E. Welkerling u.a. (Hrsg.): Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus

Cover
Titel
Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus. "Jugendpflege" und Hilfsschule im Rheinland 1933-1945


Herausgeber
Welkerling, Erika; Wiesemann, Falk
Erschienen
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Gruner, Berlin

Für die historische Bildungsforschung ist der hier besprochene Sammelband von besonderem Interesse, widmet er sich doch dem Umgang mit sozialen (Rand-)Gruppen, deren Stigmatisierung in vielfältiger Weise im Schulsystem mitbewirkt wird. In der Diskussion um das „dreigliedrige“ Schulsystem und seine „Risikogruppen“ wird meist vergessen, dass das deutsche Schulsystem noch ein weiteres Sammelbecken für schulisches und gesellschaftliches Scheitern bereithält: die „Sonderschule“, deren Klientel stetig wächst. Mit seinem regionalgeschichtlichen Zugang folgt der Band „Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus“ einem Trend, dem konkreten Bildungsort, den „Akteuren und Lebensläufen, Anstalten und Einrichtungen“ einen angemessenen Platz einzuräumen.1 Man darf gleichwohl annehmen, dass nicht nur der bürgerliche Bildungsbegriff, sondern auch das institutionelle Gefälle im Bildungssystem sich in den Forschungsgegenständen niederschlägt.

So ist es verdienstvoll, dass das Buch eine soziale Gruppe ohne Lobby – Kinder und Jugendliche in Jugendfürsorgeerziehung und Hilfsschule –, die 1933 zur Zielgruppe des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde, in den Mittelpunkt stellt. Es versammelt Vorträge zweier Tagungen zum Thema „Erinnerungsort Düsseldorf“ des Fachbereichs Sozialpädagogik der Fachhochschule Düsseldorf. Verbindender Untersuchungsrahmen ist die Regionalgeschichte der Stadt Düsseldorf bzw. der Rheinprovinz. Daraus ergeben sich allerdings die für Tagungsbände typischen Schwierigkeiten, heterogene Themen und Zugänge zu bündeln. Von den vier Kapiteln (I. Staatsjugend, II. Arbeitslenkung und Arbeitserziehung, III. Jugendfürsorge und Hilfsschule, IV. Die andere Jugend) beziehen sich nur die Mittelkapitel auf den Titel. Sie heben sich zugleich in Umfang und historisch-systematischer Ausrichtung deutlich ab. Die Herausgeber/in sehen darin „Beiträge über die selektierende ‚Fürsorge‘ und ‚selektierende Schule‘“ (S. 9).

Die öffentliche Jugendhilfe erfuhr im Nationalsozialismus eine folgenreiche Trennung zwischen der „Erhaltung und Förderung des gesunden Nachwuchses“ für die „Volksgemeinschaft“ (S. 7) und der Betreuung „minderwertigen Nachwuchses“, zu der auch die Meldungen zur Zwangssterilisation und zur Euthanasie gehörten. Der Zusammenhang zur „selektierenden Schule“ stellt sich her, weil der „unerwünschte Nachwuchs“ sich fast ausnahmslos in Fürsorgeeinrichtungen und Hilfsschulen befand. Mit den Hilfsschulen existierte seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Instrument der Aussonderung aus der Volksschule. Das Ende „nach unten“ war damit keineswegs erreicht, wie 1938 die „Ausschulung bildungsunfähiger Hilfsschüler“ zeigt, die den Jugendämtern zur „Betreuung“ überlassen wurden. Die Einzelbeiträge untersuchen die dabei wirksamen Exklusionsmechanismen, die weit über den Zeitraum 1933-1945 hinausreichen.

Das Ineinandergreifen arbeitsmarkt-, sozial- und schulpolitischer Ziele zeigt Michael Jankowski exemplarisch am „Rheinischen Provinzialinstitut für Arbeits- und Berufsforschung“, das – den Aufstieg der praktischen Psychologie in der Berufseignungsdiagnostik verkörpernd – seit 1926 in Zusammenarbeit mit dem Berufsamt und der Schulverwaltung eignungspsychologische Tests für die „Berufszuführung“ und „Berufsbrauchbarmachung“ Jugendlicher erprobte. Mit spekulativen rassenpsychologischen Konzepten diente sich das Institut der nationalsozialistischen Auslesepolitik an. Dies wurde zur bezeichnenden Fehlanpassung, als die Verwertungsinteressen des Staates sich auf die „Mobilisierung aller [...] Leistungsreserven“ mit dem „Einsatz auch des letzten arbeitsfähigen Volksgenossen“ richteten (S. 111).

Sieglind Ellger-Rüttgardt hinterfragt die Erwerbsfähigkeit als „Bildungsziel“ der Hilfsschulpädagogik, für die sie die Kontinuität utilitaristischer Prinzipien zwischen Pädagogik, Politik und Ökonomie herausstellt. Mithilfe von Begriffen wie „Begabungsgrenzen“ und „Bildungsbehinderung“ im Verbund mit „Fürsorge“ sorgte die Hilfsschulpädagogik eher dafür, Kinder und Jugendliche aus der Arbeitsgesellschaft zu verdrängen, als Perspektiven der gesellschaftlichen Teilhabe zu schaffen.

Die Hilfsschule als Gegenstand medizinischer Diskurse untersucht Wolfgang Woelk. Er beginnt bei der Rolle der Medizin in der Moderne mit ihrem „Definitions- und Handlungsmonopol über Krankheit und Gesundheit“ und betont die „weltanschaulich durchsetzt[e]“ Konstruktion von Gesundheit (S. 157). Keine gesellschaftliche Gruppe sei in der Weimarer Republik „nicht von den Gedanken einer Fortpflanzungshygiene, [...] ‚Volksaufartung‘ oder ‚positiven‘ bzw. ‚negativen‘ Rassenhygiene durchdrungen“ gewesen (S. 158). Die Sterilisierung von Hilfsschülern versprach die Entlastung der „künftigen Generationen von einer Unsumme von Schwachsinn und anderer geistiger Minderwertigkeit“ (S. 159). Durchgesetzt habe sich die Tendenz, „in den schulischen Problemen der Hilfsschüler keine pädagogische Herausforderung mit den hierzu nötigen Maßnahmen zu sehen“ (S. 160). Soziale Indikationen wurden in medizinische Diagnosen umgedeutet, um Zwangssterilisationen bzw. den Ausschluss aus „positiven Erbgesundheitsmaßnahmen“ zu legitimieren. Bei der exponierten Stellung der Gesundheitsämter war der Hilfsschule die „planmäßige Beobachtung“ für die Auslese zwischen „Brauchbaren“ und „Minderwertigen“ zugedacht. Ein beiläufiger Hinweis Woelks besagt: auch unter Verzicht auf Unterricht.

Beiträge über einzelne Einrichtungen rekonstruieren anschließend den institutionellen Umgang mit „verwahrlosten“, „erziehungsschwierigen“ und „bildungsunfähigen“ Jugendlichen. Die Ursache für die Radikalisierung gängiger Konzepte (Sittlichkeitserziehung, Arbeitserziehung) in evangelischen Heimen sieht Uwe Kaminsky in der Krise der geschlossenen Anstaltsfürsorge und der Finanzkrise der Weimarer Republik. „Kostenträchtige Fürsorgeerziehung wurde nur noch für die schwersten Fälle von Lernbehinderung oder Verwahrlosung angeordnet“ (S. 179). Die überschuldeten Düsseltaler Anstalten reagierten mit der Aussonderung der „hoffnungslos erscheinenden Fälle“, um „den einigermaßen Erziehungsbereiten die Erziehung zu sichern“ (ebenda). Deutungen von „Bildungsfähigkeit“ und „Leistungsfähigkeit“ bemaßen sich auch an Pflegegeldsätzen.

Volker van der Lochts Beitrag über das katholische Franz-Sales-Haus für Geistig- und Lernbehinderte zeigt, dass bereits pädagogische Initiativen, die der aufklärerischen Idee universaler Bildungsfähigkeit verpflichtet waren, von permanenten Differenzierungsprozessen begleitet waren. Hierarchische Klassifizierungen („Schwachbegabte“, „Schwachsinnige“, „Blödsinnige“) verdankten sich auch den Ambitionen der Pädagogen. Den Aufstieg der Mediziner in der Hilfsschuldiagnostik verdeutlicht beispielhaft das Wirken eines Anstaltsarztes, der (seit 1911 Mitglied des Hilfsschulverbandes) die Hilfsschullehrerausbildung in Essen mitbegründete, „Ausschulungs“- bzw. „Hilfsschulaufnahmeverfahren“ entwarf und seine Vorstellungen von „fachgerechte[r] Differenzierung“ in der Zeitschrift „Die Hilfsschule“ publizierte.

Die Beiträge fragen ausdrücklich nach den Akteuren der Auslesepraxis. Das waren oft die „sehr engagierten Ärzte und Mediziner“ (S. 170). Unübersehbar ist jedoch die Rolle der Hilfsschullehrer, die „ihre öffentliche Reputation durch ‚Selektion nach unten‘“ aufwerteten (S. 159). Das Zusammenspiel von Ärzten und Hilfsschullehrern in der „Schulgesundheitspflege“, so Woelk pointiert, musste 1933 nicht neu aufgebaut werden, die Verfahren wurden „oftmals vom selben Personal durchgeführt“ (S. 160). Für die Heimerziehung bestritt die Oberin des Dorotheenheims, die 40 Prozent ihrer Zöglinge zur Sterilisation anmeldete, ausdrücklich jede Veränderung durch den Nationalsozialismus, „weil sie so, wie sie war, ins Dritte Reich hineinpasste“ (S. 231).

Damit geht es nicht nur um das „konforme oder nicht konforme Verhalten“ (S. 141) Einzelner, sondern um ein eingespieltes System. Von Familiendossiers, pädagogischen Beurteilungen, ärztlichen Zeugnissen und Intelligenztests konnte die Erfassung „erblich minderwertiger“ und „bildungsunfähiger“ Kinder und Jugendlicher profitieren. Die zitierten schulischen Beurteilungen spiegeln dabei weniger die „korrekt-bürokratische Umsetzung nationalsozialistischer Ideologie und Politik in den Alltag der Schule“ (S. 147) als eine konventionelle, schulische Normen (leichtfertig) verallgemeinernde Bewertungspraxis. Fürsorgegutachten strotzten von Vorurteilen und kleinbürgerlicher Selbstgerechtigkeit.2 Erklärungen abweichenden Verhaltens sollten „den möglichen Vorwurf pädagogischen Versagens“ abwehren (S. 213), Diagnosen folgten politischen Maßgaben. Galten 1933 in Neudüsseltal 148 von 165 Jugendlichen als „erbkrankverdächtig“, wurde 1937 – unter neuen wehr- und wirtschaftspolitischen Orientierungen – einem Drittel der Zöglinge „Lebensbewährung“ und „Nachreifung“ bescheinigt. Hier spiegeln sich bis heute relevante Professionsprobleme.3

Nicht nur in der historischen Rekonstruktion, sondern auch im Sichtbarmachen und Erweitern von Forschungsfragen liegt das Potential regionalgeschichtlicher Forschung. Der Sammelband zeigt anhand der rheinischen Behörden, wie neben weltanschaulichen und pädagogischen Konzepten ökonomische Interessen und „Ressortegoismus“ praktische Handlungsorientierungen bestimmten. Dass die Medizin gar Erziehung und soziale Sicherung für die Reproduktion „minderwertigen Erbgutes“ verantwortlich machte, verdeutlicht die Schwäche pädagogischer gegenüber quasi-naturwissenschaftlichen Argumentationen. Doch stehen auch pädagogische Fragen im Raum: Zuschreibungen wie „anlagebedingt“, „erbgeschädigt“, „minderwertige Familien“ erwachsen aus pädagogischer Erfolglosigkeit oder Enttäuschung. Exklusion verdankt sich nicht nur der „Preisgabe pädagogischer Prinzipien“ (S. 10), sondern ebenso pädagogischen Differenzkonstruktionen. Die „Entwicklungsmöglichkeiten des einzelnen Kindes“ (S. 133) sind eine Frage der Wahrnehmung, denn, so Pierre Bourdieu, „das Interesse für den wahrgenommenen Aspekt ist nie ganz unabhängig vom Interesse, ihn überhaupt wahrzunehmen.“4

Anmerkungen:
1 Kemnitz, Heidemarie; Tenorth, Heinz-Elmar; Horn, Klaus-Peter, Der Ort des Pädagogischen. Eine Sammelbesprechung bildungshistorischer Lokal- und Regionalstudien, in: Zeitschrift für Pädagogik 44 (1998) 1, S. 127.
2 So registrierten die Fürsorgerinnen des „Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder“ nicht nur die beengten Wohnverhältnisse, sondern auch das „sittliche Niveau“ der Familie F., die „als gefährliche Kommunisten bekannt“ sind (S. 211).
3 Ader, Sabine, Was leitet den Blick? Wahrnehmung, Deutung und Intervention in der Jugendhilfe. Weinheim 2005.
4 Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1984, S. 741.

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