C. Wipf: Studentische Politik und Kulturreform

Titel
Studentische Politik und Kulturreform. Geschichte der Freistudenten-Bewegung 1896-1918


Autor(en)
Wipf, Hans U.
Reihe
Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 12
Erschienen
Schwalbach im Taunus 2005: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Dowe, Karlsruhe

Der Konservative Fritz Gerlich, der Schriftsteller Alfred Döblin und die sozialdemokratische Sozialpolitikerin Frieda Wunderlich teilen eine Gemeinsamkeit: Während ihrer Studienzeit gehörten sie einer studentischen Reformbewegung an, die zur wilhelminischen Zeit die Geschichte der Hochschulen wesentlich prägte, aber heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist: der freistudentischen Bewegung.

Diese Bewegung entstand kurz vor der Jahrhundertwende und verstand sich als Gegenpol zu den damals mitgliederstarken Studentenverbindungen. Studierende beiderlei Geschlechts schufen sich hier neue Räume studentischer Vergesellschaftung bei ihrem Versuch, ein neues, als zeitgemäß erachtetes Studententum zu schaffen. Förderung von ganz unterschiedlichen Bildungsinteressen und Sport standen ganz oben auf der Liste der freistudentischen Angebote, die allen Studierenden offen stehen sollten. Der Erste Weltkrieg beendete diese Aktivitäten und die tiefgreifenden Veränderungen an den Hochschulen zu Beginn der Weimarer Republik verhinderten eine Neubelebung der freistudentischen Bewegung.

Dem Archiv der Jugendbewegung kommt der Verdienst zu, die erste umfassende historische Analyse dieser Bewegung, eine 1995 an der Universität Hannover eingereichte (und als Microfish zugängliche) Dissertation in überarbeiteter, leicht gekürzter und aktualisierter Form einem breiteren Publikum zugänglich gemacht zu haben. Dem Autor Hans-Ulrich Wipf ist es gelungen, trotz schwieriger Überlieferungslage eine Vielzahl an Quellen ausfindig zu machen. Insbesondere seine akribische Auswertung der grauen Literatur und der Periodika der freistudentischen Bewegung ist hier hervorzuheben.

Als Entstehungsursachen für die freistudentische Bewegung sieht der Autor überzeugend die grundlegenden Veränderungen an den Hochschulen der wilhelminischen Zeit, die damals als Durchbruch zu einer Massenuniversität wahrgenommen wurden. Auf diese Veränderungen reagierte die freistudentische Bewegung mit ihren vielfältigen Angeboten auf der Basis praktischer Selbsthilfe.

Doch die freistudentische Bewegung stieß von Anfang an auf Widerstände. Die Studentenverbindungen sahen den eigenen Einfluss gefährdet und fühlten sich durch die Bildungs- und Veranstaltungsangebote der freistudentischen Bewegung herausgefordert, was nicht nur zu Polemiken gegen die Freistudenten, sondern auch zu intensiven Debatten in den Verbindungen über mögliche innere Reformen führte – ein Aspekt, der die Bedeutung der freistudentischen Bewegung sehr deutlich macht, den Wipf aber nicht verfolgen kann und den künftige Forschungen zur Geschichte der Studentenverbindungen aufnehmen sollten. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der freistudentischen Bewegung war der Vertretungsanspruch der Freistudenten umstritten. Denn viele freistudentische Zusammenschlüsse vertraten gegenüber Studentenverbindungen und Universitätsleitungen den Anspruch, für alle nichtorganisierten Studierenden zu sprechen, ohne dazu autorisiert worden zu sein. Die entsprechenden Auseinandersetzungen und das schließliche Scheitern des umfassenden Vertretungsanspruchs zeigt Wipf differenziert in verschiedenen Kapiteln seiner Arbeit.

Der Autor wendet sich auch den vielfältigen freistudentischen Bildungsprogrammen mit ihren eigenen Organisationsformen, mit Seminaren, Vorträgen und Diskussionen zu. Das Spektrum der möglichen Themen war weit, Literatur und Kunstreform wurden ebenso behandelt wie der Arbeitsschutz und parteipolitische Programme einschließlich der SPD, was ebenso zu Konflikten mit Universitätsleitungen führen konnte wie die Auseinandersetzung mit Positionen der Frauenbewegung und der Sexualreform. Die Freistudenten widmeten sich aber auch dem normalen Universitätsstoff. Denn die Veranstaltungsform des Seminars mit studentischen Vorträgen und Diskussion war an den Universitäten zu dieser Zeit noch eine Seltenheit.

Vorherrschend waren in der freistudentischen Bewegung humanistische Ideale, die aber um Elemente zeitgenössischer Reformbestrebungen ergänzt wurden. So fanden beispielsweise Dürerbund und Comenius-Gesellschaft reichen Widerhall. Diese Offenheit für zeitgenössische Reformvorstellungen interpretiert Wipf als Reaktion auf die sichtbar werdende Distanz zwischen studentischem Bildungsdünkel und Entwertung humanistischen Bildungsgeistes im Gefolge des Modernisierungsschubes.

Der Bekämpfung von Duell und Mensur öffneten sich Freistudenten unterschiedlich stark. Die strikten Gegner blieben in der Minderheit. Die Mehrheit strebte nach einer Eingrenzung des Duellwesens. Duelle, vereinzelt sogar auf Pistolen, fanden weiterhin auch unter Beteiligung von Freistudenten statt. Dies verweise auf die Enge des Spielraums in der wilhelminischen Studentenschaft, so Wipf. Der Autor erwähnt zwar Alternativen in der Jugendbewegung, in Reformburschenschaften und katholischen Studentenorganisationen, marginalisiert diese Gruppen aber mit Blick auf sein Bild von der gesamten Studentenschaft. Dabei stellten allein die katholischen Studentenverbindungen mehr als zehn Prozent aller Studierenden und vermutlich mehr als jeden Fünften unter den in Studentenverbindungen organisierten Studierenden.

Ähnlich urteilt Wipf mit Blick auf den Antisemitismus, der sich – so Wipf – bis 1900 als Norm in allen Verbindungen einschließlich der Reformburschenschaften und der christlichen Verbindungen durchgesetzt habe. Für die katholischen Studentenorganisationen z. B. ist diese Annahme so nicht zu halten. 1 Wipfs Analyse antisemitischer Stimmen in der freistudentischen Bewegung zeichnet sich dessen ungeachtet durch Differenziertheit aus: Die freistudentische Bewegung sei kein Hort des Antisemitismus gewesen, aber besonders in den Anfängen hätten sich antisemitische Stimmen bemerkbar gemacht. Je ausgeprägter das freistudentische Klima gewesen sei, desto weniger empfänglich seien die Studierenden für Antisemitismus gewesen.

Am Beispiel des Akademischen Kulturkampfes, in dem Teile der Studentenschaft katholische Studentenverbindungen aus den Studentenvertretungen ausschlossen und ein Verbot katholischer Studentenorganisationen forderten, zeigt Wipf, dass zwischen den vergleichsweise liberalen Programmen der Freistudenten und dem Anspruch, die gesamte nichtorganisierte Studentenschaft zu vertreten, häufig ein nur mühsam gekitteter Widerspruch bestand. Dies führte zu sehr unterschiedlichen Reaktionen der Freistudenten, die von Zurückhaltung im Akademischen Kulturkampf bis zu engagierter Beteiligung reichten.

Zwei freistudentische Flügel identifiziert Wipf in den Debatten um eine Reform der Hochschulgesetzgebung. Während die einen die Beseitigung aller Sondergesetze und volle Koalitionsfreiheit für Studierende forderten, strebten die anderen nach einer Modifizierung der Disziplinarordnung und nach einer Rechtsgarantie für freistudentische Zusammenschlüsse.

Letzteres war für alle Freistudenten wichtig, da die freistudentischen Organisationen wegen ihres Anspruchs, alle nichtorganisierten Studierenden zu vertreten, aber auch wegen Veranstaltungen mit Politiker/innen oder Frauenrechtlerinnen immer wieder massiven Angriffen ausgesetzt waren und teilweise von den Universitätsleitungen verboten wurden. Trotzdem erlangte die freistudentische Bewegung eine große Breite, auch wenn genaue Mitgliederangaben aufgrund des Selbstverständnisses der Freistudentischen Bewegung nicht gemacht werden können. Hinweise auf die soziale Zusammensetzung der Bewegung gibt Wipf, indem er die Herkunft von freistudentischen Funktionsträger genauer analysiert.

Warum Krieg und Revolution das Ende der freistudentischen Bewegung bedeuteten, erläutert Wipf abschließend. Viele freistudentische Forderungen fanden ihren Niederschlag in den neuen Allgemeinen Studentenausschüssen der Weimarer Republik. Wipf sieht aber die Bedeutung der freistudentischen Bewegung weniger in deren ideeler Vorläuferfunktion. Vielmehr betont der Autor die Relevanz der in der freistudentischen Bewegung gelebten vielfältigen Alltagswelt, die von Diskussionen und Toleranz gegenüber anderen Meinungen geprägt gewesen sei, die Student/innen Freiräume für gemeinsames Engagement bot und so kompensierte, was Studentenverbindungen und Lehrpläne der wilhelminischen Massenuniversitäten versäumt hätten. So hätten die Erfahrungen in der freistudentischen Bewegung, resümiert Wipf, die Mitglieder auf die Pluralität der Weimarer Republik vorbereitet.

Wipfs Arbeit ist in mehrfacher Hinsicht wichtig und verdienstvoll. Sie zeigt einmal mehr, welche große Bedeutung gerade bei schlechter archivalischer Überlieferung umsichtig ausgewertete zeitgenössische Periodika und grauen Literatur besitzen. Wipfs Ergebnisse sind aber auch für die Studenten- und Universitätsgeschichte des Kaiserreichs sowie für die Deutung der wilhelminischen akademisch ausgebildeten Eliten sehr aufschlussreich. Denn er untersucht eine Studierendengruppe, die in vielem ein Kontrastprogramm zu dem bot, was gemeinhin mit Studierenden der wilhelminischen Zeit verbunden wird. Wenn man Wipfs Erkenntnisse mit anderen Erträgen der neueren Studentengeschichtsschreibung zusammen liest 2, entstehen deutliche Zweifel an dem Geschichtsbild, demzufolge der schlagende Corpsstudent das Idealbild der wilhelminischen Epoche sei. Denn diese Vorstellung basiert darauf, dem zeitgenössischen Selbstverständnis der schlagenden Verbindungen folgend andere Studierende wie jugendbewegte Studierendengruppen, kirchentreue Katholiken, die Mitglieder der ersten Studentinnenvereine und die freistudentische Bewegung zu marginalisieren. Berücksichtigt man jedoch auch diese Studierenden, ergibt sich ein Bild der wilhelminischen Studentenschaft, das durch Pluralisierungstendenzen und Vielfalt geprägt ist. Wie ertragreich moderne Studentengeschichte sein kann, dafür ist Wipfs Arbeit ein gutes Beispiel.

Anmerkungen
1 Dowe, Christopher; Fuchs, Stephan, Katholische Studenten und Antisemitismus im Wilhelminischen Deutschland, in: GG 30 (2004), S. 571-593.
2 Vgl. z. B.: Bias-Engels, Sigrid, Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte von Jugendbewegung und Studentenbewegung 1896-1920, Köln 1988; Dowe, Christopher, Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich, Göttingen 2006. Vgl. ferner die umfangreichen Forschungen zu Studentinnen.