H. Ehlert u.a. (Hrsg.): Schlieffenplan

Titel
Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente


Herausgeber
Ehlert, Hans; Epkenhans, Michael; Groß, Gerhard P.
Reihe
Zeitalter der Weltkriege 2
Erschienen
Paderborn 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Pöhlmann, München

Neben dem Kennan-Zitat von der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gibt es im Zusammenhang mit der Geschichte des Ersten Weltkrieges kaum ein prominenteres Schlagwort als das vom „Schlieffenplan“. Dass die Deutschen im August 1914 den Krieg auf der Grundlage des „Schlieffenplans“ begannen, glaubt heute jedes Kind zu wissen. Der vermeintliche Masterplan hatte großen Einfluss auf die Handlungsoptionen der Entscheidungsträger in der Krisensituation von 1914 und zeitigte eminente völkerrechtliche Folgen für das Deutsche Reich. An Schlieffen, so konstatieren die Herausgeber einleitend (S. 7), führe kein Weg vorbei, wolle man sich ernsthaft mit der preußisch-deutschen Militärgeschichte und dem Ersten Weltkrieg beschäftigen. „Leider“, hört man im Geiste Legionen von Kulturhistoriker stöhnen.

Kurz zusammengefasst sah die vornehmlich durch die gleichnamige Schrift Gerhard Ritters von 1956 geförderte Kenntnis um den Schlieffenplan bislang so aus1: Angesichts der geostrategischen Lage des Deutschen Reichs, der sich verschlechternden Bündniskonstellation und der sich zuungunsten Deutschlands verändernden Heeresstärken habe der Chef des Generalstabes der Armee, Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen zwischen 1891 und 1905 einen zentralen operativen Grundgedanken entwickelt, nach dem die deutschen Truppen im Falle des befürchteten Zweifrontenkrieges gegen Frankreich und Russland zunächst die Masse des Heeres nach Westen werfen und dort das französische Heer in einer gigantischen Umfassungsoperation besiegen sollten. Anschließend sollten die Armeen gegen den russischen Gegner gewendet werden, bei dem man ein langsameres Mobilmachungstempo in Rechnung stellte. Diesen Grundgedanken legte Schlieffen anlässlich seiner Verabschiedung Ende 1905 seinem Nachfolger, dem Generaloberst Helmuth von Moltke, in Form einer Denkschrift vor. Nun brachte der „Plan“ (der tatsächlich allenfalls eine Denkschrift war) einige Probleme mit sich, etwa den Umstand, dass Schlieffen dabei Truppen veranschlagte, die damals gar nicht existierten. Auch der in der Denkschrift vorgesehene Bruch der Neutralität Hollands, Belgiens und Luxemburg war außenpolitisch höchst problematisch. Für die weitere Betrachtung ist auch der Umgang Moltkes mit dem „Vermächtnis“ seines Vorgängers von Bedeutung. Denn dieser verzichtete wenigstens auf den Bruch der holländischen Neutralität und modifizierte die Dislozierung der Verbände. Als Moltke 1914 die deutsche Armee auf der Basis dieses operativen Gedankens in den Krieg führte und scheiterte, traten bald Kritiker auf, die in seiner Veränderung des ursprünglichen Plans Schlieffens eine unheilvolle „Verwässerung“ desselben sahen. Je nach politischem Standpunkt und dem weiteren Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnisse um die deutsche Kriegsplanung vor 1914 offenbarte sich im „Schlieffenplan“ also ein geniales Rezept für den Sieg, ein militärisches Vabanquespiel, stupides Technokratentum oder der Ungeist des preußisch-deutschen Militarismus.

In seinem, aus einer Würzburger Dissertation entstandenen Buch „Inventing the Schlieffen Plan“ hat der US-amerikanische Historiker Terence Zuber 2003 diese Orthodoxie auf der Basis umfassender Archivrecherchen und einer dezidiert operationsgeschichtlichen Herangehensweise in Frage gestellt.2 Das militärische Denken und Planen des Generalstabschefs sei keineswegs als eine Einbahnstraße in Richtung auf den einen, großen Plan zu interpretieren. Tatsächlich präsentierten Schlieffens Kriegsspiele und Generalstabsreisen einen taktisch und operativ viel flexibleren militärischen Denker. Im Falle eines Krieges mit Frankreich habe dieser den Gegner nicht mit einer gigantischen Offensive umfassen und vernichten, sondern die angreifende französische Armee grenznah in einer Reihe von Gegenangriffen zerschlagen wollen. Erkenne man diese letztlich defensive Operationsplanung an, so lasse sich auch der Vorwurf eines deutschen „Angriffskrieges“ nicht aufrechterhalten.

Zu Zubers Thesen entwickelte sich eine rege Debatte in der britischen Zeitschrift „War in History“. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) veranstaltete 2004 in Potsdam eine Tagung zum Thema. Noch einmal trafen die – mittlerweile sichtlich ermüdeten und auch entnervten – Kontrahenten der Debatte aufeinander. Die Ergebnisse sind in dem hier zu besprechenden Band zusammengetragen und durch eine Edition neuer Quellen ergänzt worden.

In seinem Einleitungsbeitrag wirft Klaus Hildebrand zunächst den gewandten, weiten und damit den taktischen Niederungen des Themas entrückten Blick über die Akteure und das System der europäischen Staatenwelt vor 1914. Der Übergang zum Beitrag von Terence Zuber kann so nicht holpriger geraten: Denn Letzterer nutzt seinen Beitrag nur noch bedingt dazu, seine Thesen für das hier anvisierte, breitere wissenschaftliche Publikum zu formulieren, sondern verzettelt sich in Polemik gegen seine Kontrahenten und Vorwürfen gegen die Potsdamer Konferenzleitung. Was übrig bleibt, ist ein Elaborat, dem es an der Klarheit des Gedankens fehlt und mit dem er sich selbst stark unter Wert verkauft.

Annika Mombauer macht sich ihrem Beitrag zunächst einmal daran, die beiden Pläne Schlieffens und Moltkes zu vergleichen, um sich dann kritisch mit Zubers These von der vermeintlich defensiven Orientierung Schlieffens auseinanderzusetzen. Wie sie an einer Vielzahl von Quellen aufzeigen kann, sei es dem Generalstabschef durchaus um den schnellen, großen Schlag gegen Frankreich gegangen, weshalb er auch dem Präventivkrieg das Wort geredet habe.

Der Schlieffen-Experte Robert Foley schließt mit einer aufschlussreichen Kritik an Zubers Thesen und Methode an. Dieser habe nicht nur zentrale Quellen, wie das so genannte „Dieckmann-Manuskript“ falsch interpretiert, sondern gehe überhaupt sehr selektiv und dekontextualisierend in seiner Quellennutzung vor (S. 116). Auch sei es historisch falsch, die Übungsanlagen bei Kriegsspielen und Generalstabsreisen als operative Blaupausen für den Ernstfall zu betrachten. Tatsächlich haben diese Übungen zum guten Teil der Erprobung operativer Alternativen und der Aus- und Weiterbildung des Generalstabsoffizierkorps gegolten.

Gerhard P. Groß fasst noch einmal die einzelnen Thesen Zubers konzise zusammen, um sie dann auf der Basis der vorangegangenen Debatte weitgehend zu widerlegen. Er tut dies aber auch – und hierin zeigt sich ein enormer Gewinn aus der Diskussion – auf der Basis von Quellen, die erst im Verlauf der Debatte und durch diese motiviert ans Tageslicht gekommen sind. Dazu gehören eine weitere, bislang unbekannte Abschrift von Schlieffens Denkschrift sowie bedeutende Quellenabschriften zur deutschen Aufmarschplanung zwischen 1893 und 1915, mit denen Zubers These von Schlieffens operativer Flexibilität zumindest für seine konkrete Aufmarschplanung nicht zu halten ist. Diese Dokumente finden sich im Anhang editiert, dankenswerterweise und anderen Verlagen zum Vorbild gereichend mit hervorragendem Kartenmaterial.

Die weiteren Beiträge gehören nicht in den engeren Zusammenhang der Zuber-Kontroverse sondern präsentieren die europäischen Kriegs- und Aufmarschplanungen vor 1914. Dieter Storz zeigt in einer sehr sorgfältigen Fallstudie auf, wie sich die operativen Planungen und die davon doch sehr abweichenden Realität am linken deutschen Heeresflügel in Lothringen und am Oberrhein im August/September 1914 gestalteten. Günther Kronenbitter arbeitet heraus, wie die Mittelmächte ohne gemeinsamen Operationsplan in den Krieg traten. Stephan Schmidt untersucht anhand des französischen „Plans XVII“ die Interdependenz von Außenpolitik und militärischer Planung in der Republik. Jan Kusber stellt die Kriegsplanungen und -vorbereitungen der russischen Armee vor. Hew Strachan präsentiert die britischen Planungen vor dem Hintergrund der schwer in Einklang zu bringenden globalen bzw. kontinentalen Verpflichtungen. Die strategischen Planungen der neutralen Staaten und ihre jeweilige Rolle in der Strategie der Großmächte untersuchen Luc de Vos für Belgien und Hans Rudolf Fuhrer/Michael Olsansky für die Schweiz. Allen Beiträgen ist gemein, dass sie den gegenwärtigen Forschungsstand gut erfassen und Kriegs- und Aufmarschplanung als internationales und interdependentes Phänomen deutlich machen, was bei der traditionellen, nationalen Perspektive leider oftmals unterbelichtet bleibt.

Schon aus diesem Grunde ist der Sammelband unbedingt zu empfehlen. Für die Zuber-Debatte dürfte er den Schlussstein bilden. Die Argumente scheinen ausgetauscht. Wenn auch Zubers Thesen in den meisten Fällen widerlegt sind – nicht zuletzt aufgrund der von Gerhard Groß ermittelten Quellen –, so hat er doch immerhin selbst eine Menge von neuen Quellen aufgetan. Diese lassen die Arbeit des preußisch-deutschen Generalstabes in vielen Punkten in schärferem Licht erscheinen. Die Debatte machte aber auch deutlich, das die wissenschaftlichen Kenntnisse um die Institution, die vor 1914 an der Matrix des Millionenheeres arbeitete, doch mitunter nicht so gut beschaffen sind. Wo die Ideologiekritik an die Stelle der Sachkritik getreten war, da gilt es heute auch, etablierte Orthodoxie kritisch zu prüfen. Anreize dazu bietet der Band in großer Zahl.

Anmerkungen
1 Ritter, Gerhard, Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos, München 1956.
2 Zuber, Terence, Inventing the Schlieffen Plan. German War Planning 1871-1914, Oxford 2003.

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