Chr. Schmidt: Nationalsozialistische Kulturpolitik

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Titel
Nationalsozialistische Kulturpolitik im Gau Westfalen-Nord. Regionale Strukturen und lokale Milieus (1933-1945)


Autor(en)
Schmidt, Christoph
Erschienen
Paderborn 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
511 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Willi Oberkrome, Universität Freiburg/Historisches Seminar

Vordergründig betrachtet verdient Schmidts Untersuchung zur „Nationalsozialistischen Kulturpolitik im Gau Westfalen-Nord“ aus mindestens zwei Gründen fachliche Aufmerksamkeit. Einerseits sind die herrschaftsstrukturellen Funktionen der nationalsozialistischen Gaue und ihrer Leitungen in jüngster Zeit mit Nachdruck auf die historiografische Agenda gesetzt worden. Auf diesem Feld besteht zweifellos ein beträchtlicher Erkenntnisbedarf. Andererseits wirft auch die NS-Kulturpolitik nach wie vor drängende Fragen auf. Regionalstudien, mit deren Hilfe sich generalisierende Deutungen empirisch vertiefen und überprüfen lassen, sind daher unbedingt zu begrüßen.

Die Einleitung des aus einer Dissertation an der Universität Münster hervorgegangenen Werkes stellt indessen klar, dass die Erwartungen der Leserschaft nicht zu hoch geschraubt werden sollten. Das Augenmerk des Verfassers richtet sich nämlich nicht auf die Gaukulturpolitik Westfalen-Nords insgesamt, sondern lediglich auf einschlägige Prozesse in drei markant unterscheidbaren Städten. Der analytisch zugrunde gelegte Kulturbegriff geht dabei so gut wie vollständig in den – von Verwaltungsakten dokumentierten – Zuständigkeitsbereichen der lokalen Kulturadministrationen auf. Politische Zeremonien, Vergemeinschaftungsriten in Großorganisationen, habituelle Prägungen, normative Wertbindungen und konsumtive, freizeitliche, darunter auch sportliche Vorlieben der städtischen Bevölkerung werden in der Regel ebenso ausgeblendet wie die kulturellen Praktiken auf dem Lande, in den Schulen, in den Kirchen, in der Architektur und ähnlichem.

Es geht Schmidt also um die städtische Pflege der Hoch- und Offizialkultur in Theatern, Museen, Bibliotheken, Literatur- und Musikvereinigungen, auf die nach 1933 neben den zuständigen kommunalen Dezernaten auch die Gauleitung, das Goebbelsministerium und die NS-Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude’ erheblichen Einfluss nehmen konnten. Das exemplifiziert der Autor anhand des bikonfessionellen Gelsenkirchens mit seinen arbeiterschaftlichen Milieubildungen, an der katholischen Hochburg und Gauhauptstadt Münster sowie an der evangelisch-reformierten Residenz- und Beamtenstadt Detmold. Die variierenden musisch-künstlerischen Traditionen dieser Orte werden in strenger Orientierung auf die lokalhistorischen Standardwerke Stefan Gochs, Karl Ditts, Andreas Rupperts u. a. hergeleitet und detailgenau – vor allem im Hinblick auf ihre amtliche institutionelle Anbindung und Ausstattung – rekonstruiert. Sodann wird der „pseudorevolutionäre“, „gleichschaltende“ Zugriff der Nationalsozialisten auf den jeweiligen städtischen Kulturbetrieb nachgezeichnet. Die brachiale Verdrängung ‚entarteter’ Kunstprodukte und die gewaltsame Zerschlagung bzw. „sozialideologisch“ opportune Neuausrichtung aller Einrichtungen der Arbeiterkulturbewegung – namentlich in Gelsenkirchen – bezeugten, wie zutreffend gezeigt wird, den kulturpolitischen Rigorismus des an die Macht gelangten Nationalsozialismus in noch eindringlicherer Weise als seine notorischen Attacken auf die katholischen Bildungseliten in Münster.

Schmidts minutiöse Auswertung der Abonnentenstatistiken von Theater- und Konzertveranstaltungen, von Anschaffungsetats der Bibliotheken und von Besucherverzeichnissen der Museen und Galerien belegt plastisch, dass die zunächst dargebotenen völkischen und heroischen Kunstproduktionen – über die Thingspiele, die Totila-Dramen, die industrielle Wirklichkeit verklärenden Gemäldeausstellungen usw. – ein eher verhaltenes öffentliches Echo erfuhren. Lediglich in Detmold, wo die Gauleitung anstatt der überforderten Kommunalbehörden martialische künstlerische Großevents in Gestalt von Wagner- und Grabbe-Wochen inszenierte, war das Publikumsinteresse etwas nachhaltiger. Der von den Verantwortlichen alsbald angetretene Rückzug auf ein primär klassisches, wenn auch ‚deutschtumsgemäß’ zu etikettierendes Kulturangebot steigerte die öffentliche Resonanz nur bis zu einem in der Weimarer Republik bereits erreichten Grad. Der nationalsozialistische Versuch, die vermeintlich volksgemeinschaftlich verschweißten ‚Massen’ an die ‚ewigen’ Zeugnisse der nationalen Hochkultur heranzuführen, war somit gescheitert.

Diesen – aufs Ganze gesehen wenig spektakulären – Nachweis erbringt Schmidt auf ca. 450 erkennbar deskriptiv angelegten Seiten. Dann aber holt er zu einem argumentativen Rundumschlag aus, der – bei allem Respekt für die fleißige Quellenarbeit des Verfassers – eine bleibende Irritation hervorruft. Schmidt bewertet die sozial stagnierende, auf traditionelle Rezipientengruppen beschränkte Partizipation an den künstlerischen Offerten des nationalsozialistischen Deutschlands als eine „Renaissance der klassisch-bürgerlichen Bildungskultur“. Sie sei ohne den Konkurrenzdruck liberal-avantgardistischer und linker Gegenmodelle zur vollen Blüte gelangt und habe dem kultivierten Publikum ein „sicheres Rückzugsrefugium“ geboten. Was es damit auf sich hat, wird – wie ein unvermeidliches Zitat illustrieren soll – rasch deutlich: „In den Theaterstücken der deutschen Klassik, in den Musikwerken Beethovens und Bachs, in den Gemälden der alten Meister, der Romantiker und des Biedermeiers ließen sich zumindest ästhetisch jene Werte des aufgeklärten Bürgertums konservieren, die politisch längst verloren waren; ihr zeitloser Gültigkeitsanspruch suggerierte auch in den Momenten größter politischer wie existentieller Krisen Stabilität, Trost und zumindest die Aussicht auf eine bessere Zukunft. Staatlicherseits wurde diese Entwicklung toleriert und zum Teil auch gefördert – hatte doch der Rückzug zum ‚Klassischen’ als eine kollektive Form innerer Emigration eine politisch kompensatorische Wirkung, die einen guten Teil des gesellschaftlichen Widerstandspotentials des liberalen oder konservativen Bürgertums absorbierte“ (S. 472f.). In Anbetracht solcher Ausführungen fragt man sich, wie viele gebildete deutsche Bürger im Sommer 1940 wohl in Goethes Armen Trost über die Niederwerfung Frankreichs oder die mühelose Verfügbarkeit ‚arisierten’ Besitzes gesucht haben. Und woher stammten eigentlich die NS-Funktionseliten?

Aber nicht genug damit. Auf der letzen Seite seines Werkes geht Schmidt darauf ein, dass die Hegemonialkultur der NS-Zeit in Schlagern und Operetten, in Lustspielen und heiteren Radiokonzerten Ausdruck gefunden habe. Diesen Sachverhalt interpretiert er als opportunistische, machtkalkulatorische Preisgabe der eigentlich zivilisationskritischen, völkisch puristischen NS-Ideologie. Auch an diese Behauptung knüpft sich ein Einwand. Die nationalsozialistische Kulturpolitik setzte auf die ‚Entjudung’ der Kunst, der Wissenschaft, des Vereinswesens sowie auf die Überwindung ‚artfremder’, meist ‚systemzeitlicher’ kultureller ‚Irrwege’. Das bildete den gemeinsamen Referenzpunkt der kulturpolitischen Ambitionen, die ansonsten unterschiedliche Präferenzen und Optionen zuließen. Über ihren im Lauf der Zeit variablen Durchsetzungserfolg entschieden innenpolitische, mitunter auch gauinterne Bedingungskonstellationen und der Wandel expansionspolitischer Herausforderungen. Ob sich die Volksgenossen und Volksgenossinnen beim Marsch auf die rassistisch-eleminatorische ‚Neuordnung Europas’ an Zarah Leander oder Willy Birgel, an Friedrich Schiller oder Hans Friedrich Blunck erbauten, ob sie dem Detmolder Segelflug, dem Münsterländer Radsport oder dem Schalker Kreisel erlegen waren, fiel essentiell kaum ins Gewicht.

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