Titel
Erotic Utopia. The Decadent Imagination in Russia's Fin de Siècle


Autor(en)
Matich, Olga
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Natalia Stüdemann, Osteuropainstitut, Institut für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin

Krankheit, Stagnation, Tod. Das war das dekadente Lebensgefühl um die vorletzte Jahrhundertwende. Doch russische Intellektuelle gaben die Hoffnung nicht auf: In utopischen Zukunftsentwürfen suchten sie, den drohenden Verfall sowohl metaphysisch als auch physisch zu überwinden. Von diesen Projekten zur Unsterblichkeit des Körpers und von der Macht der erotischen Liebe handelt Olga Matichs Buch „Erotic Utopia. The Decadent Imagination in Russia’s Fin de Siècle”.

Olga Matich hat vor gut fünfundzwanzig Jahren dazu angesetzt, diese Geschichte zu erzählen. Auch andere haben sich bereits daran versucht.1 Nun, wo Körper und Utopien auf dem Wissenschaftsjahrmarkt wieder hoch gehandelt werden, präsentiert sie ihre Endfassung.2 Die Literaturwissenschaftlerin fragt sich, wie Schriftsteller und Philosophen Körper Geschichte(n) schreiben lassen und macht dabei aus fünf Geistesgrößen fünf Körperspezialisten. Dem Leben und Werk von Lew Tolstoi, Wladimir Solowew, Alexander Blok, Sinaida Gippius und Wassili Rosanow sind jeweils ein, beziehungsweise im Fall Bloks zwei Kapitel gewidmet. Ein weiteres Kapitel untersucht die religiös-philosophischen Treffen.

Ihren Forschungsbeitrag sieht Matich darin, Anhänger der russischen Moderne vor dem Hintergrund der Entartungstheorie zu lesen. Ausgangpunkt dafür ist die Beobachtung, dass Vertreter/innen der russischen Dekadenz die Kenntnis medizinischer Fachliteratur und vor allem der großen Psychopathologen/innen dazu diente, einen neuen Blick auf sich selbst zu gewinnen und diese für ihr Schreiben produktiv zu machen.

Absicht der Studie ist es, Leben und Werk zusammen in den Blick zu nehmen. Die Begründung für diese Herangehensweise ist der Anspruch jener Schriftsteller/innen und Philosophen/innen selbst ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Wie dies theoretisch zu fassen ist, was Literaturgeschichte als Körpergeschichte bedeutet, darüber zerbricht sich Olga Matich nicht lange den Kopf. Kurz, aber an prägnanter Stelle zitiert sie Foucault und bemerkt über sein Diktum zur diskursiven Existenz von Sex in Europa seit dem 18. Jahrhundert fast lakonisch, dass dies für das Verständnis der russischen Dekadenz erhellend wäre, da deren Blick auf Liebe und Sexualität fast ausschließlich diskursiv sei. Zugespitzt formuliert sie: „If we articulate the creation of love’s body in Russian fin de siècle by means of an inverted Christian symbol, we could say that ‚flesh became word‘, subsuming the New Testament symbol of the ‚word becoming flesh.‘“ (S. 25).

Dem besonderen Zusammenhang von Wörtern und Körpern zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland und der frühen Sowjetunion sind bereits Studien nachgegangen.3 Doch während sich der Literaturwissenschaftler Eric Naiman und die Historikerin Laura Engelstein in jene kulturwissenschaftliche Grauzone zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft vorwagten, bleibt Matich im slawistischen Terrain russischer Literaten/innen mit kurzen Ausflügen in die Kunstgeschichte.

Den Anfang macht Lew Tolstoi als früher Moderner. Er markiert den Übergang vom traditionellen Weltbild familiärer Fortpflanzung und organischer Natur zu einer krisenverhangenen Weltsicht, gezeichnet von der Angst vor Entartung und der Absage an Sex. Doch egal, ob es das Grauen des Krieges, das Verhängnis des körperlichen Verlangens oder der vegetarische Weg ist, laut Matichs Diagnose gilt: Tolstoi verstand sich immer als schreibenden Anatom, für den der Schreibtisch zum Operationstisch wurde, auf dem das Seziermesser der Moral immer zur Hand war. (S. 36-38) So bewaffnet gab er mit der „Kreuzersonate“ den Anstoß für die sexuelle Frage, die auch seine dekadenten Zeitgenossen umtreiben sollte.

Damit kommt Matich zum Herzstück ihrer Studie: Wladimir Solowews Ideen zur „Bedeutung der Liebe“ und speziell dem erotischen Zölibat als theoretischer Grundlage der erotischen Utopie. Das erotische Zölibat war dabei eine widersprüchliche sexuelle Praktik. Zum einen gemahnte sie sexuelle Enthaltsamkeit und Verzicht auf Fortpflanzung. Zum anderen zeugte sie von der Obsession mit allem Sexuellen. Enthaltsamkeit war demnach keine Absage an Erotik. Im Gegenteil: Erotisches Begehren war ein entscheidender Faktor zum Gelingen des utopischen Projekts. Die Ökonomie des Begehrens sah ein Zwei-Phasen-Modell vor: Nachdem in Phase eins die Praktizierenden sexueller Enthaltsamkeit die erotische Energie in ihren sterblichen Körpern gespeichert hatten, sollten sie in Phase zwei kollektiv diese Energie freilassen, um so dem Körper in einem großen Orgasmus Unsterblichkeit zu verleihen. Wie sich Bloks und Gippius’ Realisierungsversuche dabei zwischen eigener Körperlichkeit, verschiedenen Textkörpern (Briefe, Tagebücher, Gedichte) und Körpern in Schrift-, Bild- und bildender Kunst bewegten, zeigt Matich in den folgenden Kapiteln.

Sie beginnt mit den Szenen einer Ehe und dem Scheitern der erotischen Utopie. Sie behandelt: die Ehe des Dichters Alexander Blok und Ljubow Dimitriewna Mendelewna, in der Blok die Verkörperung seines Idealbildes sah und die vergeistigte Braut Sophia, wie er sie in den Texten Solowews gefunden hatte. Im Spiegel von Bloks Tagebucheintragungen und Schilderungen seiner Frau liest Matich Bloks Dichtung als Ausdruck seines angstbesetzten Körperbildes. Er war geplagt von einer umfassenden Sexualangst, die verstärkt wurde durch die Angst, Geschlechtskrankheiten weiter zu vererben.

Abseits solcher vielleicht begründeter Spekulationen und zurück auf sicherem Grund diskutiert Matich Bloks Körperbild des Vampirs. Eindrücklich verfolgt sie, wie Blok in Essays, Briefen und Gedichten den Vampir als Körperbild erprobte und auf die unterschiedlichsten Körper übertrug. Hauptblutsauger war der Staatskörper. Konkret auf sich selbst bezogen bedeutet der Vampir Bloks Blutsverbundenheit mit der Welt der adligen Entarteten. Im übertragenen Sinne umschrieb es seinen Durst nach frischem blauem Blut, nach Tinte, die er dem Körper seiner Dichtung zufließen lassen konnte.

Von Bloks nach dem Scheitern seiner Ehe entwickelten Weiblichkeitsideal handelt das vierte Kapitel. Bei der Betrachtung von Kunstobjekten fremder Kulturen und längst vergangener Zeiten entsprang es des Dichters Kopf. Anhand eines weiten Netzes an intertextuellen Bezügen kann Matich diese erotisierte Lektüre von Kleopatra- und Salomedarstellungen nachzeichnen. Darüber hinaus arbeitet sie heraus, wie dieser Lektüre die Vorstellung eines Palimpsets zu Grunde lag: Zeitgenössische Körperbilder waren immer auch ein Erinnern und Überschreiben von historischen.

Leben und Werk Sinaida Gippius’ zeugten nach Matich von dem geglückten Versuch, das Ideal des erotischen Zölibats auszuleben. Mit Hilfe von Tagebüchern und privater, zum größten Teil unveröffentlichter Korrespondenz will sie darlegen, dass für die Dichterin der Briefverkehr den Geschlechtsverkehr ersetzte.

Das anschließende Kapitel behandelt den Versuch der Protagonisten der russischen Dekadenz, mit Vertretern der Kirche offen über die Einstellung des Christentums zum Zölibat, der Ehe und der Rolle von Sex zu debattieren. Diese sogenannten religiös-philosophischen Treffen fanden 1901-1903 statt. Der zentralen Figur in dieser Begegnung, dem Philosophen und Publizisten Wassili Rosanow ist das letzte Kapitel gewidmet. Dabei wird die Bandbreite seines Körperdiskurses von Werten wie Familie und Fortpflanzung, seiner Bejahung der Homosexualität bis hin zu seinem Antisemitismus als einem Blutfetischismus umrissen. Zentral ist für Matich sein als „physiologisch“ bezeichnetes Denken und seine Auffassung von Literatur als körperlicher Erfahrung.

Matichs Buch ist ein Gewinn, auch für die Geschichtswissenschaft. Allein von ihrem Stil können sich manche Mitstreiter/innen, bei denen die Macht der Diskurse den eigentlichen Gegenstand zu neutralisieren drohen, etwas abschauen: Sie lässt die Quellen sprechen. Ihre Leistung besteht aber auch in der Auswahl ihres Materials. Alle hier behandelten Personen bieten mit ihren Körperbildern, -konzepten und -inszenierungen reichhaltigen Untersuchungsstoff. Wie die Autorin zeigt, war jeder von ihnen auf seine Art ein Körperspezialist, von dem aus sich ein Netz verschiedenster Körperdiskurse und -praktiken spannen lässt. Dass es im Gegenzug schwer fällt, die einzelnen Personen mit ihrem heterogenen Feld an Bezugspunkten zu einer Gesamtgeschichte zu vereinen, ohne dass dabei der Facettenreichtum verloren ginge, mag nicht verwundern. Diese Herausforderung zu meistern, ist eine Kunst. In Olga Matichs Versuch werden die Kapitel zu medizinischen Fallstudien erklärt, in denen die Patienten wie bei der Erstellung eines Blutbildes auf Leittropen hin untersucht werden. Und das Kunststück gelingt: Ihre einzelnen Blutbilduntersuchungen ergeben zusammen ein großes Krankheitsbild.

Anmerkungen:
1 Gutkin, Irina, The Cultural Origins of the Socialist Realist Aesthetic 1890-1934, Evanston 1999.
2 Groys, Boris; Hagemeister, Michael (Hgg.), Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2005; Heller, Leonid; Niqueux, Michel, Geschichte der Utopie in Rußland, Bietigheim-Bissingen 2003.
3 Engelstein, Laura, The Keys to Happiness. Sex and the Search for Modernity in Fin-de-Siècle Russia, Ithaca 1992; Naiman, Eric, Sex in Public. The Incarnation of Early Soviet Ideology, Princeton 1997.

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