S. Dumschat: Ausländische Mediziner im Moskauer Rußland

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Titel
Ausländische Mediziner im Moskauer Rußland.


Autor(en)
Dumschat, Sabine
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolai Kuhl, Berlin

Die Untersuchung der europäischen Expertenwanderungen in west-östlicher Richtung seit dem 16. Jahrhundert ermöglicht eine praktikable Verschränkung der Migrationsgeschichte mit der Erforschung des Kulturaustauschs. In beiden Forschungsrichtungen ist ein biografischer Zugang sinnvoll: In der Migrationsgeschichte, um die Motivationen und die Praxisformen von Auswanderung in ihrer individuellen Ausprägung zu erhellen; in der Kulturtransferforschung, um Transfer, Rezeption und Transformation von Wissen auf der biografischen Ebene zu konkretisieren.

Sabine Dumschat hat sich in der vorliegenden Arbeit über die Migration medizinischer Experten ins Moskauer Russland, mit der sie 2003 an der Universität Hamburg promovierte, dementsprechend zum Ziel gesetzt, mit ausgedehnten Archivforschungen biografische Daten zu sichern und auf dieser Basis „das in kulturhistorischer Sicht relevante Wirken der ausländischen Mediziner“ sowie das „migrationsgeschichtliche Umfeld aus verschiedenen Blickwinkeln“ (40) zu analysieren.

Die unzähligen Informationen aus der beeindruckenden Vielzahl von Quellen präsentiert Dumschat in zweierlei Weise: erstens in einem lebensgeschichtlichen Kontext in nahezu 300 Kurz- und Kürzestbiographien im Anhang, deren Umfang je nach Quellenlage von wenigen Zeilen bis zu mehreren Druckseiten reicht; zweitens in migrations- und kulturgeschichtlichem Zusammenhang im Haupttext, systematisch gegliedert in Kapitel zur Motivation der Auswanderung, zum Ablauf des Aufenthalts, zur medizinischen und außerfachlichen Tätigkeit der Mediziner und schließlich zu deren sozialem Umfeld.

Die Forschungen zu den ausländischen Spezialisten in Russland bewegten sich, wie Dumschat in ihren Bemerkungen zum Forschungsstand darlegt, lange Zeit sowohl auf westlicher wie auch auf russischer Seite in hochideologisierten Kontexten. Während vor allem deutsche Historiker des 19. Jahrhunderts den Einfluss der Ausländer (deutscher Herkunft) auf die russische Kultur nicht hoch genug veranschlagen konnten, versuchten sowjetpatriotische Wissenschaftler, die russischen Eigenleistungen hervorzuheben und gleichzeitig das Wirken ausländischer Mediziner dahinter verschwinden zu lassen. Sabine Dumschat umgeht das „ideologische [...] Minenfeld“ (31) mit dem Versuch, „unter systematischer Vorgehensweise Forschungsergebnisse im Detail zu präsentieren, anstatt vorgefasste Bewertungen mit ausgewählten, vermeintlich relevanten ‚Fakten‘ zu untermauern.“ (548)

Die sich aus dieser Prämisse ergebende Vorsicht vor Generalisierungen bedingt gleichzeitig Stärken und Schwächen ihrer Untersuchung. Positiv wirkt sich diese eher individualisierende Sichtweise bei der eingehenden Darstellung von Anwerbung, Einreise, Aufenthalt und Ausreise der ausländischen Mediziner aus, wobei sie ein detailreiches Bild des ‚Alltags der Expertenmigration‘ entstehen lässt. In gleicher Weise gelungen ist die differenzierte Analyse der Tätigkeiten, die die ausländischen Mediziner im russischen Staatsdienst teilweise in beeindruckender Bandbreite entfalteten, eben nicht nur auf medizinischem Gebiet, sondern auch in Kunst und Kultur sowie teilweise gar auf diplomatischem Parkett.

In negativer Weise macht sich die Scheu vor Verallgemeinerungen jedoch in der unzureichenden statistischen Aufbereitung der Daten bemerkbar. Eine tabellarische Darstellung, wie Dumschat sie für die regionale Herkunft der Mediziner und die Verteilung nach Berufsgruppen wählt (104f.), hätte bei allen Unsicherheiten, die aus der Quellenlage herrühren, doch auch in weiteren Kapiteln ihrer Untersuchung Tendenzen aufzeigen können. So gerät Dumschats Studie streckenweise zu einer bloßen Aneinanderreihung von Details, beispielsweise in der ermüdend zu lesenden Untersuchung der Familienverhältnisse der ausländischen Mediziner. Die Frage nach der Assimilation der ausländischen Mediziner mit dem russischen Umfeld beantwortet Dumschat in ihrer Schlussbetrachtung nahezu banal: „Es gab beide Seiten“ (550), nämlich zum einen die Verweigerung jeglicher Assimilation durch Flucht, zum anderen die unter Beweis gestellte Integration mit dem Dienst für den russischen Staat über zwei Generationen hinweg. Auch hier hätte eine vorsichtige quantifizierende Aussage für einen analytischen Mehrwert sorgen können.

Als Ergebnis kann Dumschat für den untersuchten Zeitraum von Ende des 15. bis Ende des 17. Jahrhunderts eine nahezu lückenlose Präsenz ausländischer Mediziner im Moskauer Russland nachweisen. Die Gesamtzahl stieg seit Mitte des 16. Jahrhundert langsam, aber stetig an und nahm ein Jahrhundert später sprunghaft zu. Bedingt war diese rapide Steigerung durch eine Ausweitung des Patientenkreises. Besonders die medizinische Versorgung von Soldaten, für die Wundärzte eingestellt wurden, machte sich bemerkbar. Eine landeseigene Ausbildung von Medizinern fand nicht vor der Mitte des 17. Jahrhunderts statt und konnte bis ins folgende Jahrhundert hinein den Bedarf nicht einmal annähernd decken.

Die größte Gruppe der Mediziner, deren Herkunft mit einiger Sicherheit bestimmt werden konnte, stellten Einwanderer aus den deutschen Ländern. Es folgen – und das überrascht – Weißrussen, Litauer und Polen, in einer Kategorie zusammengefasst, da alle dem Herrschaftsbereich Polen-Litauens zuzuordnen waren. An dritter Stelle stehen Engländer und Schotten, anschließend Niederländer, Dänen, Griechen und weitere west- und nordeuropäische Mediziner. Die Konjunktur der Herkunftsgruppen folgte dabei, wie Dumschat darlegt, den wechselnd intensiven Außenbeziehungen des Moskauer Russlands zu den jeweiligen Ländern.

Bleibt die Frage, ob und wie sich der Einfluss der ausländischen Mediziner auf die russische Kultur quantifizieren bzw. qualifizieren lässt. Dumschat formuliert für den Bereich des Wissenstransfers vorsichtig, „dass die ausländischen Mediziner maßgeblich daran beteiligt waren, die westliche ,Schul’-Medizin im Moskauer Staat soweit ,salonfähig’ zu machen, wie das russische Umfeld zu einer Rezeption bereit war“ (S. 551). Diese Rezeption aber, das macht Dumschat auch an anderer Stelle deutlich, war von russischer Seite aus eine aktive, selektive und modifizierende (S. 354). Der kulturelle Austausch zwischen ausländischen Medizinern und russischer Gesellschaft lässt sich noch schwerer fassen: „Eine ‚messbare‘ und inzwischen nachgewiesene Wirkung lässt sich eher in Bezug auf die Gesamtheit der in Moskau ansässigen Ausländer festmachen.“ (S. 556)

Insgesamt bietet Dumschat eine imponierende Arbeitsleistung auf einer breiten Quellenbasis. Sie formuliert ihre Erkenntnisse, abgesehen von einigen schwächeren Passagen, präzise und souverän. In ihrer Studie stellt sie die Wanderungsbewegungen medizinischer Spezialisten nach Russland bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts und deren medizinische und außerfachliche Tätigkeiten erstmals so differenziert und mit reichhaltigen prosopografischen Details dar. Das Werk kann damit als wichtige Grundlage für weitere Forschungen dienen.

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