Cover
Titel
Klios Kinder werden flügge - Geschichtslernen im Jugendalter. Eine entwicklungspsychologisch orientierte, konstruktivistische Didaktik der Geschichte


Herausgeber
Klose, Dagmar; Beetz, Petra
Reihe
Didaktik in Forschung und Praxis 25
Erschienen
Anzahl Seiten
332 S., 17 s/w Abb.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Hasberg, Seminar für Geschichte und für Philosophie, Universität zu Köln

Der Titel – insbesondere der Untertitel – des zu besprechenden Werkes legt die Vermutung nahe, bei ihm handele es sich um die Fortsetzung eines von einer der Herausgeberinnen 2004 in derselben Reihe publizierten Buches.1 Ein genauerer Blick lässt nicht nur Titel und Untertitel wenig zutreffend erscheinen, sondern hinterlässt einige Ratlosigkeit bezüglich der Konzeption des Bandes als auch in Hinsicht auf die mit ihm anvisierte Adressatenschaft.

Konzipiert als Lern- und Arbeitsbuch wendet der Band sich offenkundig an Studierende, Referendare und Lehrer/innen des Unterrichtsfaches Geschichte. Dafür spricht außer der äußeren Anlage (layouttechnisch abgesetzten Literaturempfehlungen. Zusammenfassungen, Großzitate als Leseproben und anderes mehr) der betont um Verständnis bemühte Duktus. Dieses Bemühen ermutigt die Autor/innen, rhetorisches Neuland zu beschreiten, wenn sie nach der ausführlichen Darlegung des komplexen Diskurses um die Diskurstheorie(n), diesen in eine fiktive Podiumsdiskussion umformulieren, an der Foulcault und Kombatanten teilnehmen. Die akademisch gebildeten Lehrer/innen mögen selbst entscheiden, welche Darstellungsform sie bevorzugen! Dass allerdings viele Praktiker das an sie gerichtete Werk für ihre häusliche Bibliothek oder auch für die ihrer Unterrichtsanstalten erwerben werden, wird der immense Preis von 78 Euro zu verhindern wissen.

Der von verschiedenen Autor/innen, deren Identität nicht in allen Fällen festzustellen ist, verfasste Band gliedert sich in vier Kapitel: In einem ersten werden die Bedingungen historischen Lernens erörtert, ein zweites erläutert den Zusammenhang konstruktivistischen Geschichtslernens mit der Diskurstheorie, während die folgenden Abschnitte sich der Unterrichtspraxis zuwenden, indem sie einerseits „interessefördernde Methoden“ zu revitalisieren versuchen, andererseits Anregungen zu geben beabsichtigen. Die Lektüre der unterrichtspraktischen Anregungen wird immer wieder durch fachinhaltliche (beispielsweise S. 207-225) oder grundsätzliche Exkurse (Personengeschichte, Rollenspiel) durchbrochen, ohne dass der Neuigkeitsgehalt des Mitgeteilten dies rechtfertigen würde. Im Gegenteil handelt es sich zumeist um Referate von unlängst an anderen Stellen Publiziertem (Bergmann, Bernhard und andere). So lässt sich auch den nur fragmentarisch nachvollziehbaren Unterrichtsanregungen nicht entnehmen, inwiefern sie auf dem Konzept basieren, das in den ersten beiden Kapiteln grundgelegt wird. Vielmehr werden Prinzipien (Multiperspektivität, Rekonstruktivität und andere) bemüht und Methoden vorgeschlagen (Rollenspiel, Stationentraining ), die unabhängig von der konzeptionellen Grundanlage in der Praxis von Lehr-Lernprozessen mit historischen Inhalten längst heimisch geworden sind.

Seine Ursache mag dies möglicherweise darin haben, dass die in diesem Band erneut vorgestellte „entwicklungspsychologisch orientierte, konstruktivistische Didaktik der Geschichte“ keineswegs einen originären Ort im geschichtsdidaktischen Spektrum einnimmt. So wird in einem langen zweiten Kapitel der Zusammenhang zwischen Diskurstheorie und Geschichtsdidaktik herzustellen versucht, und zwar mit dem Ergebnis, dass thematische Unterrichtsreihen historischer Lehr-Lernprozesse mit historischen Inhalten in Form von Diskursen anzulegen sein. Ob solche historisches Lernen befördern, steht einstweilen in Frage, solange keine empirischen Befunde vorgelegt werden können. Worin besteht dann der Vorzug von thematischen Diskurssträngen, die sich nach Klose als Konstruktionsverfahren von Lerngegenständen eignen (S. 79)? Vorgestellt werden sie keineswegs in ihrer Konstruktionsfunktion, sondern vielmehr als fertige Diskursstränge, die dem Prinzip der Multiperspektivität folgen, den Konstruktionscharakter von Geschichte den Schülern transparent machen (sollen) und somit zum Aufbau von historischem Bewusstsein beitragen (wollen).

Zunächst wird nicht deutlich, worin sich die diskursartigen Lehrgänge von thematischen Längsschnitten unterscheiden? Die Konzentration auf eine Epoche (so S. 86) kann dies ebenso wenig begründen, wie die thematische Ausrichtung. Seit der Berliner Schule wird die Verschränkung von Inhalten und Zielen als Thematisierung verstanden. Mithin kann es Unterricht stets nur als thematischen geben – wird dieser Implikationszusammenhang zuweilen auch nicht zureichend reflektiert.

Befremden muss zum Zweiten, dass die Rezeption der Diskurstheorie allein auf dieser unmittelbar unterrichtspraktischen Ebene für den Aufbau von Inhalten des Geschichtsunterrichts erfolgt. Ausschließlich die aus der Diskurstheorie abgeleitete Norm, gesellschaftliche Diskurs müssten diskursiv vermittelt werden, findet Berücksichtigung. Inwieweit die Diskurstheorie(n) anderweitigen Einfluss auf die Organisation von Lehr-Lernprozessen historischen Inhalts oder gar auf die Geschichtsdidaktik als Wissenschaftsdisziplin hat resp. haben sollte, findet sich nicht erörtert. Allzu umstandslos wird hier wie an anderen Stellen des Buches zwischen der Didaktik der Geschichte und der Didaktik des Geschichtsunterrichts rochiert. Das führt unter anderem dazu, dass Überlegungen aus der Allgemeinen Didaktik ohne Umschweife auf den Geschichtsunterricht übertragen werden (z.B. Kompetenzbereiche).

Das gilt auch für die Rezeption des Konstruktivismus’. Wenn der Anspruch erhoben wird, im Rückgriff auf eine gemäßigte Form des Konstruktivismus’, wie er sich in der Allgemeinen Didaktik durchgesetzt hat (K. Reich), eine neue Position innerhalb der Geschichtsdidaktik zu besetzen, wird verkannt, dass die Didaktik der Geschichte seit ihrer Erneuerung in den 1970er-Jahren nicht nur konstruktivistische Züge trägt, sondern per se konstruktivistisch ist. Mit Einführung des Geschichtsbewusstseins als zentrale Kategorie hat sich – ohne dass dies allenthalben aufgefallen wäre – auch der Gegenstand des Geschichtsunterrichts gewandelt: Nicht die Geschichte, sondern historische Bewusstseinsstände werden in diesem verhandelt. Mit der narrativen Geschichtstheorie und J. Rüsen kann man gar konstatieren: „Geschichten sind wahr, wenn diejenigen sie glauben, an die sie gerichtet sind.“ 2 Längst vor der Konjunktur des Konstruktivismus’ war die Didaktik der Geschichte also konstruktivistisch – ohne freilich den Terminus dafür zu bemühen. Es hat gar den Anschein, als sei die an der narrativen Geschichtstheorie orientierte Geschichtsdidaktik ein klein wenig radikaler konstruktivistisch als diejenige, die sich dieses Signum auf die Fahne geschrieben hat.

Die subjektive Seite des Aneignungsprozesses stärker in den Blick zu nehmen, wie es zu den Grundanliegen der Potsdamer Geschichtsdidaktik zählt, gehört mithin auch zu denen der narrativen Geschichtsdidaktik, in der die Problematik als Balancierung von zugemuteter historischer Sinndeutung und subjektivem Geltungsanspruch beschrieben wird. Wer sich in der Wissenschaftsgeschichte der Geschichtsdidaktik auskennt, findet das Problem bereits bei S. Kawerau behandelt. In Potsdam legt man – wie anderorts (P. Knoch, P. Schulz-Hageleit und andere) – zu Recht ein verstärktes Gewicht auf diesen Aspekt. Dabei spielt der entwicklungspsychologische Aspekt eine Rolle, der zum zweiten Standbein dieser Position gehört. So werden die bereits im Band von 2004 ausgemachten Kompetenzbereiche (Sach-, Methoden-, Sozial,- Selbstkompetenz) operationalisiert, indem sie in einem Teilbereich einer Stufung zwischen Primarstufe, Sekundarstufe I und II unterzogen werden (S. 59-64). Verbunden mit den Prinzipien historischen Denkens (Problemorientierung und Lebensweltbezug, Mehrdimensionalität, Multiperspektivität, Kontroversität und Kontrastivität) ergeben sich die Umrisse eines konstruktivistischen Lehr-Lernkonzepts, das im Verein mit den bereits angesprochenen Übernahmen aus der Diskurstheorie das ergeben, was als entwicklungspsychologisch orientierte konstruktivistische Geschichtsdidaktik bezeichnet wird. Abgesehen von den bereits vorgetragenen Einwänden wird – anders als im Vorgängerband – nicht recht deutlich, wo entwicklungspsychologische Befunde in den konstruktiv-pragmatischen Ansätzen umgesetzt wurden. Es bleibt im Dunkeln, wo die modellhaft ausgeführten, gleichwohl fragmentarischen unterrichtspraktischen Hinweise auf solchen Annahmen beruhen, ob ihnen empirische Kenntnisse voraus liegen oder ob sie der Erprobung unterzogen wurden.

Von entscheidender Bedeutung aber ist vor allem, dass dem Rezensenten nicht recht bewusst geworden ist, inwieweit die Anregungen, die der Kognitionspsychologie und der Diskurstheorie entnommen wurden, in der Tat eine entwicklungspsychologische und konstruktivistische Geschichtsdidaktik begründen, die sich entscheidend vom mainstream der am Geschichtsbewusstsein ausgerichteten Richtung absetzt, indem sie nicht vom epistemischen Subjekt eines aufgeklärten Geschichtsbewusstseins, sondern vom real-subjektiven Geschichtsbewusstsein des psychologischen Subjekts ausgeht (S. 18f.). Gemessen an dieser selbst gesetzten Prämisse reicht das Dargebotene nicht über das hinaus, was im epistemologischen Konzept des Geschichtsbewusstseins bereits erarbeitet wurde. Trotz dieser Kritik, die unschwer erkennen lässt, welcher Richtung sich der Rezensent zurechnet, muss hervorgehoben werden, dass die Potsdamer Anregungen als wertvoll und unverzichtbar in Hinsicht auf die Fortführung der Forschungen zum Geschichtsbewusstsein betrachtet werden können, indem sie einerseits die Frage aufwerfen, wie weit eine stärkere Anlehnung an die Psychologie diese Forschung befördern kann; in dem andererseits die aufgeworfene Grundsatzfrage in aller Deutlichkeit vor Augen führt, wie das real existente Geschichtsbewusstsein forschungsmethodisch zu fassen ist (Empirie) und wie aus entsprechenden Befunden verallgemeinerbare Aussagen abgeleitet werden können (Theorie), die es erlauben, durch entsprechende Maßnahmen Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein zu nehmen (Pragmatik), die einer außerhalb der wissenschaftlichen Plausibilisierungsmöglichkeiten liegenden Richtung entsprechen (Normatik).

Anmerkungen:
1 Vgl. Wolfgang Hasberg über: Klose, Dagmar, Klios Kinder und Geschichtslernen heute. Eine entwicklungspsycholgisch orientierte konstruktivistische Didaktik der Geschichte. Hamburg 2004. In: H-Soz-u-Kult 08.07.2004 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-025>.
2 Rüsen, Jörn, Historische Vernunft, Göttingen 1983, S. 77.

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