung konnte mit diesem Verständnis durch wissenschaftlich-sachliche Kursangebote kaum erreicht werden. Dagegen sollten eine breite Kulturarbeit, gesellige Treffen, Feste und Feiern zu einer Volkshochschulgemeinde Thüringen und darüber hinaus zu einer Volks- und Kulturgemeinschaft führen.

Dieses stark von der bürgerlichen Jugendbewegung geprägte Bildungsverständnis führte schon bald zu einer heftigen Kontroverse innerhalb der Neuen Richtung. Reimers geht besonders auf die Auseinandersetzungen zwischen der Berliner und der Thüringer Richtung ein. Stand bei den Thüringern eine schöpferische Volksbildung mit dem Ziel der Kulturerneuerung im Vordergrund, wie sie Wilhelm Flitner in seiner 1921 erschienenen Schrift „Laienbildung“ formulierte, betonten die Vertreter der Berliner Richtung um Werner Picht und Robert von Erdberg die sachbezogene wissenschaftliche Arbeit in kleinen Gruppen sowie die Schulung geistiger Disziplin gerade für besonders bildungsbenachteiligte Bevölkerungsschichten, damals vor allem die Arbeiterschaft. Die Auseinandersetzung über die gegensätzlichen Positionen führte schließlich zur Gründung des Hohenrodter Bundes, der bekanntermaßen mit seinen regelmäßig durchgeführten Tagungen einen wesentlichen Beitrag zur theoretischen Fundierung der Neuen Richtung geleistet hat. Allerdings änderte dies nichts an der Thüringer Bildungspraxis.

In einem weiteren Kapitel behandelt die Studie ausführlich die beiden wichtigsten Organisationsformen der Volksbildung in dieser Zeit, die Abendvolkshochschule und die Heimvolkshochschule (hier am Beispiel der HVHS Dreißigacker). Ein Abschnitt widmet sich dem städtischen Volkshochschulheim, einer von Gertrud Hermes zum ersten Mal in Leipzig gegründeten, vom englischen Settlement inspirierten Bildungswohngemeinschaft. In Thüringen wurde diese Bildungsform von Adolf Reichwein für ein Jungarbeiterheim in Jena übernommen. Reimers arbeitet anschaulich heraus, wie die einzelnen Volkshochschulen des Vereins in ihrer Arbeit unterschiedliche Schwerpunkte setzten und sich in Thüringen eine vielfältige Bildungslandschaft entwickeln konnte.

Der im Verein „Thüringer Volkshochschule“ organisierten, in ihrem Selbstverständnis neutralen freien Volksbildung standen eine Reihe weiterer, weltanschaulich oder politisch ausgerichteter Erwachsenenbildungseinrichtungen gegenüber, auf die Reimers in einem eigenen Kapitel eingeht. Vorgestellt werden die sozialistisch orientierte Heimvolkshochschule Tinz, die sich zwar nicht als Parteischule verstand, deren Arbeit als „Brutstätte des Marxismus“ in Thüringen aber immer wieder finanziell und politisch gefährdet war und für die schließlich die Regierungsübernahme der Nationalsozialisten das Ende bedeutete. Günstigere Bedingungen fanden dagegen die Bauernhochschulen und die Deutsche Heimatschule Bad Berka vor, deren national-völkische und rassen-völkische Richtung die volle Unterstützung der Nationalsozialisten fanden. Warum Reimers die der „Hellerauer Richtung“ zuzurechnende völkisch orientierte Bauernhochschule Neudietendorf als christlich-konservativ bezeichnet, ist nicht recht nachzuvollziehen, belegen doch Zitate und ein Fächerangebot wie Vererbungs-, Rasse- und Gesundheitslehre den Einfluss germanisch-völkisch-rassistischen Gedankenguts. Auch die in der Untersuchung erwähnte Zusammenarbeit mit der Artamanenbewegung sowie die erstmalige finanzielle Unterstützung Neudietendorfs sofort nach dem Einzug völkisch-nationalistischer Gruppierungen 1924 in den Thüringer Landtag unterstreichen die Nähe dieser Einrichtung zum Nationalsozialismus. Norbert Vogel (1994) hat in seiner Arbeit über die Bedeutung der Grundtvigschen Volkshochschule für die deutsche Erwachsenenbildung auf Bruno Tanzmann, den Begründer der Artamannen (die völkische Richtung der bündischen Jugend) und Initiator der rassen-völkisch orientierten deutschen Bauernhochschulbewegung hingewiesen. Auch Veraguth (1976) vertritt in seiner Studie über die protestantische Erwachsenenbildung dieser Zeit die Auffassung von einer völkischen, zum Teil extrem rassistischen Richtung der Deutschen Bauernhochschulen. So ist Neudietendorf, das sich ausdrücklich in die Tradition der dänischen Heimvolkshochschule stellte, ein Beispiel dafür, wie Grundtvig und die dänische Volksbildung durch den Nationalsozialismus uminterpretiert und für eigene Ziele missbraucht wurden. So verdienstvoll es einerseits ist, sich auch mit problematischen Richtungen der Weimarer Volksbildung auseinander zu setzen, so notwendig ist es aber gleichzeitig, mit einer kritischen Haltung an dieses dunkle Kapitel der deutschen Erwachsenenbildung heranzugehen.

Der letzte Abschnitt dieses Teils behandelt die Krise und das Ende der „Volkshochschule Thüringen“ und damit der freien Volksbildung gegen Ende der Weimarer Republik, besonders aber nach Einzug der Nationalsozialisten in den Thüringer Landtag schon ab 1930. Die Umgestaltung in eine nazistische Bildungsarbeit gelang hier umso leichter, konnten die Nationalsozialisten doch auf die bereits erwähnten völkisch-rassistischen Ansätze und Bildungseinrichtungen zurückgreifen.

Im zweiten Teil der Studie untersucht Reimers die pädagogische Praxis, in der sich das besondere Profil der „Volkshochschule Thüringen“ entfaltete. Der fachlich-sachlichen Kursarbeit wurde nur eine „Teilaufgabe“ zugebilligt, der eigentliche Mittelpunkt aber im Gemeinschaftsleben gesehen. Eine breit gefächerte Kulturarbeit, verbunden mit gesellige Treffen, sollte zu einer Volkshochschulgemeinde und so zu einer Volksgemeinschaft führen. Die folgenden Kapitel geben einen umfassenden Einblick in die zahlreichen Feiern und Feste im Jahreslauf, in gemeinsames Musizieren und Singen, Konzertbesuche, Theater- und Laienspiel, Ausdrucks- und Volkstanz, Körperkultur, Gymnastik und Sport, Bewegung in frischer Luft, gemeinsames Wandern. Deutlich erkennbar werden die in der „Thüringer Richtung“ gebündelten Traditionen der bürgerlichen Jugendbewegung, des Bildungsbürgertums und des Protestantismus. So finden sich einerseits lebensreformerische und reformpädagogische Elemente, andererseits werden Probleme der Technisierung und des Industriezeitalters großenteils ausgeblendet oder mit zivilisationskritischen Einstellungen beantwortet.

Wie unterschiedlich erfolgreich diese Bildungsarbeit angenommen wurde, zeigte sich in der Bildungspraxis mit bestimmten Zielgruppen, von denen hier die wichtigsten - Arbeiter, Jugend, Frauen - genannt seien. Eine selbstbewusste Arbeiterschaft, etwa in der Industriestadt Jena, und Jugendliche waren mit diesem Bildungsverständnis nicht leicht zu gewinnen. Reimers geht auf Bemühungen und Schwierigkeiten ausführlich ein. In der Frauenbildung orientierte sich die „Volkshochschule Thüringen“ an der traditionellen Rolle der „Frau und Mutter“. Das moderne Frauenbild der Weimarer Republik mit Beruftätigkeit, gesellschaftlicher und politischer Partizipation wurde auf soziale und erzieherische Aufgaben und auf Wohltätigkeit verkürzt (ein Hinweis am Rande: Agnes von Zahn-Harnack, die letzte Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine vor 1933, war keine Sozialdemokratin). Die Dozentinnen der Frauenkurse rekrutierten sich zum großen Teil aus verheirateten, nicht mehr berufstätigen früheren Lehrerinnen, Erzieherinnen, Sozialarbeiterinnen. Hier hätte man sich einige Hinweise zu Akzenten der Frauenbildungsarbeit anderer Volks- und Heimvolkshochschulen gewünscht, zumal innerhalb der Neuen Richtung die Aufgaben der Frauenbildung in der damals führenden Fachzeitschrift „Die Arbeitsgemeinschaft“, ausführlich und von verschiedenen Standpunkten aus diskutiert wurden.

Ein Anhang mit Dokumenten zur Bildungsarbeit, biographische Stichworte zu zahlreichen Persönlichkeiten der Thüringer Volksbildung (in vielen Fällen dürfte die Recherche mühevoll gewesen sein) sowie ein Personenregister schließen die Arbeit ab. Sehr verdienstvoll sind auch die in der Studie veröffentlichten und so wieder zugänglich gemachten zahlreichen Bilddokumente zu Personen, Häusern und Einrichtungen, Arbeitsplänen, Lehrmaterialien, Arbeitsformen, Festen und Feiern, die eine lange zurückliegende Epoche der Erwachsenenbildung wieder lebendig werden lassen.

Einige kritische Anmerkungen zum Schluss: Bei so viel Anschaulichkeit wäre es nicht nötig gewesen, dasselbe Bild von Heiner Lotze gleich drei Mal zu veröffentlichen (S. 202, S. 253, S. 563). Auch hätte man sich vom Verlag mehr Sorgfalt und weniger Flüchtigkeitsfehler gewünscht (z. B. eine unterschiedliche Schreibweise der „Neuen Richtung“ auf Titelblatt und Titelseite; die Reihe „Geschichte und Erwachsenenbildung“ wird im Innenteil zur „Geschichte der Erwachsenenbildung“; vertauschte Bildunterschriften, S. 323). Am insgesamt positiven Resümee ändert dies aber nichts.

Reimers hat eine gründlich recherchierte und verdienstvolle Studie zur Geschichte der Thüringer Erwachsenenbildung vorgelegt. Ihre Arbeit bietet einen detaillierten Einblick in die bisher in der Historiographie der Erwachsenenbildung wenig beachtete Thüringer Volksbildung zwischen 1919 und 1933 mit ihren eigenen Akzenten. Sie ist eine Empfehlung für all jene, die sich mit der deutschen Bildungsgeschichte intensiv auseinander setzten wollen und für die es hier noch zahlreiche Fragen zu beantworten gibt. So ist die Untersuchung auch zu verstehen als Anregung, sich um eine weitere wissenschaftlich-historische Aufarbeitung sowohl der „freien“ wie der „gebundenen“ Volksbildung gerade in der vermeintlich gut erforschten Weimarer Epoche zu bemühen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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