P. Thiergen (Hrsg.): Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit

Titel
Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsdesiderat


Herausgeber
Thiergen, Peter
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Renner, Historisches Seminar, Abteilung für osteuropäische Geschichte, Universität zu Köln

Koselleck ist tot – wie lebt die Begriffsgeschichte? Mühsam, möchte man spontan vermuten. Denn nur wenige beherrschen die Kunst des kürzlich verstorbenen Gelehrten, aus mit sprachgeschichtlichen Befunden gefüllten Zettelkästen (oder Datenbänken) neue Inhalte zu synthetisieren und sie souverän in die großen und kleinen Kontexte der abendländischen Kulturgeschichte einzuordnen. Doch mit Mutmaßungen und Nachrufen ist kein Buch zu rezensieren, und wie jedes wissenschaftliche Unternehmen lebt auch die Begriffsgeschichte von ihrer Weiterentwicklung. Koselleck selber, der mit Interesse die Osteuropaforschung begleitete, hätte fraglos das seit längerem angekündigte Erscheinen einer ersten Synopse zur russischen Begriffsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte begrüßt.

Zwar besitzt die vom Bamberger Slavisten Peter Thiergen zusammengestellte Sammlung von 27 Aufsätzen weder die methodische Stringenz noch die thematische und chronologische Dichtheit des von Koselleck mitbegründeten Lexikons geschichtlicher Grundbegriffe, das sich bekanntlich auf die deutsche politische Sprache zwischen 1750 und 1850 konzentriert. 1 Doch Thiergen präsentiert (noch?) kein Sonderforschungsprojekt, sondern eine Momentaufnahme, die auf einer Tagung im Jahr 2001 entstand. Das grundsätzliche Verdienst des unvermeidbar heterogenen Konferenzbandes besteht darin, überhaupt systematisch den Forschungsstand zum Verhältnis von Sprache und russischer Geschichte zu dokumentieren und in konkreten Fallstudien neue Forschungsansätze zu testen.

Auch wenn die Begriffsgeschichte deutscher Prägung den wichtigsten Bezugspunkt darstellt, bleibt der Sammelband interdisziplinär ausgerichtet. Anders ist das Anliegen, Sprache nicht nur als Medium, sondern auch als wirklichkeitsprägenden Faktor zu untersuchen, wohl auch nicht umzusetzen. 2 Die Forschung zu Russland kann hier auf einem vergleichsweise hohen Niveau einsteigen; seit den 1970er-Jahren ist Kosellecks Konzept der Begriffsgeschichte erweitert, kritisiert und von anderen Ansätzen herausgefordert worden. 3

Insbesondere der Trend, der weg von den reflektierten Begriffen politischer Vordenker zu eher alltäglichen Denkfiguren und Wortfeldern führt, lässt sich auch für die russische Begriffsgeschichte nutzen – wie Ingrid Schierle in ihrem Beitrag über Patriotismusmetaphern zeigt. Letztlich betreiben nur drei Autoren Begriffsgeschichte im engeren Sinn: Wolfgang Stephan Kissel über „Zivilisatsija“, Reinhard Lauer über „Progress“, Galina Skljarevskaja über „Intelligenzija“. Nicht zufällig sind dies drei Lehnwörter, die komplementär zu den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ den dort vollständig ausgeblendeten osteuropäischen politischen Sprachraum ausleuchten.

Das Gros der Beiträge befasst sich dagegen eher mit Mythen (Petra Hesse über das Prometheische), mit Topoi – wie mit dem Ideal eines „neuen Menschen“ in der ausgehenden Zarenzeit (Daniel Schümann) – oder mit speziellen philosophischen Begriffen – z. B. des Religionsphilosophen Solowjow (Gerhard Ressel). Zwei Autoren (Hermann-Josef Röhrig, Dirk Uffelmann) untersuchen die theologische Fachsprache. Insgesamt jedoch stehen literarische Quellen, der slavistischen Sozialisation der Autorenmehrheit entsprechend, im Vordergrund. Die Spannbreite reicht vom klassischen Thema der „Oblomowschtschina“ (Brigitte Schultze und Vladimir Tunimanov zu einem Schlagwort, das auf den tragischen Helden aus Iwan Gontscharows Roman „Oblomow“ zurückgeht) über die „künstlerische Wahrheit“ (Michaela Böhmig) zur „Selbstliebe/Samoljubie“ (Vasilij Kruglov).

Manche Beiträge folgen der wenig originellen Formel: der Begriff „xy“ im Werk von N.N. Sie betreiben Wortbedeutungsgeschichte als Werksexegese und lassen offen, was unter Begriffsgeschichte zu verstehen sei. Andere greifen den roten Faden der Einleitung und den autorenübergreifenden Anspruch der Begriffsgeschichte auf: Helmut Keipert in seinem Aufsatz über sprachgeschichtliche Forschungsmöglichkeiten und -tendenzen am Beispiel der unter Gorbatschow populären „Glasnost“ oder Annelore Engel-Braunschmidt zur „Faulheit“. Sie stößt, ebenso wie Gudrun Langer mit ihrem Beitrag zum Melancholiebegriff des russischen Sentimentalismus, in den Bereich der Mentalitätsgeschichte vor, auch wenn beide sich auf einen begrenzten Textkorpus beziehen.

Begriffsgeschichte ist hier nicht Selbstzweck, sondern anschlussfähig für weiterführende Fragestellungen und Quellen. 4 Dass vielleicht in dem Bereich kulturell-anthropologischer Vorstellungen die spannenderen Forschungsthemen verborgen sind als in dem intensiv erforschten Reservoir der politisch-sozialen Ideengeschichte, lässt auch der Aufsatz von Ulrike Jekutsch über den Krankheitsbegriff des 19. Jahrhunderts vermuten. Allerdings ist die Wirkungsgeschichte selbst von Schlüsselbegriffen wie „Gesellschaft“ oder „Politik“ jenseits der prominenten Texte durchaus noch nicht geschrieben. Andrea Ebbinghaus zeigt für das Zeitfenster des frühen 19. Jahrhunderts am Beispiel der „narodnost“ (nationale Eigenart), wie ein Begriff Katalysator nicht nur von literarischer Theoriebildung, sondern auch von Öffentlichkeit sein konnte.

Im Schnelldurchlauf einer Rezension können nicht alle Beiträge einer so umfangreichen Sammlung gewürdigt werden. Die Vielfalt ist so groß, dass alle Leser/innen nach jeweiligen wissenschaftlichen Interessen bestimmen werden und müssen, welche Themen die entscheidenden sind. Eine Folge der Heterogenität ist aber, dass der Band als Ganzes ein klares Profil nicht erkennen lässt, keine begriffsgeschichtlichen Entwicklungsphasen oder Wendepunkte. Auch die Einleitung des Herausgebers bleibt hier vage und verzichtet auf inhaltliche Schwerpunkte oder weiterführende Thesen beispielsweise zu typischen Begriffsbildungen.

Die Zusammenstellung der Lemmata wirkt beliebig. Es müssen keineswegs die Grund-Begriffe Kosellecks sein, aber die Begründung der Begriffswahl durch die Autoren hätte in manchem Fall schon interessiert. Symptomatisch ist, dass die Beiträge nicht nach Begriffen oder Themenfeldern gegliedert sind, sondern alphabetisch nach Autorennamen. Der amorphe Charakter ist wohl das auffälligste Manko der Aufsatzsammlung, aber sie spiegelt auch ehrlich den von Thiergen beklagten „Florelegienstatus“ (S. XVII) der russischen Begriffsgeschichte wider. Das umfangreiche Register – für Sammelbände alles andere als selbstverständlich – ermöglicht eine entsprechend selektive Lektüre.

Nicht nur die Begriffsauswahl, auch die Methodik hätte stärker reflektiert werden können. Thiergen unterzieht den Forschungsrückstand und seine wissenschafts- und politikgeschichtlichen Ursachen einer scharfsinnigen Analyse. Er nennt lexikografische (und andere) Vorarbeiten, verweist auf Besonderheiten der russischen Sprache (wie den Einfluss von Lehnwörtern). Doch eine Kosten-Nutzen-Abwägung verfügbarer Konzepte fehlt; Kritiker/innen und Alternativen der Begriffsgeschichte bleiben ungenannt, wie etwa die Diskursanalyse in der Tradition Foucaults, die stärker seriell arbeitende historische Semantik oder die politische Sprachgeschichte der „Cambridge School“. Hierzu passt, dass in dem Band keine Forscher/innen aus dem französisch- oder englischsprachigen Raum zu Wort kommen. 5 So werden einerseits nicht alle Impulse genutzt, die eine russische Begriffsgeschichte begründen könnten, andererseits wird der Begriff so weit gespannt, dass alle, die nach vergessenen Wörtern und Bedeutungen suchen, ihn für sich entdecken können.

Anmerkungen:
1 Dipper, Christof, Die “Geschichtlichen Grundbegriffe”. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 281-308.
2 Scholtz, Gunter (Hg.), Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000.
3 Bödeker, Hans Erich (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002.
4 Vgl. Kessel, Martina, Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2001.
5 Zur Sprache des frühen 18. Jahrhunderts z. B.: Cracraft, James, The Petrine Revolution in Russian Culture, Cambridge, MA 2004.

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