A. Kruke (Hrsg.): Zwangsmigration und Vertreibung

Cover
Titel
Zwangsmigration und Vertreibung - Europa im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Kruke, Anja
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Christian Lotz, Leipziger Kreis. Forum für Wissenschaft und Kunst Email:

Vor dem Hintergrund der laufenden Ausstellungen im Deutschen Historischen Museum und im Kronprinzenpalais in Berlin zum Thema Zwangsmigrationen ist der vorliegende Band zu begrüßen. Er versammelt die Beiträge einer im März 2004 in Bonn ausgerichteten Tagung, zu welcher die Friedrich-Ebert-Stiftung Historiker/innen aus Deutschland und seinen ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten eingeladen hatte. In der Einleitung formulieren Friedhelm Boll und Anja Kruke die drei Ziele des Bandes, und zwar erstens, den Forschungsstand auf internationaler Ebene zu beleuchten, zweitens, der „Frage nach einer didaktischen Aufbereitung in europäischer Perspektive“ (S. 10) nachzugehen, wobei der Schwerpunkt auf die Vertreibungen im Kontext des Zweiten Weltkriegs in Ostmitteleuropa gelegt wurde; sowie drittens, eine Bestandsaufnahme von bereits bestehenden „Initiativen zur Aufarbeitung und Versöhnung“ zu leisten (S. 10).

Der Band gliedert sich in vier Teile mit insgesamt 21 Beiträgen; einerseits skizzieren sie übergreifende Perspektiven zur Erinnerung an die vielfältigen Formen von Zwangsmigration (Bernd Faulenbach, Stefan Troebst, Karl Schlögel, Heidemarie Uhl, Peter Haslinger, Hermann Schäfer, Thomas Serrier, Wolfgang Höpken); andererseits stellen sie Spezifika einzelner Länder bzw. Regionen vor, und zwar Polen (Claudia Kraft, Pawel Machcewicz, Krzysztof Ruchniewicz), das Baltikum (Gert von Pistohlkors), Tschechien (Tomas Kafka, Detlef Brandes, Jiri Pesek), Slowakei (Miroslav Kusy, Edita Ivanickova), Ungarn (Agnes Toth, Krisztian Ungvary, Eva Kovacs) sowie Slowenien, Jugoslawien und Italien (Marina Cattarussa). Darüber hinaus verabschiedeten die Tagungsteilnehmer die „Bonner Erklärung ‚Europäisches Netzwerk: Zwangsmigrationen und Vertreibungen im 20. Jahrhundert’“. Sie wurde Teil der Verhandlungsgrundlage für das im September 2005 in Warschau eingerichtete „Europäische Netzwerk – Erinnerung und Solidarität“ und ist im Band mit abgedruckt (S. 33-36). Angesichts der großen Anzahl an Beiträgen und behandelten Sachfragen, die hier kaum auf engem Raum widergespiegelt werden können, sollen im Folgenden lediglich drei Aspekte angesprochen werden; diese werden an mehreren Stellen im Band berührt und sollten in kommenden Debatten erneut aufgegriffen werden:

Zum ersten geht es um den übergreifenden Bezugsrahmen und die Frage nach dem Stellenwert der Erinnerung an Zwangsmigrationen gegenüber anderen Ereignissen in der Geschichte Europas. In der Einleitung erörtern Boll und Kruke die Beobachtung, dass sich die zentralen Bezugspunkte der Erinnerung im Osten und Westen Europas verschieden entwickeln: Während in Deutschland und Westeuropa die Vernichtung der Juden immer stärker zum Mittelpunkt einer gemeinsamen Erinnerungskultur wird, steht in Ostmittel- und Osteuropa eher die Erfahrung des Kommunismus bzw. des Kommunismus und des Nationalsozialismus im Zentrum (S. 17-18). Darauf eingehend äußert Pawel Machcewicz in seinem Beitrag ernste Zweifel, dass sich die Erinnerung an Zwangsmigrationen überhaupt als gemeinsamer Bezugspunkt einer europäischen Erinnerungskultur eignet: „Das, was am wichtigsten und am universellsten in der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist, was gemeinsam für Osteuropa und für Mitteleuropa ist, das sind die Erfahrungen von zwei Totalitarismen: Des Nazi-Totalitarismus und des Kommunismus. [...] Erst danach kommen die Zwangsaussiedlungen“ (S. 149). Mit der hier anklingenden Debatte um die zentralen Bezugspunkte und Systematisierungen wird nicht zuletzt die Frage berührt, ob und inwieweit die Ausgrenzungen und Verdrängung der Juden im Deutschland der 1930er-Jahre als Zwangsmigration gefasst werden können, oder ob die systematische Ermordung der Juden in den 1940er-Jahren Unterscheidungen erzwingt, die eine übergreifende wissenschaftliche Bearbeitung von Zwangsmigrationen und Völkermorden unmöglich erscheinen lässt. 1

Zum zweiten soll der Blick auf die Anforderungen an die gemeinsame Diskussionskultur gerichtet werden, welche die Beiträge des Bandes umreißen. Angesichts der hohen Wellen, welche die Debatten z. B. um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ in den vergangenen Jahren ausgelöst haben, plädiert Karl Schlögel dafür, dass nun „Gelassenheit, nicht Hysterie am Platz“ ist (S. 53). Anja Kruke stellt heraus, dass die „Prozesse der Anerkennung und Erhellung mit Schmerzen verbunden [sind]. Allerdings sorgt eben die Wahrnehmung der anderen Erfahrungen für eine ‚produktive Verunsicherung’, die die auf der Suche nach einem Geschichtsbild als konstituierenden Faktor zu begreifende Ambivalenz auf den Punkt bringt“ (S. 29). Diese warme Atmosphäre der Gelassenheit und Produktivität durchschneidet die kalte Analyse von Tomas Kafka: Die „Erfolgsstory“ – hier hat er offenbar die Bundesrepublik der 1970er und 1980er-Jahren vor Augen – der „so genannten Geschichtsverarbeitung“ als eines der „bewährtesten Modelle der Friedensstiftung in Europa“ ließ die Rahmenbedingungen vergessen: „Ich meine das wirtschaftliche Wachstum [...]. Die Aufklärung stand dank dieser Konstellation auf der Seite des Konsums, die minimierten Sicherheitsrisiken nahmen den Gesellschaften die Angst vor sich selbst ab und der stabilisierende Konsum kurbelte die Neugier an, auch etwas Wahrhaftiges über sich selber zu erfahren“ (S. 163). In den von der Globalisierung gebeutelten Gesellschaften Ostmitteleuropas hätte die wirtschaftliche „Achterbahnfahrt“ (S. 163) hingegen ganz andere Rahmenbedingungen für eine Erinnerungskultur geschaffen.

Zum dritten schließlich nehmen zahlreiche Beiträge des Bandes auf die Frage Bezug, in welcher Form die Erinnerung an Zwangsmigrationen in Europa Gestalt gewinnen könnte. Unter den Autoren/innen, die sich alle – mehr oder minder stark – für grenzübergreifende Projekte einsetzen, sticht der Aufsatz von Krisztian Ungvary heraus. Mit Blick auf die Debatten um eine entweder „deutsche“ oder „europäische“ Ausrichtung des vieldiskutierten „Zentrums gegen Vertreibungen“, ergreift er für eine „deutsche Ausstellung“ Partei: Wohl wäre eine „Zusammenarbeit mit Tschechien und Polen wünschenswert. Die Erinnerungskultur in Deutschland kann aber nicht von der Kooperationsbereitschaft und Akzeptanz der Nachbarn abhängig gemacht werden“ (S. 213). Ungvarys Aufsatz bleibt mit dieser „nationalen“ Sichtweise nicht frei von Widersprüchen, etwa wenn er nur wenige Zeilen später auf – aus seiner Sicht – Defizite der tschechischen Erinnerungskultur hinweist. Wie, so fragen sich die Leser/innen, sollen Diskussionen über solche Schwachpunkte in Gang kommen, wenn nicht durch Dialog in grenzübergreifenden Projekten?

Insgesamt bietet der Band einen Einblick in die – auch innerhalb der Länder Mittel- und Osteuropas – verschiedenen Positionen zur Frage nach dem Stellenwert von Zwangsmigrationen in der Erinnerungskultur des zukünftigen Europas. Einen „Forschungsstand auf internationaler Ebene“ (S. 10) wird man von dem Band, deren Beiträge nicht immer mit Anmerkungsapparat arbeiten, nicht erwarten dürfen, wohl aber einen breiten Überblick über verschiedene, teils gar gegensätzliche erinnerungspolitischen Haltungen zum Thema.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu Benz, Wolfgang, Reines Gefühl. Was das Vertreibungszentrum zeigen will, in: Süddeutsche Zeitung, 3. Januar 2006; Schlögel, Karl, Europa ist nicht nur ein Wort; in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2003, 1, S. 5-12.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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