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Titel
Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht - Forum Historisches Lernen


Autor(en)
Barricelli, Michele
Reihe
Forum Historisches Lernen
Erschienen
Schwalbach 2005: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Thunich, Landesschulbehörde Niedersachsen, Abt. Hannover

Michele Barricelli hat sich in seiner Dissertationsarbeit aus dem Jahr 2003 der sehr anspruchsvollen doppelten Aufgabe gestellt einerseits das „Erzählen im Geschichtsunterricht“ als Theorie-, Forschungs- und Praxisproblem der Geschichtsdidaktik umfassend zu reflektieren und darzustellen, andererseits einen Beitrag zu leisten, wie die „narrative Kompetenz“ bei Schüler/innen im Geschichtsunterricht gefördert werden kann. Es liegt eine anspruchsvolle Theoriearbeit vor, die durch seriöse unterrichtspraktische Empirie und Pragmatik sowie konzeptionelle Originalität ergänzt wird.

Barricelli gliedert seine Studie nachvollziehbar in drei Hauptkapitel: Im ersten Teil kennzeichnet er die Begriffe „historische Erfahrung“, „Deutung“ und „Sinnbildung“ in ihrer Beziehung zueinander und reflektiert sie im Hinblick auf die Geschichtsdidaktik als Wissenschaftsdisziplin und im Hinblick auf den Geschichtsunterricht als Praxis historischen Lernens und Lehrens. Im zweiten Teil zeichnet er die Entwicklung des Forschungsinteresses an der Erzählung im Geschichtsunterricht nach, wobei er zwischen Lehrererzählung und Schülergeschichtserzählung unterscheidet. Zur Sprache kommt in diesem Teil, inwieweit die Geschichtsdidaktik ein Instrumentarium für die empirische Erforschung narrativer Kompetenz entwickelt hat und ob es Modelle schülerorientierter Erzählhandlungen für den Geschichtsunterricht gibt. Im folgenden Kapitel werden in der Praxis durchgeführte Unterrichtsversuche dokumentiert und analysiert, in denen gezielt unterschiedliche narrative Leistungen von Schüler/innen im Geschichtsunterricht gefördert werden. Im Anhang finden sich die überaus anregenden Unterrichtsmaterialien zum Themenbereich Deutsches Kaiserreich und Weimarer Republik.

Die Leser/innen erfahren im ersten Teil, der sich dem „Theorieproblem“ widmet, die Konsequenzen für das Lehren und Lernen im Geschichtsunterricht, die sich aus der – nicht mehr ganz neuen – Erkenntnis ergeben, dass Geschichte ein „narratives Konstrukt“ sei. Der Verfasser bezieht dabei sowohl die internationale geschichts- und wissenschaftstheoretische Literatur wie auch Hypothesen der modernen Kognitionswissenschaft und aktuelle Befunde der Neurophysiologie ein. Empirische Triftigkeit von Geschichte in der Schule bewertet der Verfasser anders als in der Wissenschaft. Im Sinne einer angestrebten Systematik unterscheidet der Verfasser ausgehend von den Erkenntnissen der Germanistik die „Erzählung“ von anderen „Textsorten“ (Erklärung, Beschreibung, Bericht und andere). Wichtig wird dabei die geschichtsdidaktische Konsequenz, dass Sprache im Geschichtsunterricht viel ernster zu nehmen ist, als es bisher geschah.

Barricellis Überlegungen nehmen Rüsens vier Typen historischen Erzählens (traditionales, exemplarisches, kritisches, genetisches Erzählen) auf, und verbinden sie mit Klafkis alter, aber eben immer noch gültiger und richtiger didaktischer Forderung, die Relevanz der Vergangenheit an ihrer Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung zu messen. Mit der Bedeutung für die Daseinsorientierung erhält historisches Erzählen ein abschließendes, pragmatisches Rationalitätskriterium, und zwar in moralischer und politischer Ausprägung. Narrative Sinnbildung vollzieht sich dadurch, dass „Geschichte für die Gegenwart erzählt wird“ (S. 75).

In dem Kapitel „Narrative Kompetenz als Forschungsproblem“ wird die Geschichtserzählung in präziser Sprache und gut lesbarer Form als eines der ältesten Themen der Geschichtsdidaktik und ihrer disziplinären Vorläufer vorgestellt. Wenig neu ist die Feststellung, die empirische Forschung der Geschichtsdidaktik sei defizitär, aber in diesem Kapitel wird der Forschungsansatz Barricellis ausgeschärft, denn der konstatierte Wechsel von der Lehrer- zur Schülererzählung wird verbunden mit Befunden zur Entstehung und Entwicklung der menschlichen Erzählfähigkeit, um daraus geschichtsdidaktische Begründungen und Folgerungen für das Erzählhandeln im Geschichtsunterricht abzuleiten. Im Gegensatz zu mündlichen Spontanäußerungen schafft Schreiben im Unterricht Distanz durch Verzögerung, so bedeutet Schreiben einen tendenziell höheren Grad an Bewusstheit aufgrund eines erhöhten Formulierungszwanges, der sich unter anderem in einer „vollständigeren“ Syntax ausdrückt. In Anlehnung an vor allem angelsächsische Untersuchungen, wie etwa die Arbeiten von Denis J. Shemilt, stellt Barricelli heraus, dass ein Individuum nur historisch denken und erzählen kann, wenn es überindividuelle, intersubjektive, gattungstypische Erzählmuster kennt, sich kritisch zu ihnen verhält und den bewussten Umgang mit den Bauformen der historischen Erzählung unter Einschluss von Shemilts „narrative frameworks“ (in etwa: „Rahmengerüste des Erzählens“) beherrscht. Es findet sich ein Votum für einen konzeptionellen Neuanfang mit erzählenden Quellen im Geschichtsunterricht, die für die gegenwärtige Unterrichtspraxis zwar häufig weitaus zu lang sind, die aber die Vorteile der Emotion, Anschaulichkeit und Adressatengemäßheit aufweisen. Der Autor legt den Finger in die Wunde, dass heutige Schüler/innen im Unterricht und in Schulbüchern mit rein kognitiven, hoch komplexen Triftigkeitsanalysen konfrontiert werden, für die sie nicht im Mindesten die Voraussetzungen besitzen können. Wichtig erscheint der Hinweis, dass bei allen guten Absichten Erzählhandlungen in den Geschichtsunterricht zu integrieren, die fachlichen Grenzen zu beachten sind, sodass aus einem kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtsunterricht kein kulturwissenschaftlicher Unterricht an historischen Beispielen wird.

Das Kapitel „Narrative Kompetenz als Praxisproblem“ und der Anhang „Unterrichtsmaterialien und ausgewertete Schülerarbeiten“ ist lesetechnisch nicht einfach zu bewältigen, auch weil die Unterrichtsmaterialien in einer – wie das für den Wochenschau-Verlag leider typisch ist – höchst unbefriedigenden Druck- und Größenqualität vorliegen. Der Verfasser hat mit der Schwierigkeit umzugehen, dass die deutsche Geschichtsdidaktik bis heute vergleichsweise wenig empirisch fundiert, orientiert und reflektiert ist und es keine zwingende empirische Methode gibt, um individuelle Sinnbildungsprozesse verlässlich zu messen und pragmatisch verfügbar zu machen. So orientiert sich Barricelli an dem Konzept der „teilnehmenden Beobachtung“. Auf hohem didaktischem Reflexionsniveau orientieren sich seine Stunden an „Nacherzählen“, „perspektivischem Umerzählen“ „narrativer Konstruktion“, „genetischem Erzählen“ und „narrativer Dekonstruktion“ als Typen narrativer Leistungen der Schüller/innen. Barricelli interpretiert die Äußerungen der Schülerinnen und Schüler hermeneutisch, stellt aber gleichwohl fest, dass die Probanden weit davon entfernt sind, als Hermeneuten die erforderlichen Techniken der Sinnauslegung zu beherrschen. Damit unterstellt er den Schüleräußerungen etwas, was ihnen nicht unbedingt unterstellt werden kann.

Barricelli geht davon aus, dass Geschichte zu erzählen identisch mit Geschichte zu lernen sei und untersucht das erzählerische Handeln der Schüller/innen. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der PISA-Erhebung zur Sprachkompetenz Jugendlicher besitzt diese Arbeit eine weiterreichende bildungspolitische Dimension. Die Studie ist ein Beitrag zur gegenwärtigen geschichtsdidaktischen Debatte um Beschreibung und Definition von Geschichtsbewusstsein, weil sie in Anlehnung vor allem an Jörn Rüsen historisches Erzählen als die Operation definiert, in der sich historische Sinnbildung äußert.

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