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Titel
Schwieriges Erinnern. Der Völkermord an den Armeniern


Autor(en)
Schaefgen, Annette
Erschienen
Berlin 2006: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram Meyer zu Uptrup, Arbeitsstelle für Gedenkstättenpädagogik, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Potsdam

„Die Kriterien der UN-Völkermordkonvention treffen auf den Völkermord an den Armeniern zu, rückwirkend ist die Konvention jedoch nicht anzuwenden. [...] Eine ehrliche und offene Auseinandersetzung zwischen Tätern und Opfern hat es […] bis heute nicht gegeben. Auch 90 Jahre nach der Tat leugnet der türkische Staat noch immer, dass es sich bei den Ereignissen von 1915/16 um einen Völkermord gehandelt hat.“ (S. 10)

Der zentrale Satz der Einleitung von Annette Schaefgens Dissertation über die Erinnerung an den Völkermord wirft Fragen auf, die auf den folgenden Seiten nur unvollständig beantwortet werden. Ein kurzer Abriss zur Geschichte der Armenier bzw. der „armenischen Frage“ im 19. Jahrhundert, der einen Überblick über bekannte Fakten gibt, die man sich zuvor an verstreuten Orten zusammensuchen musste, leitet die Darstellung ein. Knappe Erläuterungen zentraler Begriffe und Ereignisse folgen („Der kranke Mann am Bosporus“, Berliner Kongress 1878, Massaker von 1895/96, Jungtürken), abgeschlossen von einer Skizze zum Völkermord, in der der systematische Charakter der vorgeblichen „Umsiedlungen“ betont wird. Da das Verbrechen nicht unbemerkt geblieben war – das Aktenkonvolut im Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin ist einer von vielen Belegen –, schob die jungtürkische Regierung im Mai 1915 eine Pseudo-Rechtsgrundlage und -Rechtfertigung nach, die die zentrale Planung des Völkermordes contra intentionem demonstrierte. Die Alliierten hatten kurz zuvor von einem „Ausrottungsfeldzug gegen die Armenier“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gesprochen und angekündigt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen: Ein Vorläufer der späteren Sanktionierung von Nazi-Verbrechen waren die Unionistenprozesse, in denen auf Druck der alliierten Sieger in Konstantinopel 31 Minister und Funktionäre der Jungtürken vor Gericht gestellt wurden. Die türkische Regierung brach die juristische Verfolgung jedoch bald ab.

Einer knappen Darstellung der Diskussion um eine deutsche Mitschuld, in deren Rahmen die entscheidenden Fragen aber weder gestellt noch beantwortet werden (z.B. hinsichtlich der Beteiligung deutscher Soldaten, die in oder bei der Osmanischen Armee dienten), folgt eine Schilderung des Prozesses gegen den Mörder des jungtürkischen Haupttäters Talaat Pascha, der in der Berliner Hardenbergstraße niedergestreckt wurde. Eine Skizze zur Behandlung des Völkermordes und der Armenier im NS-Staat erwähnt auch Hitlers Äußerung vom 22. August 1939 („Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?“), ordnet sie jedoch – bei aller Unsicherheit hinsichtlich der Überlieferung – zu eng dem Kontext der Judenverfolgung zu. Festzuhalten bleibt demgegenüber, dass Hitler mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr über das Schicksal der Armenier wusste als gemeinhin angenommen wird und dass er sehr wohl in der Lage war, dieses Wissen für die Techniken seiner Herrschaftspraxis auszuwerten.

Nach 1945 spielte das Thema des Völkermordes an den Armeniern in der Bundesrepublik selten eine Rolle. Die deutsche Botschaft erinnerte in einem Bericht über die „Istanbuler Kristallnacht“ vom 6./7. September 1955, bei der es nach einem Anschlag auf das Geburtshaus von Kemal Atatürk in Saloniki (!) zu schweren Ausschreitungen gegen Griechen, Armenier und Juden gekommen war, anlässlich der Vorbereitung des Besuches von Bundespräsident Heuss an den rund 40 Jahre zurückliegenden Genozid. Selten wurde das Thema in den Länderberichten des Auswärtigen Amtes gestreift. Nach Schaefgen haben die „unvergessene Waffenbrüderschaft des Ersten Weltkrieges“ und die Tradition der Zusammenarbeit mit dem Osmanischen Reich auch die Politik der Bundesrepublik gegenüber der Türkei lange beeinflusst (S. 66). Das Interesse, das Anwerbeabkommen von 1961 reibungslos zu realisieren, hinderte die Bundesregierung jahrzehntelang, sich des Themas anzunehmen.

Der Kalte Krieg und die wirtschaftlichen Interessen rückten den Völkermord in den Hintergrund, bis die Erinnerung seit Mitte der 1980er-Jahre mit aller Macht in die Öffentlichkeit drängte – vielfach als Folge des Engagements armenischer Gemeinden in ihren neuen Heimatländern. Die Türkei versuchte weiterhin mit Vehemenz, gegen die Erinnerung vorzugehen. Im Jahr 2000 verhinderte die angedrohte Sperrung des Luftwaffenstützpunktes Inçirlik für US-Flugzeuge eine Resolution zum Genozid an den Armeniern im US-Repräsentantenhaus. Nach einer ähnlichen Resolution des französischen Parlamentes kündigte die türkische Regierung 2001 Aufträge an französische Firmen im Wert von mehreren Millionen US-Dollar (S. 65).

Wenige Seiten widmet Schaefgen den deutsch-armenischen Beziehungen. Auch die Terrorakte von Armeniern gegen türkische Repräsentanten zwischen 1973 und 1985 werden kurz gestreift, richteten sie doch die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf diesen Völkermord. In der Folgezeit positionierten sich internationale Institutionen wie der Weltkirchenrat. Ein Unterausschuss der UN-Menschenrechtskommission führte 1985 in einem Bericht über Völkermordverbrechen auch den Genozid an den Armeniern auf (S. 84). Dass die Bezeichnung „Genozid“ von türkischer Seite abgewiesen wird, ist grotesk, hat doch Raphael Lemkin seine Definition, die der UN-Völkermordkonvention zugrundeliegt, von zwei Beispielen abgeleitet: dem türkischen Völkermord an den Armeniern und dem nationalsozialistischen an den europäischen Juden.

Nach dem knappen Ausflug in die internationale Szene (der kaum dem im Buchtitel erhobenen allgemeinen Anspruch gerecht wird!) wendet sich Schaefgen wieder der deutschen Situation zu, indem sie die öffentliche Debatte seit den 1980er-Jahren nachzeichnet. Die Darstellung kulminiert in den Ereignissen des Jahres 2005; nun wurde der Völkermord zum Allgemeingut politisch-historischen Wissens in Deutschland [Schaefgens eigenes Fazit, das „Schicksal der Armenier“ sei „in Deutschland nicht allgemein bekannt“ (S. 173), irritiert deshalb etwas]. Als das Land Brandenburg auf Drängen türkischer Diplomaten einen Hinweis auf diesen Genozid aus den Lehrplänen strich, war die Empörung einhellig. Schaefgen irrt jedoch in der Annahme, dass das über Wochen anhaltende Medieninteresse auf einen Artikel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zurückgegangen sei, die am 25. Januar 2005 im Feuilleton über dieses Ereignis berichtete. Die „FAZ“ nahm sich des Armenien-Themas seit Jahren an, mit leider recht geringer Resonanz. Die publizistische Lawine wurde von einem aufmerksamen Potsdamer Journalisten losgetreten, der am selben Tag in Berliner und Potsdamer Tageszeitungen über die Lehrplankorrektur berichtete. Die Brandenburger Ereignisse gerieten infolgedessen bis in die deutschsprachige Presse afrikanischer Länder. Der Deutsche Bundestag verabschiedete sogar eine Resolution, in der die Türkei aufgefordert wurde, die historischen Tatsachen anzuerkennen. Rhetorisch weichgespült vermied die Resolution den Begriff „Genozid“ – eine Geste, die die türkische Reaktion nicht zu entschärfen vermochte.

Die Frage der Motive der Türkei spart Schaefgen aus. Auch Vergleiche mit der Erinnerungskultur im Hinblick auf andere Völkermorde werden nicht unternommen. Eine Erklärung der türkischen Haltung müsste bei der pantürkischen Ideologie ansetzen, mit der ein monokultureller türkisch-muslimischer Staat angestrebt wurde. Weiter wäre die Verstrickung von Tätern des Völkermordes zu nennen, die später mit Kemal Atatürk die moderne Türkei aufbauten. Dabei hatte ein Sondergericht in Istanbul 1919 einige Haupttäter in absentia zum Tode verurteilt. Talaat Pascha, der als Innenminister einer jener Haupttäter war, liegt seit 1943 in Istanbul auf dem Freiheitshügel, dem türkischen Pantheon. Dort erhielt auch Kriegsminister Enver Pascha 1996 als weiterer Haupttäter postum ein Staatsbegräbnis, auf Initiative das damaligen Istanbuler Bürgermeisters Erdogan.

Die Sturheit der Leugnung jedoch macht europäische Politiker (und Wissenschaftler) in gewisser Weise hilflos, wie aus Schaefgens Darstellung hervorgeht. Politiker zeigen diese Hilflosigkeit häufig dadurch, dass sie den Vorschlag der türkischen Seite befürworten, eine Historiker-Kommission mit der Untersuchung der Ereignisse zu beauftragen. Schaefgen weist darauf hin, dass es kein Weg sei, mit historischen Ereignissen so umzugehen, dass ein Gremium im Wege des Kompromisses über historische Wahrheit befinde. Die Fakten sind bekannt; die Aufgabe besteht darin, die Tatsachen anzuerkennen. Ob es wirklich neue Fakten zu bedenken gibt, ist fraglich, da bisher keine neuen Quellen aufgetaucht sind. Illusorisch ist auch die Annahme, dass eine Historiker-Kommission wissenschaftlich fundiert arbeiten könne, solange die Bezeichnung des Verbrechens am armenischen Volk als „Genozid“ in der Türkei strafrechtlich verfolgt werden kann – selbst nach der Strafrechtsreform von 2004, die auf den Druck der EU zustande kam.

Insgesamt bietet Schaefgens Arbeit eine handbuchartige Einführung und eröffnet interessierten Leser/innen einen Zugang zum Thema. Leider werden die spannenderen Fragen entweder nur angerissen oder ganz ausgespart. Nach der Lektüre beginnt man die Menge der Forschungsdesiderate zu erahnen.

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