J. Sleifer: Planning Ahead and Falling Behind

Cover
Titel
Planning Ahead and Falling Behind. The East German Economy in Comparison with West Germany 1936-2002


Autor(en)
Sleifer, Jaap
Erschienen
Berlin 2006: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Roesler, Leibniz-Sozietät Berlin

Jaap Sleifer, dessen Dissertation an der Universität Groningen den Ausgangspunkt für dieses Buch bildete, gehört zu jenen Wirtschaftshistorikern, die mit außerordentlicher Sorgfalt die wirtschaftlichen Statistiken der von ihnen untersuchten Länder analysiert und die entnommenen Daten vergleichbar gemacht und synthetisiert haben. Angus Maddison, der derartige Analysen der Weltwirtschaft im Auftrage der OECD durchführte, und auf den sich Sleifer auch beruft, hat derartigen Untersuchungen großen Respekt verschafft – schon weil sie mit manchen Vorurteilen aufräumten.1 Sleifers Darstellung eines Ost-West-Vergleichs darf daher Neugier wecken, auch wenn sein Thema in der deutschen Wirtschaftsgeschichte ein uraltes ist und – beginnend mit Ferdinand Grünings „Volkswirtschaftlichen Bilanzen 1936 und 1947“2 – in Abständen von fünf bis sechs Jahren immer wieder abgehandelt wurde.

Sleifer untersucht Arbeitsproduktivität und Wachstum in Ostdeutschland im Bereich von Industrie, Landwirtschaft, öffentlichen Versorgungsbetrieben, Bauwirtschaft sowie Transport- und Kommmunikationswesen und vergleicht die Entwicklung im mittleren Teil des Deutschen Reiches, in der DDR und den neuen Bundesländern mit den Fortschritten, die in den gleichen Bereichen im westdeutschen Raum erzielt wurden. In den Mittelpunkt stellt er die Frage, warum die Wirtschaft der DDR, statt, wie ihre für Politik und Wirtschaft Verantwortlichen verkündeten, aufzuholen oder die Bundesrepublik gar zu überholen, immer weiter hinter der westdeutschen Wirtschaft zurückblieb.

Die bisherigen Antworten der Wirtschaftshistoriker/innen gehen in zwei Richtungen: Die einen meinen, dass vor allem die schlechten Startbedingungen Ostdeutschlands nach dem Kriege (Demontagen, Reparationslieferungen an die Sowjetunion aus der laufenden Produktion) die wichtigste Ursache für den (sich als nicht aufholbar erweisenden) Rückstand der DDR-Wirtschaft bildeten, die anderen sind der Auffassung, dass die Einführung der Planwirtschaft die Hauptschuld am Zurückbleiben der DDR trug – und die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik den dortigen wirtschaftlichen Aufschwung – als Wirtschaftswunder bekannt – verursachte.

Sleifer unterteilt den Untersuchungszeitraum 1936-2002 in vier Perioden: 1936-1950, 1951-1989 und 1991-1991. Er stellt fest, dass der größte Abfall des ostdeutschen Wirtschaftsniveaus gegenüber Westdeutschland in die erste Periode fällt, die Krieg und Nachkrieg umfasst. Die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland, die vor dem Krieg nur ein paar Prozentpunkte zugunsten Ostdeutschlands betragen hatte, vergrößerte sich in der Nachkriegszeit auf fast 50 Prozent. Ein zweites „starkes Absinken“ des Ostdeutschen im Vergleich zum westdeutschen Bruttoinlandsprodukt geschah in der dritten Periode. Im Jahre 1991 belief sich das ostdeutsche Bruttosozialprodukt je Kopf und auch je Erwerbstätigen auf nur noch 31 Prozent des westdeutschen Niveaus. Und zwischen 1950 und 1989? Gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf entwickelte sich die ostdeutsche Wirtschaft dagegen zwischen 1950 und 1989 offensichtlich nicht schlecht. „Sie fiel relativ nur ein wenig im Vergleich zum westdeutschen Niveau. Es blieb ziemlich konstant bei etwa 56 %“, schreibt Sleifer (S. 52).

Dieses Ergebnis steht ganz im Gegensatz zur Mainstream-Auffassung, dass das Zurückbleiben Ostdeutschlands vor allem „systembedingt“, d.h. auf die „falsche“ Wirtschaftsordnung zurückzuführen war. Zwischen 1945 und 1948 gab es bei der Durchsetzung der Bewirtschaftung keine substantiellen Unterschiede im Wirtschaftssystem der Zonen, genauso wenig wie sie zwischen 1936 und 1945. Geht man davon aus, dass sich Soziale Marktwirtschaft im Westen und „Sozialistische Planwirtschaft“ im Osten etwa 1952 durchgesetzt hatten3, dann fällt die für Ostdeutschlands Wirtschaftsentwicklung verheerendste Periode in eine Zeit, da Plan- bzw. Marktwirtschaft noch nicht bzw. erst in ihren Anfängen wirksam waren. Die Begründung mit dem falschen oder richtigen Wirtschaftssystem ist also weitgehend gegenstandslos. Das gilt auch für die zweite „Einbruchperiode“, in der sich in der DDR bzw. Westdeutschland nicht mehr Plan- und Marktwirtschaft gegenüberstanden, sondern in der sich in Ostdeutschland der Übergang von der einen zur anderen Wirtschaftsform vollzog.

Wirklich voll entwickelt standen sich die beiden Wirtschaftssysteme in Deutschland in der mittleren Periode gegenüber. In diesen fast 40 Jahren gelang es der Planwirtschaft allerdings durch Produktivitätszuwachs und Integration, eines immer größeren Teil der Bevölkerung – vor allem der weiblichen – in den Wirtschaftsprozess, mitzuhalten. Das ist zwar angesichts der diversen Auf-, Ein- und Überholprogramme der Ulbrichtzeit kein erwünschtes Ergebnis gewesen, aber doch eines, mit dem man die These, dass die wachsenden Divergenzen im Produktivitätsniveau beider deutscher Staaten bzw. Regionen „vor allem systembedingt“4 waren, nicht in Einklang zu bringen sind. Sleifer kennt natürlich die „Mainstream“-Ansichten der bundesdeutschen Wirtschaftshistoriker/innen, zitiert sie auch – und belässt es dabei. Vielleicht wäre es eine Überforderung dieses hauptsächlich dem empirischen Nachweis wirtschaftlicher Entwicklung gewidmeten Buches, auch noch in die Debatte um die „Ursachen des Untergangs der DDR“ einzusteigen. Die engagierten Leser/innen aber werden es tun.

Die gewisse Unbedarftheit des empirisch forschenden Holländers gegenüber den in der heutigen Bundesrepublik propagierten Erkenntnissen über die DDR hat auch ihre erstaunlichen Seiten. So erfahren die Leser/innen aus Sleifers Untersuchungen, dass sich das ostdeutsche „Humankapital“ auf höherem Niveau als das Westdeutsche befand (S. 55), dass der „ostdeutsche Plattenbau“ zu einer deutlichen Erhöhung der Arbeitsproduktivität führte und weil es den Hausbau „billiger und schneller“ machte, wesentlich zum höheren Produktivitätswachstum im ostdeutschen Bauwesen gegenüber dem Westdeutschen seit den 1970er-Jahren beitrug (S. 130).

Abschließend, nachdem der Autor das ost- und westdeutsche Wirtschaftswachstum zwischen 1990 und 2002 analysiert hat, stellt Sleifer die Frage, nach den zukünftigen Auf- und Einholbedingungen der ostdeutschen Region im vereinigten Deutschland. Seine Antwort ist ernüchternd. Sich auf das im Ergebnis eine alle Wirtschaftsbereiche umfassende empirische Analyse anbietende Modell von Zentrum und Peripherie stützend, stellt er fest, „dass es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass Ostdeutschland auf dem Weg zu einer peripheren Region ist“ – womit die Hoffnungen auf ein einmal in der Zukunft zu erreichendes gleiches Entwicklungsniveau im gleichen marktwirtschaftlichen System schlichtweg gegenstandslos werden, sofern es keine grundlegenden Änderungen im Wirtschaftssystem geben wird.

Sleifers Buch ist eines das zum tiefen Nachdenken anregt. Den Herausgebern des „Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte“ ist es zu danken, dass dieser Band – allerdings in Englisch – der historischen Forschung in Deutschland zur Verfügung steht.

Anmerkungen:
1 Vgl. Maddison, Angus, The World Economy. A Millennial Perspective, OECD 2001.
2 Grünig, Ferdinand, Volkswirtschaftliche Bilanzen 1936 und 1947. Ein Beitrag zur Analyse der Wirtschaftslage, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 1 (1948).
3 Vgl. Weimer, Wolfram, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von der Währungsreform bis zum Euro, Hamburg 1998, S. 107-110; Roesler, Jörg, Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft, Berlin 1978, S. 127f.
4 Vgl. Roesler, Jörg, Alles nur systembedingt? Die Wirtschaftshistoriker auf der Suche nach den Ursachen der Wirtschaftsschwäche der DDR, in: Timmermann, Heiner, Die DDR-Politik und Ideologie als Instrument, Berlin 1999, S. 213-232.

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