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Titel
Sieg der Sparsamkeit. Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Schleswig-Holstein


Autor(en)
Scharffenberg, Heiko
Reihe
IZRG-Schriftenreihe 7
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S., 26 s/w Abb.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Constantin Goschler, Berlin

Seit einigen Jahren hat die Beschäftigung mit der Geschichte der Wiedergutmachung nationalsozialistischer Verfolgung einen mächtigen Aufschwung erfahren. Verantwortlich dafür ist zum einen die gesteigerte Aufmerksamkeit für dieses Thema durch die Entstehung eines globalisierten Entschädigungsdiskurses seit den 1990er-Jahren. Zum anderen hat aber auch der mittlerweile erfolgte Zugang zu den Akten der bundesdeutschen Entschädigungsbehörden neue Forschungsinitiativen angestoßen. Damit wird die bislang weitgehend bestehende Fokussierung auf die Makropolitik der Wiedergutmachung 1 zunehmend durch den Blick auf die Mikropolitik der Entschädigung ergänzt.

In diesem Zusammenhang steht auch die aus einer Dissertation hervorgegangene Studie von Heiko Scharffenberg: Mit ihrer Konzentration auf die Auswertung von Entschädigungseinzelfallakten aus Schleswig-Holstein (analysiert wird eine Stichprobe von 295 Akten) betritt diese Regionalstudie in mehrerer Hinsicht Neuland. In der Auseinandersetzung zwischen denen, welche die Entschädigung des NS-Verfolgten für ein allen Widrigkeiten zum Trotz insgesamt sinnvolles Unternehmen halten, und denen, die hier eine skandalöse Missachtung der legitimen Ansprüche der Verfolgten sehen, schlägt sich Scharffenberg klar auf die zweite Seite: Scharffenbergs zentrale These, die im Folgenden näher vorgestellt werden soll, lautet, dass in Schleswig-Holstein nach einer anfänglich zumindest den beschränkten Verhältnissen entsprechenden großzügigen Entschädigung immer mehr fiskalische Motive überhand genommen hätten. Gleichzeitig seien die betroffenen Verfolgten zum Objekt eines zunehmend undurchschaubaren Verfahrens geworden. Erst in den 1970er-Jahren sei es allmählich zu einem gesellschaftlichen Einstellungswandel gekommen, der sich auch in einer großzügigeren Entschädigungspraxis niedergeschlagen hätte.

Scharffenberg unterteilt seinen Untersuchungsgegenstand in drei chronologische Hauptabschnitte: Im ersten Abschnitt untersucht er die Fürsorgemaßnahmen für NS-Verfolgte in Flensburg, welche dort von einem Sonderhilfsausschuss nach britischen Vorgaben unternommen worden waren. In dieser von ihm als „friedlich“ bezeichneten Phase arbeitete der Sonderausschuss noch eng mit dem dortigen Komitee ehemaliger politischer Gefangener bzw. der VVN zusammen. Der Sonderausschuss nutzte die ihm von der Militärregierung gewährten Spielräume großzügig aus, wenngleich sich hier bereits die auch von den politisch Verfolgten gestützte Tendenz zeigte, gesellschaftliche Randgruppen wie „Asoziale“, „Kriminelle“ und „Zigeuner“, die im Dritten Reich verfolgt worden waren, bei der Betreuung zu diskriminieren.

Im zweiten Abschnitt untersucht Scharffenberg die Wiedergutmachung nach den schleswig-holsteinischen Landesgesetzen in den Jahren 1948 bis 1953. Im Gegensatz zur amerikanischen Besatzungszone blieb die Ausarbeitung von Entschädigungsgesetzen für NS-Verfolgte in der britischen Besatzungszone eine deutsche Angelegenheit. Die 1948 bzw. 1949 vom Schleswig-Holsteinischen Landtag erlassenen Renten- bzw. Haftentschädigungsgesetze seien in erster Linie vom Wunsch nach finanzieller Entlastung des Landes und weniger von einem Bedürfnis nach angemessener Entschädigung geprägt gewesen. Diese fiskalische Motivation kam in zahlreichen Beschränkungen der Entschädigungsansprüche zum Ausdruck. Zudem wurden die Entschädigungsverfahren neu geregelt, wodurch die Kompetenzen der Sonderhilfsausschüsse erheblich eingeschränkt wurden. Die eigentliche Zuständigkeit für die Leistungsfestsetzung wechselte nach einem kurzen Zwischenspiel des Arbeits- und Wohlfahrtsministeriums an das Innenministerium. Damit, so Scharffenberg, sei auch ein „Zielwechsel vom Helfen zum Sparen“ (S. 64) verbunden gewesen. Und da die Entstehung konkurrierender Verfolgtenorganisationen im Zuge des Kalten Krieges den Einfluss der Verfolgten zusätzlich verringerte, blieben deren Proteste gegen den Sparkurs ohne Wirkung. Umgekehrt übte das Finanzministerium massiven Druck aus, um die Entschädigung einem rigiden Sparkurs zu unterwerfen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde Scharffenberg zufolge, seit 1951 auch das medizinische Begutachtungsverfahren auf Rentenkürzungen umprogrammiert: Statt wie bisher Vertrauensärzte nahmen künftig Fachabteilungen der Krankenhäuser die Nachuntersuchungen der Verfolgten vor, welche die von der Entschädigungsbürokratie erwünschten kritischen Gutachten geliefert hätten.

Der Arbeit der medizinischen Gutachter gilt das besondere Interesse dieser Studie. Ähnlich wie Christian Pross 2 zeigt Scharffenberg, dass die herrschende psychiatrische Lehrmeinung der 1950er-Jahre, wonach die menschliche Seele unendlich belastbar sei, verheerende Folgen für die Bewertung der psychischen Folgeschäden der NS-Verfolgung besaß. Zudem wirkten in dieser Phase medizinische Rassestereotypen nach, wodurch bestimmte Krankheitsbilder ursächlich nicht auf die NS-Verfolgung, sondern auf die spezifische Konstitution der jüdischen Rasse zurückzuführen seien. Damit nicht genug wurde in Schleswig-Holstein bis Ende der 1950er-Jahre als einer der maßgeblichen medizinischen Sachverständigen ausgerechnet der international gesuchten Euthanasie-Verbrecher Prof. Werner Heyde beschäftigt, der sich hinter dem Alias Dr. Fritz Sawade verbarg. Als Obergutachter in Entschädigungsprozessen stimmte er in aller Regel den negativen Vorgutachten zu, musste er doch seine Enttarnung durch mitwissende Kollegen fürchten. Die medizinischen Gutachten leisteten so einen wesentlichen Beitrag für den Erfolg der „Sparpolitik“ im Bereich der Entschädigung, die mit einer weitgehend missglückten sozialen Integration der Verfolgten einhergegangen sei.

Im dritten Abschnitt befasst sich Scharffenberg schließlich mit der schleswig-holsteinischen Entschädigungspraxis im Zeichen der seit 1953 auf diesem Gebiet erlassenen Bundesgesetze. Auch nach dem Erlass des Bundesergänzungs- bzw. Bundesentschädigungsgesetzes blieb die Durchführung der Entschädigung Ländersache, woraus erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern folgten. Schleswig-Holstein gehörte zu den Ländern mit der geringsten Fallzahl, gleichwohl überstieg der Andrang bald die Kapazitäten der dortigen Entschädigungsbehörden. Trotz mancher Maßnahmen wie der massiven Beschränkung des Publikumsverkehrs führte dies zu jahrelangen Bearbeitungszeiten der Anträge. Eine Änderung der Bearbeitungspraxis wurde schließlich 1957 durch ein personelles Revirement an der Spitze des Landesentschädigungsamts Kiel herbeigeführt: An die Stelle des Sozialdemokraten Sievers trat Karl-August Zornig, ehemals Wehrmachtsrichter und NSDAP-Mitglied. Letzterem gelang zwar eine drastische Senkung der Bearbeitungszeiten – allerdings um den Preis einer ebenso drastischen Senkung der Anerkennungsquoten. Bis Ende der 1960er-Jahre war schließlich die Abwicklung der Anträge weitgehend abgeschlossen, so dass die Entschädigungsbürokratie immer stärker abgebaut wurde.

Die Zusammensetzung der Antragsteller in Schleswig-Holstein war allerdings eher untypisch: Der Anteil der jüdischen Verfolgten lag mit 17,6 Prozent weit unter dem Bundesdurchschnitt, wo diese Gruppe mit Abstand den größten Anteil ausmachte. Umgekehrt bildeten die politisch Verfolgten dort bei Weitem die größte Gruppe. Während somit nicht alle Ergebnisse dieser Fallstudie auf die gesamte Bundesrepublik übertragbar sind, hat die Überprüfung der offiziellen Wiedergutmachungsstatistik des Bundesfinanzministeriums erhebliche Auswirkungen für das Gesamtbild der Entschädigung: Scharffenberg zeigt, dass die offizielle Statistik – etwa aufgrund von Doppelzählung von Anerkennungen und anderen Buchhaltungstricks – ein erheblich geschöntes Bild präsentiert. So wurden etwa vier von fünf Anträgen auf Anerkennung von Gesundheitsschäden abgelehnt. Allerdings unterschieden sich die Erfolgschancen der einzelnen Gruppen von Antragstellern: Jüdische Verfolgte, deren Verfolgung generell unumstritten war, besaßen die größten Chancen, während sich am anderen Ende der Skala „Asoziale“, „Sinti und Roma“ sowie „Kriminelle“ befanden. Vollkommen chancenlos waren schließlich Verfolgte, die irgendwann einmal Mitglied einer NS-Gliederung gewesen waren.

Insgesamt seien die auch nach den Bundesgesetzen durchaus vorhandenen Entscheidungsspielräume in aller Regel weiterhin vor allem unter Sparsamkeitsgesichtspunkten genutzt worden. Als Hauptinstrument dazu dienten medizinische Gutachten, wobei die beteiligten Ärzte die ihnen zugedachte Rolle bereitwillig gespielt hätten: Erst Ende der 1960er-Jahre hätte sich die deutsche medizinische Wissenschaft ruckartig den Auffassungen der internationalen Wissenschaft über die medizinischen Langzeitfolgen der Verfolgung angeschlossen. Scharffenberg vermutet hier einen Zusammenhang mit dem Ablauf der Anmeldefristen für Gesundheitsschäden Ende 1969, was freilich ein zu enger Erklärungsrahmen sein dürfte. Wichtig ist jedenfalls sein Befund, dass von einer Autonomie ärztlicher Gutachten insofern keine Rede sein konnte, als das Landesentschädigungsamt bei abweichenden Stellungnahmen solange neue Gutachten bestellte, bis die gewünschte Tendenz vorgelegen habe (S. 200). Während Scharffenberg im Hinblick auf die medizinischen Begutachtungsverfahren weitgehend die bereits von Pross getroffene Kritik bekräftigt, betritt er mit der Untersuchung des juristischen Klagewegs neue Pfade: Auch hier findet er zumindest für die 1950er und 1960er-Jahre in erster Linie eine Einstellung, welche die Spielräume überwiegend zum Nachteil der Verfolgten genutzt habe, die sich als „lästige Bittsteller“ fühlen mussten (S. 222).

In seiner Schlussbilanz resümiert Scharffenberg, dass der „funktionelle „Wildwuchs“ (Walter Schwarz) des Entschädigungsrechts vor allem ein „Ausdruck des gescheiterten Versuchs [sei], Entschädigung, finanzielle Interessen und kollektive Schuldabwehr in ein stimmiges Verhältnis zu bringen“ (S. 222). Die fortschreitende Bürokratisierung der Entschädigung betrachtet er als ein zentrales Problem, da auf diese Weise die Kluft zwischen Antragstellern und Entscheidungsinstanzen immer größer geworden sei. Für die Antragsteller habe dies weniger Versachlichung, als ein zunehmendes Gefühl der Ohnmacht bedeutet. Zugleich sei die Bereitschaft zur Wiedergutmachung umso schwächer geworden, je stärker der materielle Aufschwung der Bundesrepublik nach 1945 gewesen sei. Bis Anfang der 1970er-Jahre, als ein allmählicher Stimmungsumschwung zugunsten der Verfolgten eingesetzt habe, seien die Verfolgten so vor allem ein Objekt des Sparsamkeitsimperativs von Verwaltung und Gerichten gewesen – ganz im Gegensatz zu den ehemaligen Verfolgern und den Nutznießern des NS-Regimes, denen goldene Brücken in die Nachkriegsgesellschaft gebaut worden seien. Die Wiedergutmachung in Schleswig-Holstein, so schließt dieses Buch, sei deshalb keine Erfolgsgeschichte gewesen: Vielmehr sei die Umsetzung der Idee der Entschädigung „in eine großzügige Versöhnungsgeste“ an Verwaltung und Justiz gescheitert.

Mit Scharffenberg feiert der wiedergutmachungskritische Tonfall der späten 1970er-Jahre seine Wiederauferstehung. Worin besteht nun der Erkenntnisfortschritt? Die Bilanz scheint zweigeteilt: Bei der quantitativen Analyse gelingt es Scharffenberg, den bisherigen Kenntnisstand erheblich zu vertiefen und zu differenzieren. Am wichtigsten ist hier jedoch seine Fundamentalkritik der offiziellen Entschädigungsstatistik, auf die letztlich bisher auch die Kritiker der Wiedergutmachung zurückgreifen mussten. Bei der qualitativen Analyse der Einzelfälle scheint der Erkenntnisfortschritt hingegen geringer: Hier bleibt Scharffenberg weitgehend dem Verfahren einer moralisierenden Urteilsschelte verhaftet. Der in vielerlei Hinsicht berechtigten Empörung über die Ergebnisse der Entschädigungsverfahren hätte vielleicht manchmal ein wenig mehr an distanzierender Analyse über die Gründe der an den Verfolgten exerzierten „Sparsamkeit“ gut getan. Nicht zuletzt wäre es interessant zu erfahren, ob es sich hier um ein Spezifikum der Entschädigungspraxis handelte, oder ob hier eine generelle Behördenmentalität der 1950er und 1960er-Jahre zum Ausdruck kam. Und so bleibt auch Scharffenbergs Erklärung des seit den 1970er-Jahren erfolgten Umschwungs der Entschädigungspraxis ein wenig blass. Auch hier wäre genauer nach der spezifischen Mischung von Einstellungswandel gegenüber den Verfolgten und genereller Expansionstendenzen des bundesdeutschen Sozialstaates zu fragen. Hinzu kommt, dass Scharffenberg zwar einerseits mit der Verfolgtenperspektive sympathisiert, diese selbst aber lediglich durch die Verwaltungsakten hindurch gesehen werden. Freilich schießt dieser Einwand, der auf die Einbeziehung von Ego-Dokumenten der Verfolgten zielt, über den Anspruch der Arbeit hinaus.

Scharffenberg hat selbst deutlich gemacht, dass er eine regionale Fallstudie vorgelegt hat, welche nicht in der Lage sein kann, die Komplexität der Entschädigungspraxis in der gesamten Bundesrepublik abzubilden. Mit seiner Pionierarbeit hat er aber einen wichtigen Baustein für eine Gesamtperspektive auf die Praxis der Wiedergutmachung geliefert, auf dem künftige Studien mit großem Gewinn aufbauen können. Es wird spannend sein zu beobachten, ob sich der von Scharffenberg am Beispiel Schleswig-Holstein wieder aufgenommene skeptische Grundton der Beurteilung der Entschädigung in der Forschung fortsetzen wird. Für ein Gesamtbild wird es aber vor allem auch erforderlich sein, die Behördenperspektive um die Perspektive der Betroffenen einerseits und die gesellschaftlichen Perspektiven andererseits zu ergänzen. Insofern bleibt bei diesem Schlüsselthema der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1945 noch einiges zu tun.

Anmerkungen:
1 Dazu jüngst: Goschler, Constantin, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005.
2 Pross, Christian, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Berlin 2001.

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