M. Rüther: Köln im Zweiten Weltkrieg

Cover
Titel
Köln im Zweiten Weltkrieg. Alltag und Erfahrungen zwischen 1939 und 1945


Autor(en)
Rüther, Martin
Reihe
Schriften des Dokumentationszentrums der Stadt Köln
Erschienen
Köln 2005: Emons Verlag
Anzahl Seiten
960 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Gotto, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg

Das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln hat der lokalgeschichtlichen Forschung bereits einige weiter führende Impulse gegeben. Nun hat Martin Rüther mit einer Alltagsgeschichte des Zweiten Weltkriegs einen weiteren Schritt auf diesem Weg getan. Das gute Renommee des Hauses – 2000 vom European Forum als „Musem of the year“ ausgezeichnet – eröffnete ihm den Zugang zu einem großen Fundus an Quellen aus Privatbesitz, die er zusammen mit einigen erst in den letzten Jahren entdeckten Überlieferungen und der NS-Forschung schon länger bekannten Quellen zu einer voluminösen Gesamtschau synthetisiert. Von den gut 950 Seiten entfällt gut die Hälfte auf Schilderungen; die andere Hälfte gehört den Quellen. Das Buch richtet sich nicht in erster Linie an die Fachhistoriker/innen, sondern möchte interessierte Laien erreichen – nicht zuletzt, um die emotionalisierende und verzerrende Darstellung des Publikumserfolgs von Jörg Friedrich gerade zu rücken. In gewisser Weise ist das Buch ein Gegenentwurf zu dessen populärwissenschaftlicher und stellenweise reißerischer Zusammenschau „Der Brand“.

Die Darstellung ist nicht thematisch, sondern chronologisch nach Kriegsjahren mit zwei vorgeschalteten Kapiteln zu Vorkrieg und Kriegsbeginn angeordnet. Die Kapitel, die bis auf 1945 jeweils mit einem Abschnitt „Zum Jahreswechsel“ enden, behandeln eine breite Palette von Themen, die sich zum einen an der heimatlichen Kriegsagenda orientieren, zum anderen der Quellenauswahl geschuldet sind. In das Buch sind zudem 35 Beiträge von Gerhard Aders eingestreut, die faktengesättigte Hintergrundinformationen vornehmlich zu Strategie, Waffentechnik und Wirkungsweise der britischen und amerikanischen Luftangriffe beisteuern. Leider fehlt ein Register, das diesen Namen verdient; kein Personenverzeichnis und ein Themenindex mit nur 23 Einträgen sind wohl ein Tribut an den Zeitdruck, unter dem der Band entstanden ist. Auch das Literaturverzeichnis ist äußerst schmal geraten, darin haben ganz überwiegend Titel zur Kölner Stadtgeschichte Aufnahme gefunden, während die anschwellende ortsübergreifende Literatur zum Bombenkrieg kaum berücksichtigt wurde.

Trotz der Breite, die jeder alltagsgeschichtliche Zugriff in Kauf nehmen muss, lässt Rüther bewusst eine Lücke: Die Sichtweise und Aktionen der örtlichen Funktionäre/innen kommen bei ihm nicht vor. Der Autor rechtfertigt das mit dem Argument, deren Treiben habe sich für die Kölner Normalbürger „im Verborgenen“ (S. 12) abgespielt und man wolle sich auf deren Perspektive konzentrieren. Tatsächlich macht sich hier der massive Verlust an Akten bemerkbar, den die offiziellen Überlieferungen in Köln erlitten haben. Mit dieser Entscheidung rückt allerdings ein wesentliches Element der „Heimatfront“ in den Hintergrund, denn gerade die angeblich unauffälligen Aktivitäten erhielten im Alltag, dessen Geschichte das Buch ja beschreibt, die Funktionsfähigkeit der Stadt eine gewisse Zeit lang aufrecht. Überdies werden nicht wenige Abschnitte wie z. B. „Jugenddienstpflicht und unangepasste Jugendliche“ aus dem Jahr 1942 vollständig aus den noch vorhandenen Überlieferungen genau dieser Funktionäre geschildert, kein einziger „unangepasster Jugendlicher“ oder ehemaliger Hitlerjunge kommt hier zu Wort.

Rüthers Kronzeuge im Darstellungsteil ist der Schweizer Generalkonsuls Franz-Rudolf von Weiss. Das ist eine gute Wahl, denn Weiss schilderte als neutraler Beobachter während des gesamten Krieges die Lage der Stadt und ihrer Bevölkerung detailliert und unverstellt. Rüther verschleiert allerdings, dass Weiss' Berichte bereits ediert worden sind 1; in einer Endnote der Einleitung wird das Buch des Entdeckers dieser Berichte zwar kurz erwähnt, allerdings weist der Autor weder im Haupttext darauf hin, noch hat die Edition Aufnahme in das Literaturverzeichnis gefunden. Diese Unterschlagung überschreitet die Grenze zwischen Nachlässigkeit und Unverfrorenheit. Die Darstellung hat den Charakter eines Köln-Lesebuchs. Rüther behandelt zahlreiche Facetten des Alltags – hier hätte eine Konzentration gut getan, denn vor allem da, wo dem Autor offensichtlich keine aussagekräftigen Quellen zur Verfügung standen, hat die Darstellung Längen. Das Buch bietet eine ziemlich breite, aber auch wenig kohärente Schilderung. Obwohl an Darstellungen über andere Städte im Bombenkrieg kein Mangel herrscht, fehlt der Vergleich zu anderen Orten der „Heimatfront“. Aus diesem Grund verfehlt Rüther leider zu einem gewissen Teil sein Ziel, eine Art Anti-Friedrich vorzulegen. Er löst seinen Anspruch lediglich für Köln selbst ein, und zwar vor allem durch den abgewogenen Tonfall und den Verzicht auf eine einseitige Opferperspektive.

Die chronologische Darstellung bringt Wiederholungen mit sich – das wirkt einerseits besonders eindringlich und bringt den Leser/innen die Zermürbung nahe, unter der die Kölner wegen der unzähligen Alarme und Luftangriffe litten. Außerdem eröffnet dieser Erzählmodus die ganze Bandbreite der Perfidie, die qualvolle Steigerung bei der Drangsalierung der Kölner Juden, deren systematische Diskriminierung und Ausschluss aus der Rechtssphäre der „Volksgemeinschaft“ ja auch permanenter Bestandteil des Kriegsalltags war. Allerdings geraten längerfristige Entwicklungen so aus dem Blickfeld. Es entsteht eine Art Kaleidoskop, aber bis auf wenige Andeutungen in der Einleitung fehlen Einordnungen, die über den Kölner Horizont hinausweisen. Es sind zudem immer wieder dieselben Gewährsmänner und -frauen, die Rüther zitiert und nicht selten mutmaßt, so werde wohl ein großer oder der größte Teil der Kölner Bevölkerung gefühlt und gedacht haben. Dabei handelt es sich zwar um private und entsprechend ungeschminkte Äußerungen, aber für eine so große Stadt wie Köln erscheint es dem Rezensenten doch problematisch, derartig zu generalisieren.

Gleichwohl erfahren die Leser/innen eine Fülle von Einzelheiten, die ein sehr plastisches, bedrückendes Gesamtbild ergeben, aus dem hier nur einige Akzente besonders hervorgehoben werden können. Köln litt bereits früh unter sehr vielen Angriffen, denn es war für die britische Luftwaffe in naher Reichweite und leicht zu erkennen. Wenn der Angriff auf andere Städte etwa wegen schlechter Sicht abgebrochen wurde, trafen die Bombenladungen Köln häufig als Ersatzziel. Zudem lag die Domstadt in der Einflugschneise für ganz Westdeutschland. Klagen über Schlafmangel, die unerträgliche Nervenanspannung und die daraus folgende körperliche und seelische Erschöpfung ziehen sich wie ein roter Faden durch die Quellen. Das öffentliche Leben in Köln war seit Mitte 1942 außerdem dauerhaft angeschlagen. Früher als in anderen Großstädten wie z. B. Hamburg bildet sich in Köln daher eine Art Untergrundleben, in dem sich Schwarzmarkthändler/innen, aufmüpfige Jugendliche, entlaufenen Zwangsarbeiter/innen und Wehrmachtsdeserteure/innen tummelten. Trotz drakonischer Strafen gelang es nicht, diese sich der öffentlichen Ordnung des NS-Staates entziehende Unterwelt in den Griff zu bekommen.

Gerade weil Rüther versucht, den Kriegsalltag möglichst umfassend zu schildern, befremdet eine Lücke: Glauben und Religion macht seine Darstellung nur ganz am Rande zum Thema. Der Autor kritisiert wohlfeil das Schweigen des Papstes zum Mord an den Juden und sieht in den Stellungnahmen der Amtskirche zum Krieg gar eine Befürwortung. Seine Interpretation der Kritik, die Kardinal Frings bei seiner Amtseinführung an der rassistischen NS-Politik öffentlich äußerte, spielt deren Sprengkraft dagegen herunter. Diese verzerrte Optik ist wohl auch der Grund für den blinden Fleck des Autors in Bezug auf die tiefe Religiosität, die die Kölner/innen in den Quellen bezeugen. Mit dem Hinweis, jemand sei „gläubige Katholik(in)“ im „heiligen Köln“ gewesen, müssen sich die Leser/innen zufrieden geben – das allerdings erschließt sich beim Lesen ganz von selbst. Hier hat Rüther die Chance vergeben, eine den Alltag prägende Dimension tiefer auszuleuchten, die einen zentralen Rang im Leben der Kölner/innen einnahm und deren Bedeutung in den extremen und existenziellen Gefahren des Krieges wohl kaum überschätzt werden kann – nicht umsonst sagt das Sprichwort „die Not lehrt beten“.

Das Gebet ist denn auch ausgesprochen präsent in den Quellen. Der Dokumentationsteil speist sich aus 19 Textkonvoluten. Gut die Hälfte davon sind Briefwechsel, außerdem werden Tagebuchauszüge und einige erst nach 1945 entstandene Berichte abgedruckt. Die meisten Dokumente werden gekürzt wiedergegeben. Das mag kaum vermeidbar gewesen sein, doch es bleibt ärgerlich, dass Rüther seine Editionskriterien nicht offenlegt und die Leser/innen auch nirgends erfahren, wie groß die Auslassungen sind. Bei zwei sehr ausführlichen Briefwechseln hingegen fragte sich der Rezensent, warum die Liebesbezeugungen junger, durch den Krieg getrennter Paare auf insgesamt knapp 100 Seiten wiedergegeben werden, noch dazu unter Überschriften („Eine junge Liebe“ - „Eine Liebe im Krieg“), die auf einer anderen Ebene, aber ebenso ungeniert emotionalisieren wie das von Rüther angeprangerte Buch von Jörg Friedrich. Wenn auch die Gewichtung der Quellen nicht ganz überzeugen kann, so stellt Rüther die Autoren/innen der Briefe, Tagebücher und Berichte, an deren Leben die Leser/innen durch Briefe und Tagebucheinträge teilnehmen, mit großer Sorgfalt vor und hält dabei eine ausgewogene Balance zwischen Distanz und Nähe zu seinen Gewährsmännern und -frauen.

Besonders verdienstvoll ist, dass sowohl die privaten Äußerungen ausgesprochener Anhänger des Nationalsozialismus als auch einer jüdischen Familie dokumentiert sind. Deren naturgemäß höchst unterschiedliche Hoffnungen und Sorgen machen die Bandbreite des Alltags deutlich, der sich in Köln zur gleichen Zeit abspielte. Der ganz überwiegende Teil der Quellen belegt indessen, dass die meisten Kölner kaum Anteil an der großen Politik nahmen. Nicht der Endsieg beschäftigte die Menschen, sondern die eigene Todesgefahr, drückende Sorgen um die Männer an der Front, die ständig wachsenden Existenznöte in der immer funktionsunfähiger gebombten Stadt und nicht zuletzt die Trauer über die mit jedem Angriff fortschreitende Zerstörung der Heimatstadt, an der die Kölner/innen damals wie auch heute noch besonders innig hängen. Ein außergewöhnlich eindringliches Zeugnis für das Grauen des Bombenkrieges sind elf Schulaufsätze, die Grundschülerinnen im Alter zwischen vier und sieben Jahren nach einem Großangriff über die Bombennacht schrieben.

Obwohl sich beim Lesen einige Passagen wiederholen, die Rüther in der Darstellung bereits verwendet, übertreffen die Quellen letztere natürlich an Unmittelbarkeit und Detailfülle – und genau dadurch sollte sich eine plastische Alltagsgeschichte ja auszeichnen. Für die Luftkriegsforschung bietet vor allem der Dokumentationsteil eine Fundgrube aussagekräftiger Quellen, ohne dass Rüthers Ergebnisse im Darstellungsteil dazu neue Denkanstöße zu geben vermögen. Das ist aber auch nicht sein vordringliches Ziel. Das Buch möchte Geschichtsinteressierte ansprechen, und das wird es auch tun, sofern sich potenzielle Leser/innen nicht von seinem Umfang abschrecken lassen. Rüthers Wurf, und insofern ist es unter dem Strich doch ein gelungenes Gegenstück zu Friedrichs „Der Brand“, ist im besten Sinne des Wortes populärwissenschaftlich, denn es hebt sich wohltuend durch seine Sorgfalt, Ausführlichkeit und Fähigkeit zur Differenzierung von einseitigen Produktionen im Stile eines Jörg Friedrich oder Guido Knopp ab.

Anmerkung:
1 Schmitz, Markus; Haunfelder, Bernd, Humanität und Diplomatie - die Schweiz in Köln, Münster 2001.

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