H. Afflerbach (Bearb.): Wilhelm II.

Titel
Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr im Ersten Weltkrieg. Quellen aus der militärischen Umgebung des Kaisers 1914-1918, bearb. v. Holger Afflerbach


Herausgeber
Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Reihe
Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 64
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
1.051 S.
Preis
€ 118,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Epkenhans, Univesität Hamburg, Otto-von-Bismarck-Stiftung

Kaum ein Monarch der europäischen Geschichte hat Zeitgenoss/innen und Historiker/innen derartig abgestoßen, irritiert oder fasziniert wie der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II. Angestoßen durch den deutsch-britischen Historiker John Röhl, beschäftigt sich die Forschung inzwischen intensiv mit diesem „Fabeltier“ (Daniel Chamier). Eine unverzichtbare Ergänzung dieser Arbeiten bildet die hier zu besprechende Edition von Holger Afflerbach. Warum?

Der Nachlass Wilhelms II. ist nur in Teilen erhalten. Wichtige Dokumente wurden nach seinem Gang ins holländische Exil bewusst vernichtet oder gingen in den Wirren des Zweiten Weltkrieges verloren. Umso mehr ist die Forschung auf Quellen aus dessen Umfeld angewiesen. Zu den wichtigsten Personen in diesem Umfeld gehörten für annähernd zwei Jahrzehnte der Chef des Militärkabinetts, Generaloberst Moriz v. Lyncker, und der Generaladjutant des Kaisers, Generaloberst Hans v. Plessen, deren lange verschollenen Briefe bzw. Tagebücher hier erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgelegt werden. Diese Quellen helfen, den letzten Kaiser in einer seiner wichtigsten Funktionen, der des Obersten Kriegsherrn, zu beschreiben.

Anders als häufig geschehen, nimmt Afflerbach Wilhelm II. ernst. Wilhelm war, wie Afflerbach in seiner Einleitung und in den beiden biografischen Skizzen mit viel Einfühlungsvermögen für Personen und Zeit überzeugend deutlich macht, mehr als nur ein „Schattenkaiser“: „Er war in die Vorgänge innerhalb der deutschen Führung tief involviert und hat vieles, und zwar auch viele Entscheidungen von allergrößter Wichtigkeit maßgeblich beeinflusst.“ (S. 7) Dies bedeutet freilich nicht, dass die Geschichte nunmehr völlig umgeschrieben werden muss. Auf 964 Seiten misst Afflerbach vielmehr den Einfluss des Kaisers im Guten wie im Schlechten konkret aus.

Die von ihm herangezogenen Quellen bestätigen einmal mehr, dass Wilhelm II. auf die Operationen zu Lande – zur See sah dies ein wenig anders aus – tatsächlich keinen Einfluss hatte. Angesichts der Einsicht in die Begrenztheit seiner Kenntnisse bei der Führung eines modernen Millionenheeres versuchte er allerdings auch gar nicht, den Generalstab seiner Kontrolle zu unterwerfen. Dennoch war Wilhelm II. nicht ohne Einfluss. Da „die tatsächliche Quelle kaiserlicher Macht“ (S. 25-35) die Personalpolitik war, konnte er viele Entscheidungen direkt oder indirekt in seinem Sinne beeinflussen. Dies zeigen – ungeachtet massiven Drängens einflussreicher Berater, des Kronprinzen und vor allem auch seiner Frau – sein langes Festhalten an Erich v. Falkenhayn oder an dem von vielen kritisierten Kanzler Theobald v. Bethmann Hollweg. Selbst ein vermeintlich mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteter General wie Erich Ludendorff gestand die Grenzen seiner Macht – „an den Kaiser [käme] er nicht heran“, ließ dieser einen darüber enttäuschten Walther Rathenau wissen (S. 33) – mehrfach offen ein.

Auch in anderen Bereichen sollte der Einfluss Wilhelms II. nicht unterschätzt werden, wie die Entscheidungsfindung bei der Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkrieges zeigt. Wilhelms Wankelmütigkeit in dieser Frage macht freilich auch deutlich, dass er die Rolle, die er seinem eigenen Selbstverständnis zufolge in dieser wie auch in allen anderen Fällen eigentlich hätte spielen sollen – die des „Obersten Kriegsherrn“, der einer „Art strategische[m] Entscheidungsforum“ (S. 25) präsidierte – aufgrund seines ganzen Charakters in keiner Weise auszufüllen vermochte. Das von Afflerbach ausführlich beschriebene Verhalten des Kaisers in der „Julikrise“, in der er sich am Ende eher widerwillig für den Krieg entschied, ist ebenfalls ein gutes Beispiel für dieses Versagen.

An den Folgen der Entscheidung für den Krieg und damit zugleich seiner eigenen inneren Zwiespältigkeit sollte Wilhelm II. bis Kriegsende leiden. Selten zuvor hat ein Autor in dieser Dichte dokumentieren können, wie sehr Wilhelm II. seit Kriegsbeginn an Depressionen und regelrechten Angstzuständen litt, sich in Krankheiten und dementsprechend tagelang ins Bett flüchtete, um der Realität zu entfliehen. Viele Angehörige seiner Umgebung einschließlich des Kronprinzen zweifelten daher bald an seinem Geisteszustand, dachten, wie Tirpitz, zeitweise sogar daran, den Kaiser regelrecht zu entmachten. Andere Mitglieder seiner näheren Umgebung, zu denen neben Plessen und Lyncker vor allem die weithin unbeliebte Kaiserin gehörte, versuchten genau dies zu verhindern. Konsequent munterten sie ihn auf, zogen ihm „ein gewisses Korsett von Grundansichten“ ein (S. 45) und „filterten“ zugleich die Nachrichten, die ihn erreichten. Diese Aktivitäten stützten den Kaiser, trugen allerdings dazu bei, seine Charakterschwächen zu fördern. Sein Narzissmus und seine Launenhaftigkeit, sein fehlendes Gespür für den Ernst der Lage und seine Bequemlichkeit waren daher immer wieder Gegenstand der Briefe Lynckers an seine Frau oder der abendlichen Eintragungen Plessens in sein Tagebuch.

Es ist daher nicht weiter erstaunlich, dass Wilhelm II. die Wirklichkeit des Krieges nicht wahrnahm, sie im Grunde auch nicht wahrnehmen wollte. Beim abendlichen Essen oder dem anschließenden Skatspiel mit seinen Kabinettschefs schwadronierte er in kaum erträglicher Weise über die Ereignisse an der Front, beschäftigte sich ausgiebig mit Nebensächlichkeiten oder trug – wie Lyncker genervt am 9.10.1917 nach Hause berichtete – „ungetrübte Heiterkeit [...] in frivoler Weise zur Schau“. Seine Frontbesuche waren in der Regel mehr als peinlich. Gleiches gilt für die „Heimatfront“. Die wollte er nicht sehen, und musste daher – häufig ohne Erfolg – gedrängt werden, sich in Berlin öffentlich zu zeigen.

Die biografischen Skizzen der beiden Protagonisten und die veröffentlichten Dokumente unterstreichen dieses Bild eines Monarchen, dessen Rolle zwar größer war als bisher angenommen, der seiner Aufgabe aber nicht gewachsen war. Die Ausführungen Lynckers und Plessens über den Kaiser und seine Umgebung sind insofern bedeutsam, als sich beide aufgrund ihrer jeweiligen Stellung stets in unmittelbarer Nähe zu Wilhelm II. befanden und daher über vielerlei Einflussmöglichkeiten verfügten.

Afflerbach zeichnet diese akribisch nach. Zugleich entwirft er ein eindrucksvolles Bild zweier Persönlichkeiten, die von ihrer Herkunft und ihrer politischen wie auch militärischen Sozialisation, in ihrem Weltbild und in ihrem Habitus repräsentative Altpreußen waren und diese Verbundenheit mit einer Welt, die vom Untergang bedroht war, auch gar nicht verleugneten. Doch so ähnlich beide Protagonisten auch waren, so sehr sollten sie sich im Laufe des Krieges von einander unterscheiden. Lyncker verachtete Wilhelm II. zunehmend, auch wenn er sich Mühe gab, ihn „als politische Symbolfigur nicht in Vergessenheit geraten zu lassen“ (S. 84). In politische Fragen redete er ihm aber nicht hinein, hielt sich vielmehr streng an die Grenzen seines Ressorts. Plessen war demgegenüber ein typischer Hofgeneral – manche nannten ihn, zu Unrecht, wie Afflerbach meint, den „Hofnarr[en]“, der Wilhelm II. bis zur Selbsterniedrigung ergeben war. Beide nahmen in wichtigen Fragen Einfluss, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven: Wenn Lyncker Falkenhayn, der auf seine Initiative nach der Marneschlacht den nervösen Generaloberst Helmuth v. Moltke abgelöst hatte, lange stützte, dann tat er dies zu Recht und mit, wie er meinte, guten Gründen; wenn Plessen hingegen auf die Entlassung des Kanzlers drängte und als dessen Nachfolger Georg Michaelis, einen völlig unbekannten Unterstaatssekretär (S. 907), regelrecht „erfand“ und im Zusammenspiel mit Hindenburg und Ludendorff durchsetzte, dann handelte er in jeder Hinsicht politisch und bewusst unverantwortlich.

Anders als Plessen konnte Lyncker den Kaiser bald kaum noch ertragen und widersprach ihm immer häufiger. Er musste – allerdings erst im Sommer 1918 – schließlich gehen, was er mit Erleichterung aufnahm. Schon im Oktober 1914 hatte er an seine Frau geschrieben: „Wir haben immer gehofft, dass der Krieg ihn ändern würde; aber das ist leider gar nicht der Fall.“ Der „übergetreue“ (S. 631) Plessen hielt hingegen bis zum Ende durch, drängte seinen Herrn sogar, einen Bürgerkrieg zu riskieren, um seine Krone und das damit verbundene System zu retten – vergeblich.

All dies beschreibt Afflerbach in seiner Edition, die zugleich tiefe Einblicke in die Mentalität der Protagonisten erlaubt: Welche Kriegsziele verfolgten sie, wie stellten sie sich die Zukunft vor oder wie schätzten sie den Verlauf des Krieges überhaupt ein, wie gingen sie mit persönlichen Schicksalsschlägen um – Lyncker verlor zwei Söhne, und kam darüber kaum hinweg, Plessen einen –, oder was bedeutete der Krieg für die eigene Gesundheit, den Alltag ihrer Familien und Freunde, und wie sahen sie den Krieg und den Kaiser nach der Niederlage. Hinzu kommen Beschreibungen des „Innenlebens“ im Großen Hauptquartier, in dem oft „entsetzliche, bleierne Langeweile“ (S. 613) herrschte, sowie Charakterisierungen anderer „Mitstreiter“: Moltke, Falkenhayn und Tirpitz, Bethmann Hollweg, Hindenburg und Ludendorff um nur einige zu nennen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Diese Edition ist im Hinblick auf die Erforschung des Ersten Weltkrieges unverzichtbar.

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