M. Grandner u.a. (Hrsg.): Zukunft mit Altlasten

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Titel
Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955


Herausgeber
Grandner, Margarete; Heiss, Gernot; Rathkolb, Oliver
Erschienen
Wien 2005: StudienVerlag
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Pape, Wien

Der vorliegende Sammelband ist die Publikation zu der im Wintersemester 2005 an der Universität Wien gehaltenen, gleichnamigen Ringvorlesung und wurde von drei Historiker/innen der Universität Wien herausgegeben. Der mittlerweile 19. Band der „Querschnitte, Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte“ beschäftigt sich mit der Geschichte der Universität Wien in der Nachkriegszeit, genauer, mit dem Jahrzehnt zwischen der Befreiung Österreichs 1945 und dem Abschluss des Staatsvertrages 1955. Die Publikation schließt an den Band „Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945“1 an.

Bereits der Titel „Zukunft mit Altlasten“ impliziert, dass die „Neuanfänge“ nach 1945 häufig nur Versuche waren, denn das Erbe des Nationalsozialismus, aber auch jenes aus der Zeit des Ständestaates, schien schwer überwindbar. Der Bogen der insgesamt siebzehn Texte umspannt sowohl Entwicklungen in den einzelnen Fächern und Fakultäten, wie der Theaterwissenschaft, der Kunstgeschichte, der Germanistik, der Musikwissenschaft, der Völkerkunde, der Geografie, der Philosophie, der medizinischen Fakultät, der Physik und der Chemie, als auch organisatorische und personelle Entwicklungen wie zum Beispiel die Arbeit des Senats oder das Verhältnis der Universität Wien zum Unterrichtsministerium. Weitere Aufsätze befassen sich zudem speziell mit den Studierenden an der Universität Wien, mit der österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Verhältnis zwischen der Universität Wien und der österreichischen Politik in der Nachkriegszeit. Ein wichtiger Aspekt in dieser breit angelegten Thematik ist die Frage der Remigration und die Auswirkungen der Entnazifizierung.

Es ist weder sinnvoll noch möglich alle siebzehn Aufsätze in dieser Rezension zu durchleuchten, trotzdem wird versucht, jene Gemeinsamkeiten herauszuschälen, die sich als Grundaussagen der Thematik Gehör verschaffen, und diese anhand von Beispielen aus den vorliegenden Texten zu veranschaulichen.

Nicht nur der Wiederaufbau der von insgesamt 23 Bombentreffern zerstörten Gebäude der Wiener Universität gestaltete sich nach 1945 schwierig, sondern auch der personelle Neuanfang. So sei personalpolitisch von einer Rückkehr zur Situation vor 1938 ausgegangen worden, so Heiss. Bereits zwei Tage vor der Proklamation der provisorischen Staatsregierung Karl Renners, also am 25. April 1945, wurde der Jurist Ludwig Adamovich zum Rektor gewählt. „Adamovich galt als vorsichtiger Kritiker der Auflösung der demokratischen Strukturen, obwohl er sich letztlich geräuschlos in das autoritäre System einfügte“ (S. 38f.). Im autoritären Ständestaat bekleidete der erste Nachkriegsrektor für ein Monat das Amt des Justizministers und stellte 1938 auch den „Anschluss“ nicht in Frage. Die Organisation der Universität Wien wurde also in die Hände von Anhängern des Ständestaates gelegt. Auch die Berufung von Professoren zeigte einen deutlichen Überhang zu katholisch Konservativen. Wilhelm Schmidt, der die stark theologisch und antievolutionistisch ausgerichtete „Wiener Schule der Kulturkreislehre“ begründete, und zudem eine ideologisch Stütze des autoritären Ständestaates war, musste 1938 in die Schweiz emigrieren. Nach der Befreiung Österreichs konnten die Vertreter der „Kulturkreislehre“ wieder an die Universität zurückkehren, was eine weitere konservativ-katholische Kontinuität zum Ausdruck brachte. Die Restauration der katholisch Konservativen bedeutete eine Vorherrschaft des Cartellverbandes für das folgende Jahrzehnt an der Universität Wien, so Heiss.

Neben der katholisch-konservativen Kontinuität im ersten Jahrzehnt nach 1945 wird auch der häufig nicht konsequent durchgeführten Entnazifizierung ein hoher Stellenwert in den Texten eingeräumt. Immerhin waren 80 Prozent der Universitätsprofessoren durch Entnazifizierungsmaßnahmen betroffen. Die anfänglich durchaus strenge Handhabung wurde bald schon aufgelockert, zum Beispiel durch die Minderbelastetenamnestie von 1948, die an der Universität Wien voll zum Tragen kam. Ingrid Arias stellt in ihrem Beitrag über die medizinische Fakultät dar, dass eine Entlassung der NSDAP-Mitglieder- und Anwärter, wohl den sofortigen Zusammenbruch des Klinikbetriebes bedeutet hätte. Schon 1945 wurde deshalb von einer strengen Auslegung des Verbotsgesetztes abgesehen. Die medizinische Fakultät hatte eine Zugehörigkeitsrate zur NSDAP von 75 Prozent. Im Jahre 1938 wurden Professoren an der medizinischen Fakultät aus rassischen, beziehungsweise jene dem ständestaatlichen System nahe stehenden Lehrende, aus politischen Gründen entlassen. Diese wurden nun nach 1945 wieder eingesetzt.

Am Institut für Geschichte, vormals Historisches Seminar, war die Enthebungsrate nach 1945 besonders hoch, da die meisten Historiker schon in der Zwischenkriegszeit übermäßig deutschnational gesinnt waren, und den „Anschluss“ und den Nationalsozialismus begeistert begrüßten. Besonders hervorstechend ist Taras Borodajkewycz, da es wegen seiner Lehrtätigkeit in den 1970er-Jahren zu massiven öffentlichen Demonstrationen kam, die schließlich das erste politische Todesopfer der Zweiten Republik forderten. Borodajkewycz wurde 1937 für allgemeine Geschichte der Neuzeit habilitiert. Als Illegaler wurde er 1945 entlassen. Im Jahre 1947 wurde die Entlassung jedoch aufgehoben und 1955 gelangte Borodajkewycz wieder ins Lehramt. Hierbei dürften ihm seine Kontakte zum Cartellverband und zum Unterrichtsministerium sicherlich nicht im Wege gestanden haben. 1963 erhielt er den Titel eines ordentlichen Professors, dabei wurde darauf hingewiesen, dass Borodajkewycz es in außerordentlichem Maß verstehe seinem Fach eine anziehende Note zu verleihen und zudem die Jugend mit seinen Ausführungen fessle (S. 202). Tatsächlich bediente er sich in seinen Vorlesungen an der Hochschule für Welthandel antisemitischer Äußerungen und vertrat weiterhin den „Anschlussgedanken“. Schließlich wurde Borodajkewycz suspendiert und vorzeitig pensioniert. Gerade der „Fall Borodajkewycz“ kann stellvertretend für die mangelnde Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht nur an der Universität, sondern auch im „außeruniversitären“ Österreich angesehen werden. Erst in den 1960er und 1970er-Jahren wurde mit einer ernsthaften und kritischen Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus begonnen.

Die erwähnten Beispiele stehen stellvertretend für den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Als Grundaussagen der Texte lassen sich einerseits die Kontinuitäten aus den 1930er-Jahren, und andererseits das schwer aufzuarbeitende Erbe aus der Zeit des Nationalsozialismus ausmachen. Beides trug zu einer massiven Erschwerung eines Neuanfanges nach 1945 bei. Eine tatsächliche Entnazifizierung wurde wohl zu wenig durchgeführt und einer Kontinuität aus den 1930er-Jahren wurde zu viel Platz eingeräumt. Diese Thesen lassen sich bei allen Aufsätzen als roter Faden erkennen. Rathkolb stellt zudem die interessante These auf, dass durch den nachlassenden Druck zur Entnazifizierung auch der Druck zur Reintegration vertriebener Wissenschaftler nachließ (S. 43). Die Universität Wien folgte damit einer gesamtösterreichischen Tendenz.

Der vorliegende Sammelband bietet, wie im Vorwort der Herausgeber/innen beschrieben, einen Überblick über die Entwicklungen nach 1945. Diesem Überblick wurde voll und ganz Rechnung getragen. Die einzelnen Beiträge liefern nicht nur einen spannenden Einstieg, sondern regen auch zu weiteren Forschungen und zu einer vertiefenden Auseinandersetzung an. Zahlreiche vom Namen her bekannte Personen der Wiener Universitätsgeschichte werden einer kritischen Reflexion unterzogen, ohne die eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Fachdisziplin wohl zu Wünschen übrig lassen würde. Die Gliederung des Sammelbandes nach Disziplinen kommt den Leser/innen durch die Möglichkeit des schnellen Auffindens ihres Faches entgegen, zudem erleichtert ein Personenregister am Ende des Bandes das unproblematische Auffinden von für die Thematik relevanten Personen. Der vorliegende Band der Querschnittreihe kann und soll zur Lektüre empfohlen werden. Gerade die Universität, die als Institution Tradition einfordert, muss einer ständigen kritischen Reflexion unterzogen werden um einen Erkenntnis fördernden Wissenschaftsanspruch gerecht zu werden. „Zukunft mit Altlasten“ leistet hierzu einen Beitrag, der für Lehrende und Studierende Pflichtlektüre sein sollte.

Anmerkung:
1 Heiss, Gernot; Mattl, Siegfried; Meissl, Sebastian (Hgg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945, Wien 1989.

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