J.-O. Hesse u.a. (Hrsg.): Das Unternehmen als Reformprojekt

Cover
Titel
Das Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen und Entwicklungen von Unternehmen der "moralischen Ökonomie" nach 1945


Herausgeber
Hesse, Jan-Otmar; Schanetzky, Tim; Scholten, Jens
Reihe
Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 12
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Fiedler, Erich Kästner-Gesamtschule, Bünde

Der Sammelband umfasst neben der Einleitung der Herausgeber zehn Beiträge aus der jüngeren Forschung zur Geschichte von Unternehmen aus Deutschland und aus der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die gemeinsame Klammer der einzelnen Beiträge ist der aus einem 1971 veröffentlichten Aufsatz von Edward P. Thompson entlehnte, aber keineswegs deckungsgleich verwendete Begriff der „moralischen Ökonomie“.1 Während Thompson Verhaltensweisen der englischen Unterschichten im Übergang zum Industriekapitalismus untersuchte und dabei Widerstände gegen den ausgreifenden Mechanismus des Marktes identifizierte, die er als Prinzipien einer „moralischen Ökonomie“ bezeichnete, benutzen die Herausgeber den Begriff zur Kennzeichnung eines unternehmerischen Handlungsmodells, „das die Bereitstellung von knappen Ressourcen mit außerökonomischen, politischen oder gesellschaftsreformerischen Zielen verbindet“ (S. 10). Das Interesse der Autoren zielt auf solche Unternehmen, die aufgrund ihres gesellschaftspolitischen Selbstverständnisses in ihrer Gründungsgeschichte oder in einem zeitlichen Abschnitt der Unternehmensentwicklung ein „gesellschaftspolitisches Reformprojekt“ darstellten, deren Unternehmenspolitik daher nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtet, sondern außerökonomisch oder eben „moralisch“ motiviert und legitimiert war.

Wer in diesem Zusammenhang zunächst an genossenschaftliche oder selbstverwaltete Unternehmensgründungen denkt, wird in diesem Sammelband fündig: Allein sechs Beiträge beschäftigen sich mit Genossenschaften im Wohnungsbau (Aufsatz von Tim Schanetzky über die Hattinger Wohnstätten) und Handel (Beiträge von Thomas Welskopp über die Schweizer Migros, Clemens Reichel über ASKO-Saarbrücken, Jens Scholten über REWE-Dortmund) oder mit Großunternehmen der Gemeinwirtschaft (Peter Kramper über die Neue Heimat) und des öffentlichen Sektors (Philipp Ischer über die Schweizerische PTT). Zwei Beiträge über Medienunternehmen (Jan-Otmar Hesse: Ringier-Verlag, Jens Scholten: „Vorwärts“) sowie je ein Aufsatz zu selbstverwalteten Betrieben in Hessen (Frank Heider) und zu neueren Ansätzen der Wirtschafts- und Unternehmensethik im Hinblick auf das Thema „Gender“ in modernen Unternehmen (Birger P. Priddat) ergänzen das Tableau.

Dem Anspruch der Herausgeber, Konturen von Unternehmen deutlicher zeichnen zu können, die gesellschaftsreformerische Ziele in einem kapitalistischen Produktionsregime verfolg(t)en, wird dieser Sammelband insofern gerecht, als die getroffene Auswahl der Beiträge und die Aktualität der jeweiligen Forschungsprojekte den Leser/innen einen guten Einblick in Bereiche der Wirtschaft nach 1945 verschaffen können, in dem Großunternehmen und Kleinbetriebe nicht nur einer betriebswirtschaftlich zu erklärenden Logik der Gewinnmaximierung verpflichtet waren. Der Beitrag von Frank Heider kontrastiert die Ergebnisse einer Studie über selbstverwaltete Betriebe in Hessen aus dem Jahr 1986 mit einer Wiederholungsstudie aus dem Jahr 1995. Er kommt dabei zu dem Befund, dass in diesem Jahrzehnt nicht von einer zwangsläufigen Transformation in hierarchisch strukturierte „Normalbetriebe“, sondern von einem Fortbestehen des Modells der „kollektiver Betriebsorganisation unter marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen“ gesprochen werden kann. Allerdings blieb dieses Segment zu klein, um überhaupt von einem Modell für die Wirtschaft sprechen zu können.

Ein größeres Gewicht kann hier der Sektor der Medienunternehmen beanspruchen. In seinem Aufsatz über den schweizerischen Ringier-Verlag kommt Jan-Otmar Hesse zu dem Schluss, die moralische bzw. „patriotische“ Motivation spiele eine entscheidende Rolle in der Unternehmensgeschichte, zumal mit der nationalen Abschottung des Medienmarktes mehr als nur eine ökonomisch motivierte Strategie verbunden gewesen sei: Gerade hier werden jedoch Schwächen des von den Herausgebern präsentierten Konzeptes einer „moralischen Ökonomie“ deutlich, die weiter unten aufgegriffen werden müssen. Dass auch die Geschichte des sozialdemokratischen „Vorwärts“ nicht im Rahmen einer konventionellen Unternehmensgeschichte zu fassen ist, zeigt der Beitrag von Jens Scholten auf.

Die Aufsätze über genossenschaftliche Unternehmen stimmen darin überein, dass in den historisch gewachsenen Reformprojekten mit basisdemokratischer Legitimation spätestens in den 1970er-Jahren alte Werte wie „Solidarität“ und „Gegenmacht zum kapitalistischen Unternehmertum“ durch Leitbilder wie „Effizienz“ und „Orientierung am Markt“ abgelöst wurden. Gesellschaftliche Reformprojekte verwandelten sich praktisch in konventionelle Unternehmen. Einen wahrscheinlich einmaligen Sonderfall bildet die interessante Geschichte der Schweizer Migros, die ihre Rechtsform der privatwirtschaftlichen Aktiengesellschaft gegen eine Genossenschaft eintauschte. Im Ergebnis schuf der Schweizer Handelsriese, wie Thomas Welskopp bilanziert, im Nachbarland „eine fast vollkommene Parallelwelt, die den Kapitalismus ein wenig karikiert, um trotzdem kräftig an ihm teilzuhaben“ (S. 145). Die langfristig prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen einer explizit gesellschaftspolitischen Zielsetzung und marktwirtschaftlicher Orientierung schildert Peter Kramper in seinem Beitrag über den Aufstieg und Fall der Unternehmensgruppe „Neue Heimat“. Das unternehmerische Scheitern der größten gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugesellschaft setzte letztendlich einen symbolischen Schlusspunkt unter eine schwindende Perspektive gesellschaftspolitischer Reformen, die mit dem Ende des Nachkriegsbooms unterging. Der Beitrag von Ischer handelt von der Privatisierung des Schweizerischen Staatsmonopols PTT, wobei der Autor ebenso wenig auf den Begriff der „moralischen Ökonomie“ eingeht wie der nicht unternehmensgeschichtlich angelegte Beitrag von Priddat über „Soft factors in Organisationen“.

Es ehrt die Herausgeber, dass sie wenigstens in einer Fußnote die durchaus vorhandenen Kopfschmerzen über die Verwendung des Begriffs „moralische Ökonomie“ nicht verhehlen. Das dem Sammelband zu Grunde liegende Konzept bleibt in der Tat zu allgemein und verschwommen, als dass es als theoretische Klammer der einzelnen Beiträge dienen könnte. Im Sinne von Thompson müsste der Sammelband eigentlich Widerstände gegen die Dominanz einer kapitalistischen Marktordnung untersuchen, die sich sowohl in historischer Perspektive als auch gegenwärtig eher jenseits unternehmerischer Tätigkeit finden lassen. Jedoch auch in der zweckentfremdeten Anwendung der Herausgeber bleibt das Konstrukt einer „moralischen Ökonomie“ allzu blass, weil trotz des gesellschaftsreformerischen Anspruchs, den die meisten der untersuchten Fallbeispiele zweifelsohne hatten, kein unternehmensspezifisches Handlungsmodell zu erkennen ist: Alle untersuchten Unternehmungen waren zugleich ökonomisch motiviert, denn sonst hätten sie niemals hinreichend Stoff für einen Beitrag zur Unternehmensgeschichte bieten können. Umgekehrt stellt sich die (in diesem Sammelband nicht erörterte) Frage, ob das so genannte „konventionelle“, angeblich nur durch die Maximierung des Gewinns motivierte Unternehmen, nicht auch außerökonomischen, etwa ethischen und politischen Zielen verpflichtet bzw. unterworfen war und ist. Das pauschale Votum der Herausgeber in der Einleitung über die Neue Institutionenökonomie, sie sei – getrieben von blinder Erklärungswut – verantwortlich dafür zu machen, dass die Unternehmensgeschichte auf die Analyse von Kosten und relativen Preisen reduziert werde (S. 8f.), erscheint mir vor dem Hintergrund eines theoretisch dürftigen Konzeptes doch etwas zu dick aufgetragen. Weder halte ich dieses Urteil für angemessen, noch lässt der Sammelband eine Alternative erkennen: Er enthält wenig aufeinander bezogene, gleichwohl empirisch solide Beiträge über deutsche und schweizerische Unternehmen aus der Zeit nach 1945, die aus diversen Forschungsprojekten der beteiligten Autoren resultieren – mehr nicht.

Anmerkung:
1 Thompson, E.P., The Moral Economy of the English Crowd in the 18th Century, in: Past & Present 50 (1971), S. 76-136.

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