G. Carleton: Sexual Revolution in Bolshevik Russia

Titel
Sexual Revolution in Bolshevik Russia.


Autor(en)
Carleton, Gregory
Reihe
Pittsburgh Series in Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Oberländer, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas, Humboldt-Universität zu Berlin

Der praktische Aufbau des Sozialismus in einem Lande spielte sich nicht nur auf sowjetischen Großbaustellen ab. Zentral für den Erfolg des Menschheitsprojektes sollte die Transformation des Einzelnen sein, dessen Umerziehung zum Neuen Menschen. Die Frage nach der Rolle der Sexualität drängte sich dabei unmittelbar auf. Was war Sexualität unter diesen neuen Vorzeichen? Eine alltägliche Handlung wie Hände waschen? Der bloße Akt der physischen Reproduktion? Oder der Hort der Konterrevolution? Laut Gregory Carleton waren in den 1920er-Jahren alle Antworten erlaubt. Sexualität war zentraler Schauplatz ideologischer Auseinandersetzungen zwischen der Partei und ihrer Jugendorganisation (Komsomol). Gregory Carleton zeigt durchaus überzeugend, dass die revolutionären Lebensentwürfe der Bolschewiki zunächst nicht zu einer einzigen Vorstellung über die richtige Sexualität führten, sondern ein ganzes Feld der Möglichkeiten eröffneten: Vom puritanischen Kämpfer für die gerechte Sache, der Sex für eine Abweichung von der Parteilinie hielt, bis hin zum (selbst-)bewussten Arbeiter, der Sex als sein Recht und jede sich wehrende Frau als Konterrevolutionärin begriff. Sie alle beriefen sich auf die neuen Bedingungen seit der Oktoberrevolution 1917, nur verstand jeder etwas anderes darunter. Diese Uneindeutigkeiten hinsichtlich der sexuellen Revolution spiegelten sich auch in der Literatur der frühen 1920er-Jahre wider. Sie liefert das Quellenmaterial für Carletons Buch.

Ein leichtes Erbe ist es nicht, das Gregory Carleton mit seiner Untersuchung der sexuellen Revolution im Russland der 1920er-Jahre antritt. Schließlich gibt es bereits einen Klassiker zu diesem Thema: Eric Naimans „Sex in Public“.1 In ihrer Quellenauswahl sind sich beide Studien sehr ähnlich. Wie Naiman arbeitet auch Gregory Carleton mit literarischen Quellen, über weite Strecken sogar mit denselben Romanen. Der Unterschied liegt im Argument. Während bei Naiman Sexualität als Instrument der Partei begriffen wird, um das Privatleben der Sowjetbürger/innen kontrollieren zu können, will Gregory Carleton die Ambivalenzen nicht nur innerhalb der Partei, sondern aller Beteiligten betonen, die sich in den 20er-Jahren die Frage stellten, welche Rolle Sexualität in einer kommunistischen Gesellschaft zu spielen habe. Die vermeintlich gegensätzlichen Positionen von Staat und Bürger, Partei und Literatur, Regierung und Jugend, oben und unten verhindern den Blick auf die vielen möglichen und unterschiedlichen Nuancen und Dimensionen des Diskurses über Sexualität. „A focus on ambiguities […] may seem to deflect attention from the top party leaders as the central agents of Soviet culture“ (S. 17).

Sein Buch ist eine explizite Auseinandersetzung mit – und wie Gregory Carleton behaupten würde – ein Weiterdenken von Naimans Thesen. Was wurde über Sexualität in den 1920er- Jahren geschrieben und warum? Wie wurde es von den unterschiedlichsten Stellen wahrgenommen und verstanden? Wie fanden sich die Jugendlichen in diesem ungewohnten Diskurs wieder? Wie gingen sie mit Sexualität um als etwas, das einerseits den Zwecken der Partei und der Revolution, andererseits ihren eigenen Bedürfnissen zu dienen hatte? Die Literaten der 20er-Jahre hatten sich in diesem Dschungel von Fragen ebenfalls zu positionieren, zu einer Zeit als die Standards für die „richtige“ Literatur noch ausgehandelt wurden. Durfte die Literatur überhaupt über Frauen schreiben, die eher Nymphomaninnen als hingebungsvollen Genossinnen glichen? Durfte sie also Realitäten abbilden oder sollte sie Visionen entwerfen?

Gregory Carleton beschreibt einen Wandel von Offenheit zur Selbstzensur, den die Literaten im Verlaufe der 1920er-Jahre durchliefen und dessen Höhepunkt die Auseinandersetzung um drei umstrittene Romane der Jahre 1926/27 bildete. Bis zu diesem Zeitpunkt erschienen regelmäßig literarische Werke, die die Themen Sexualität und Alltag explizit und schonungslos zum Gegenstand machten. Das Thematisieren von Gewalt oder Masturbation führte dabei immer wieder dazu, dass die Autoren dieser Romane sich einerseits gegenüber der Partei für vermeintliche Schundliteratur zu rechtfertigen hatten, während sie andererseits mit diesen Themen, beispielsweise im Komsomol, auf großes Interesse stießen. Die Kritiker dieser Form von Literatur griffen dabei auf Argumente zurück, die an „wissenschaftliche Erkenntnisse“ der vorrevolutionären Zeit anknüpften. Der Hinweis darauf, dass zuviel Sex die körpereigenen Energieressourcen mindere und damit zu wenig Enthusiasmus für die revolutionäre Sache übrig bleibe, war ebenso beliebt wie das Insistieren auf einer konterrevolutionären Haltung bei zuviel Sex: Wer zuviel an das Ich denke, denke zuwenig an das Wir. Dass die Romane Aleksandra Kollontajs von diesen Argumentationsmustern nicht verschont blieben, macht große Teile des ersten Kapitels aus, ist aber keineswegs eine neue Erkenntnis.

In der ausschließlichen Verknüpfung von Sexualität mit der Kategorie Klasse erschöpfte sich die Originalität der Bolschewiki, so Gregory Carleton. Sexualität wurde in den Dienst der revolutionären Sache genommen. Denn in jeder sexuellen Handlung musste entweder ein Beitrag zu oder ein Abzug von der revolutionären Sache erkennbar sein. Diese grundlegende Gemeinsamkeit übersieht Carleton leider bei seiner Suche nach dem Beweis dafür, dass die Partei nicht die einzige Vollstreckerin des Sagbaren war.

Carleton widmet sich ausführlich den unterschiedlichen Stimmen, die noch jeden Roman und jede Erzählung, in der Sex – wenn auch nur nebensächlich – vorkam, kommentierten. Dabei reproduziert er viel Bekanntes, während so manches Unbekannte und Neue untergeht. Besonders schade ist dies im Falle von Leserbriefen oder öffentlich geführten Diskussionen, die Gregory Carleton im vierten Kapitel untersucht. Einfache Parteimitglieder, Studenten und Arbeiter baten um Rat in sexuellen Fragen. Zumindest in den von Carleton zitierten Fällen ging es dabei nie um die eigene subjektive Befriedigung. Sexualität wurde von den Ratsuchenden selbst bereits in den Kategorien richtig und falsch, der Revolution dienlich oder schädlich, vorgetragen. In den Antworten der Parteikader wiederum wurde diese Haltung nie gewürdigt, sondern leistete allenfalls prüden Vorstellungen von Sexualität Vorschub. Vor allem im Lichte dieses vierten Kapitels ist die These von der Vielstimmigkeit in Sachen Sexualität schwer nachvollziehbar.

Mit der Diskussion um drei Romane von Romanow, Malaschkin und Gumiljewski im Jahre 1926 nimmt die Vielstimmigkeit in Sachen Sexualität ein Ende, so Gregory Carleton. Dabei sind es ihm zufolge aber eher die Literaten selbst sowie Mitarbeiter der Zensur, die Maßgaben für Eindeutigkeiten fordern. Diese Eindeutigkeiten werden dann in der Form eines Kanons (Sozrealismus) bis zum Beginn der dreißiger Jahre entwickelt und fortan durchgesetzt. Allerdings will Carleton auch hier betonen, wie wenig die Partei mit einer Stimme sprach und wie sehr sie umgekehrt auf die Bedürfnisse von unten reagierte. Dies mag zwar eine richtige Beobachtung sein, erklärt aber leider nicht das offensichtliche Bedürfnis von unten nach Eindeutigkeiten. Hier hätten die tatsächlich über Naiman hinausweisenden Fragen beginnen können: Die Fragen nach dem „ich“, nach dem Subjekt in der sowjetischen Gesellschaft. Wie kommt es, dass Menschen bereit sind, sogar ihr sexuelles Bedürfnis in den Dienst einer revolutionären Sache zu stellen? Warum finden sie das wichtig? Wie sehr haben sich also die Menschen in der frühen Sowjetunion bereits selbst erfunden? Das wären Fragen gewesen, die man mit Gregory Carletons reichhaltigem Material durchaus hätte beantworten können. Stattdessen begnügte er sich damit, noch einmal etwas zu den alten Dichotomien von Partei und Gesellschaft sagen zu wollen und sie dabei aber statt zu dekonstruieren, zu bestätigen. Gregory Carleton gibt sich leider mit Erkenntnissen zufrieden, die den heutigen Forschungsstand kaum weiterbringen. In Sachen Sexualität in der frühen Sowjetunion wird Eric Naiman der Klassiker bleiben.

Anmerkungen:
1 Naiman, Eric, Sex in Public: The Incarnation of Early Soviet Ideology, Princeton 1997.

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