O. Lueger (Hrsg.): Lexikon der gesamten Technik

Cover
Titel
Lexikon der gesamten Technik. 1904-1920


Herausgeber
Lueger, Otto
Reihe
Digitale Bibliothek
Erschienen
Anzahl Seiten
1 DVD-ROM
Preis
€ 79,85
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arne Schirrmacher, Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte, Deutsches Museum

Mit Otto Luegers großem Techniklexikon hat die Digitale Bibliothek des Directmedia Verlags die dritte Enzyklopädie auf DVD-ROM vorgelegt. Nach Meyers großem Konversationslexikon von 1905-1909 und Pierer's Universal-Lexikon von 1857-1865 wird das Medium, das langsam die CD-ROM für die Bereitstellung digitaler Daten ablöst, für ein spezielleres Nachschlagewerk genutzt, dass neben den 1904-1910 erschienen acht gewichtigen Bänden auch die Fortschreibung des darin enthaltenen Wissens bis zum Ersten Weltkrieg und die ersten Jahre der Weimarer Republik in Form der Ergänzungsbände von 1914 bzw. 1920 enthält. Das neue Medium ermöglicht es neben dem elektronisch erfassten und recherchierbaren Volltext das Werk zusätzlich im Faksimile zu reproduzieren, was einen völligen Ersatz der gedruckten Bände bietet. So können etwa Anordnung von Text und der über 10.000 gezeichneten Abbildungen oder die Aufteilung in Texte normaler und reduzierter Schrifttype erschlossen werden.

Die vorbildliche Software der Digitalen Bibliothek ist bereits des Öfteren beschrieben und gelobt worden. Für die vorliegende Ausgabe mag es genügen darauf hinzuweisen, dass sie von der vorliegende DVD für alle gängigen Windows-Versionen und für Mac OS ab Version 10.2 leicht zu installieren bzw. zu starten ist und im Vergleich zu älteren Versionen lediglich einige Erweiterungen hinzugekommen sind, die sich selbstverständlich einfügen. (Etwa das Wechseln von digitalisiertem Text zum entsprechenden Faksimile wechseln.) Die Systemvoraussetzungen für Windows sind gering (ab 486 und 32 MB Arbeitsspeicher), für Mac OS moderat (Prozessor k.A., 128 MB Arbeitsspeicher). Die Notwendigkeit eines DVD-Laufwerks wird die entscheidende Anforderung sein. Die Nutzerfreundlichkeit der enthaltenen Softwareversion 4.0 besticht vor allem darin, dass man leicht verschiedene Bände auf die Festplatte kopieren und zugleich benutzen kann; dann werden die Ergebnisse von Volltextsuchen oder Abbildungen innerhalb von Sekundenbruchteilen angezeigt. Alternativ kann man natürlich wie gewohnt die Recherche von der DVD durchführen. Leider wird bislang die Möglichkeit nicht unterstützt, nur Teile der Daten zu kopieren, etwa wenn die dauernde Verfügbarkeit des Faksimile entbehrlich ist. (Man kann jedoch nach vollständiger Installation den Faksimile-Ordner wieder löschen und kommt so mit 2 statt 4 GB Speicherplatz aus.)

Das von dem Wasserbauingenieur Otto Lueger (1843-1911) betriebene Projekt eines "Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften" erschien erstmals 1893-1898. Für die elektronische Edition wurde die vollständig überarbeitete und ergänzte zweite Auflage ausgewählt. Die dritte Auflage erschien 1926-1929, die vierte und letzte in 17 nun thematisch geordneten Bänden zwischen 1960 und 1972. Prinzipiell spiegelt jede dieser Auflagen in Auswahl und Inhalt eine Epoche der deutschen Geschichte, vom Kaiserreich der mechanischen bzw. elektrischen Maschinen über die beginnende Verkehrs- und Medienkultur der Weimarer Republik bis zum Technikbild der bundesdeutschen Nachkriegszeit.

Der erste Eindruck des vom Verlag als "beeindruckendes Zeugnis von der Technikbegeisterung und Fortschrittsgläubigkeit an der Wende zum 20. Jahrhundert" beworbenen Werkes mag zunächst enttäuschen. Der knappe Vorspann zur digitalen Ausgabe erschöpft sich in einigen Angaben zum Werk und wenigen technischen Hinweisen zum Gebrauch – eine Einordnung in die technikhistorische Publizistik der Zeit oder anderweitige Charakterisierungen des Werkes sucht man vergebens. Hier fällt man deutlich hinter den bei Meyers Konversationslexikon gesetzten Standard zurück, wo man eine Vorbemerkung voranstellte, die das Werk mit seinen Konkurrenten verglich, und zusätzlich eine an der Textart orientiert praktische Einführung gab. Die schiere Quantität an kurz erklärten Fachtermini einerseits und mehrseitigen Artikeln über spezielle technische Verfahren andererseits, von deren Existenz auch so mancher naturwissenschaftlich vorgebildeter Leser/innen kaum etwas geahnt haben mag, machen es zunächst fast unmöglich, das Lexikon blätternd zu lesen, etwas, was im Falle der anderen Enzyklopädien durchaus noch möglich war.

Dass der digitale Lueger dennoch für Historiker/innen eine aussagekräftige Repräsentation des Wissenschafts-, Technik- und Kulturverständnisses des frühen 20. Jahrhunderts darstellt und auch Einblicke in die Alltagsgeschichte gewährt, wird aber durch zwei andere Zugänge offenbar: durch die Anwendung adäquater Methoden der Datenanalyse und durch Diskurs- oder Textformanalyse.

Wenig erstaunen mag, dass das elektromechanische Zeitalter prominent abgebildet wird. Der Eintrag "Telegraph" umfasste 45 großformatige Druckseiten (entsprechend 182 Bildschirmseiten) mit ganzen 122 Abbildungen. Nimmt man die Ergänzungsbände hinzu, wächst das Informationsangebot noch einmal um 24 bzw. 12 Seiten und 39 resp. 14 Abbildungen reiner Fortschreibungen. Besonderen Quellenwert erhalten dabei insbesondere die Ergänzungsbände, die 1914 und 1920 erschienen sind und hochinteressante Vergleiche erlauben. So kann man etwa dem Artikel "Kriegstelegraph" von 1920 eine Darstellung entnehmen, dass die deutsche Telegrafentechnik den Anforderungen des langen Stellungskrieges nicht genügte; es war nur durch die massive Intervention der Reichstelegrafie möglich, die Kommunikation aufrecht zu erhalten. Auf diese Weise erlaubt der Vergleich der Einträge der zweiten Auflage mit der ersten Fortschreibung 1914 die Geschwindigkeit des technischen Wandels direkt vor Kriegsausbruch zu beurteilen, während der Ergänzungsband 1920 häufig durchaus kritische Reflektionen über die Qualität der deutschen Technik in Zeiten von Krieg und Ressourcenmangel enthält. Hier wandelt sich die Form der sprachlichen Darstellung des Öfteren auch von der faktischen Beschreibung zur selbstkritischen Bewertung. Interessanterweise war dies ein reflektierter Wandel, weist doch das Vorwort zum zweiten Ergänzungsband bereits darauf hin, dass "der neue Ergänzungsband ein Bild von den staunenswerten Leistungen der Technik während des Krieges trotz der vielen Hemmungen" böte.

Kultur- und alltagshistorische Einblicke gewähren die mitunter überraschend detaillierten Einträge etwa über Badeanstalten ("Bad") und Badeeinrichtungen im Hause oder auch über Bedürfnisanstalten, zu deren Erklärung allein 56 Abbildungen notwendig erachtet wurden. Die Aufzählung der 67 Patentnummern über Spüleinrichtungen finden sich im Eintrag "Klosett". Der Artikel über die Bedürfnisanstalten spannt mit der Darstellung der vielfältigen Pissoirformen, vergleichender Grundrisse der Toiletten etwa des Reichstags, von Irrenanstalten und Universitäten oder der symbolisierende Architektur öffentlicher Bedürfnisanstalten einen Raum kulturell geformter und gesellschaftlich geregelter Alltagspraktiken auf, welcher kaum an anderer Stelle so verdichtet greifbar ist. (Ja, auch hier gab es zumindest vor dem Krieg deutliche Innovationen in Form von unterirdischen "Massenklosettanlagen", 5 Abbildungen.)

Ein Hinweis auf die Auswirkungen des Krieges auf die Technik gewährt die einfache Volltextsuche nach dem Begriff "Krieg" und die Betrachtung der Treffer im zweiten Ergänzungsband. Wieder sind es neben den vielen Einträgen auf veränderte technische Verfahren die unerwarteten Einträge, die das Bild der technischen Welt und des Interesses einer technischen Intelligenz schärften: Kriegs- und Ehrenfriedhöfe, Invalidenversicherung, Koalitionsrecht und Krankenversicherung gehörten ebenso zu den Begriffen des Technikers oder Ingenieurs wie Luftschiff oder Flak. Dass der Lueger fast ausschließlich die Sicht der technischen Intelligenz repräsentierte, lässt sich aus dem Autorenverzeichnis ablesen, das die Professoren der technischen Universitäten neben Bauräten und einigen Fabrikanten dominierten.

Die unzweifelhaften Qualitäten der neuen DVD zu nutzen wird insgesamt weniger von der verbesserungsfähigen Einführung beeinträchtigt als durch den Preis. Zwar ist das Lexikon der gesamten Technik die bislang günstigste DVD der Digitalen Bibliothek, dennoch wird der reguläre Preis viele interessierte Historiker/innen und Studierende historischer Fächer bremsen. Es bleibt abzuwarten ob wie beim Meyer günstigere CD-Rom Sonderausgaben (unter Verzicht auf die Faksimile statt € 235 nur noch € 90 bzw. € 39,90 der Sonderausgabe bei Zweitausendeins) auch dem Lueger eine weitere Verbreitung ermöglichen.

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