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Titel
Medienkarrieren. Biographische Studien über Hamburger Nachkriegsjournalisten 1946-1949


Autor(en)
Sonntag, Christian
Erschienen
München 2006: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Lührs, Forschungsstelle zur Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland; Department Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften, Universität Hamburg

„Durch die Denazifizierung ist viel Unglück und viel Unheil angerichtet worden. Die wirklich Schuldigen an den Verbrechen, die in der nationalsozialistischen Zeit und im Kriege begangen worden sind, sollen mit aller Strenge bestraft werden. Aber im Übrigen dürften wir nicht mehr zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden: die politisch Einwandfreien und die Nichteinwandfreien. Diese Unterscheidung muss baldigst verschwinden.“ 1 Im Jahr 1949, als Adenauer dies in seiner Regierungserklärung sagte, war seine Forderung in vielen Bereichen bereits Realität. Eine der Berufsgruppen, für die das zutrifft, waren Journalisten. Ihren Karrieren widmet sich, über die Brüche Mitte des letzten Jahrhunderts hinweg, der Historiker und Journalist Christian Sonntag in dem vorliegenden Buch. Grundsätzlich ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema nicht neu 2, aber Sonntag will konkretisieren, was dank „einer selbstzufriedenen ‚Alles-längst-bekannt’-Einstellung“ (S. 12) von Wissenschaft und Journalismus bisher unbehandelt blieb: Mit Hilfe „der Methodik der quantitativen Sozialforschung“ liefert er eine „kollektive Biographie“ (S. 14) nahezu aller zwischen 1946 und 1949 in Hamburg tätigen Journalisten. Seine Kernfrage dabei ist die nach der nationalsozialistischen Belastung der Hamburger Journalisten bzw. der Zusammensetzung der Hamburger Zeitungsredaktionen. Dafür wertet die Arbeit, die 2005 von der Universität Hamburg als Dissertation angenommen wurde, Biografien von 308 Journalisten aus, die in sieben Hamburger Nachkriegszeitungen arbeiteten.

Das Buch umfasst 13 Kapitel beziehungsweise vier Themenkomplexe. Der erste beschäftigt sich mit den Rahmenbedingungen des Journalismus im Dritten Reich und in der jüngeren Nachkriegszeit. Sonntag greift darin vor allem auf Standardwerke zum Thema zurück und beschreibt prägnant die nationalsozialistische Pressepolitik, die anglo-amerikanischen Presseplanungen und die britische Presseführung und Personalpolitik. Im zweiten Teil geht Sonntag auf die lizenzpflichtigen Zeitungsgründungen nach 1945 unter britischer und später unter deutscher Kontrolle ein. Einzeln für die parteinahen Zeitungen Hamburger Echo, Hamburger Volkszeitung, Hamburger Freie Presse, Hamburger Allgemeine Zeitung, für die unabhängigen Zeitungen Die Welt, Die Zeit und schließlich Axel Springers Hamburger Abendblatt, die erste von Deutschen lizenzierte Zeitung in Hamburg, stellt Sonntag Vorgeschichte, Konzeption, Erfolg und – was Kern seiner Arbeit ist – Personalpolitik und Redaktionszusammensetzung dar. Aufgeschlüsselt nach Jahrgang, Geschlecht, Ausbildung, beruflichem Werdegang und Stellung in der Nachkriegspresse zeigt Sonntag, wie sich die Redaktionen zusammensetzten. Hier wird deutlich, dass zwar Spitzen der Hierarchie streng kontrolliert wurden, der Erfolg der Entnazifizierungsmaßnahmen aber schon unterhalb dieser Ebene mehr oder weniger zufällig war. Die Entnazifizierungsvorgaben der Briten wurden angesichts der Personalnot zunehmend vage und weichten auf.

Wie unterschiedlich strikt die Entnazifizierungsrichtlinien angewendet wurden, zeigt der dritte Komplex. Durch Biografien von Alfred Frankenfeld, Rudolf Küstermeier, Rolf Seutter von Loetzen, Erich Hoffmann, Ernst Samhaber, Ilse Elsner, Rudolf Michael, Jürgen Schüddekopf, Ernst Friedländer und Peter Blachstein wird außerdem deutlich, wie heterogen die Gruppe der Hamburger Nachkriegsjournalisten war. Der vierte Teil, der die Einzelschicksale noch einmal in einen größeren Kontext setzt, befasst sich mit der Auswertung des gesamten Biografien-Samples. Entsprechend den Lebenswegen den Kategorien Kontinuität, Restauration (oder Wiederanfang) und Neuanfang zugeordnet, untermauert Sonntag am Hamburger Beispiel eindrucksvoll, dass es keinen umfassenden personellen Bruch im Hamburger Journalismus gab, auch wenn führenden NS-Publizisten der Wiedereinstieg verwehrt blieb. In den meisten Fällen überwog Kontinuität (57 % des Samples) gegenüber der Restauration (20%) und dem Neuanfang (23 %) (S. 269). Journalisten konnten über die Zäsur hinweg relativ nahtlos weiter schreiben – häufig trotz recht eindeutiger Belastung – ihr lediglich opportunistisches Arbeiten im Nationalsozialismus vorschützend: „Wer glaubhaft versicherte, Artikel im Sinne der NS-Propaganda nur aus taktischen Gründen und gegen die eigene Überzeugung geschrieben zu haben, dem eröffnete sich die zweite Chance ganz schnell.“ (S. 297)

Deutlich wird bei der Untersuchung außerdem, dass es nur bedingt zum Generationenwechsel kam. Sonntag unterscheidet vier Generationen (geboren bis 1900, von 1900 bis 1914, zwischen 1915 und 1925, von 1925 bis 1930) und kommt zu dem Ergebnis: Ältere Journalisten mit Erfahrungen aus mehreren politischen Systemen wurden bei der Vergabe von Führungspositionen gegenüber den Jüngeren, die hauptsächlich zwischen 1933 und 1945 gearbeitet hatten, vorgezogen (S. 275f.). Das mag teilweise auch an Seilschaften gelegen haben, die Sonntag nachweist: Viele der Hamburger Nachkriegsjournalisten waren männliche Berlin-Flüchtlinge, die in Hamburg, das Berlin als Medienmetropole ablöste, unter sich blieben (S. 291). Der Frauenanteil war vorerst dementsprechend gering, aber immerhin 38 % der Volontäre waren weiblich: „Erstmals in der Geschichte des deutschen Journalismus drängten Frauen in nennenswerter Zahl dauerhaft in den Beruf“ (S. 278).

Sonntag bilanziert: „Es gehört zu den großen Enttäuschungen in der Geschichte des Journalismus in Deutschland, dass die Vertreter der Gegenwelt des NS-Staates, die Küstermeiers und Friedländers, die Blachsteins und Mennes in der Nachkriegspresse Ausnahmeerscheinungen waren und gegenüber den NS-Schriftleitern, den Michaels, von Loetzens, Schüddekopfs und Winbauers in der Minderheit blieben.“ (S. 298) Mit diesem Ergebnis untermauert Sonntag die Arbeiten von Frei und Schmitz 3, Hachmeister und Siering.

Insgesamt zeichnet sich die Arbeit durch eine klare Struktur aus. Positiv ist außerdem, dass es Sonntag trotz aller Wissenschaftlichkeit gelingt, einen ansprechenden Textkorpus abzuliefern, auch wenn das Lesen der statistischen Auswertung am Ende etwas Beharrlichkeit erfordert. In seltenen Fällen stört das nachlässige Lektorat (z.B. bei Doppelungen auf S. 48, 77). Rundfunkhistoriker werden angesichts dieser detaillierten Studie neben kleineren Fehlern – Axel Eggebrecht, ein früher Rundfunk-Mitarbeiter, gab nach 1945 die Nordwestdeutschen und nicht die Norddeutschen Hefte heraus (S. 34) – monieren, dass die Bedeutung, die der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) für die britische Besatzungszone hatte, etwas zu kurz kommt. Hier bestehen ebenso wie bei weiteren Darstellungen anderer Kollektive von Medienschaffenden noch Lücken, die diese Arbeit sicher nicht schließen, für deren Bearbeitung sie aber eine Grundlage sein kann. Auch eine textbasierte Analyse wäre wünschenswert – Sonntag liefert zwar beispielhaft Ausschnitte aus einzelnen Artikeln und vergleicht die Berichterstattung über die Nürnberger Prozesse, aber das lässt sich ausbauen.

Das Fazit muss trotz dieser kleinen Kritikpunkte lauten, dass es Sonntag passend zum 60-jährigen Jubiläum der Gründung der demokratischen Presse in Nachkriegsdeutschland gelungen ist, einen überzeugenden und wichtigen Beitrag zur Geschichte der Publizistik zu liefern. Die Auswertung eines nahezu vollständigen Journalisten-Kollektivs, die diese regionale Studie liefert, konkretisiert, was an sogenannten Elite-Journalisten bereits nachgewiesen wurde, und erweitert den Blick auf alle hierarchischen Ebenen des journalistischen Schaffens.

Anmerkungen:
1 Beyme, Klaus von (Hg.), Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt, München 1979, S. 53-73.
2 Vgl. unter anderem: Koszyk, Kurt, Kontinuität oder Neubeginn? Massenkommunikation in Deutschland 1945-1949, Siegen 1981; Koszyk, Kurt, Pressepolitik für Deutsche 1945-1949. Geschichte der deutschen Presse Teil IV. Berlin 1986; Köhler, Otto, Wir Schreibmaschinentäter. Journalisten unter Hitler – und danach, Köln 1989; Köpf, Peter, Schreiben nach jeder Richtung: Goebbels Propagandisten in der westdeutschen Nachkriegspresse, Berlin 1995; Weiß, Matthias, Journalisten: Worte als Taten, in: Frei, Norbert (Hg.), Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt am Main 2001; Hachmeister, Lutz; Siering, Friedemann (Hgg.), Die Herren Journalisten. Die Elite der deutschen Presse nach 1945, München 2002.
3 Frei, Norbert; Schmitz, Johannes (Hgg.), Journalismus im Dritten Reich. München 1989.

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