Titel
Markion. Gesammelte Aufsätze


Autor(en)
May, Gerhard
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beihefte 68
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 131 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Metzger, Seminar für Neues Testament, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Ein Erstgeborener des Satans (so Eusebius von Cäsarea)? Ein echter Protestant (so August Neander)? Ein Reformator gar (so Adolf von Harnack)? Die Beurteilung der Person des Markion von Sinope kann kaum unterschiedlicher sein. Deshalb ist es interessant, die Aufsätze des emeritierten Mainzer Kirchengeschichtlers Gerhard May zu Markion zu lesen, da hier ein Gelehrter ohne Vorurteile und mit genauem historischen Blick ein Bild dieses Mannes zeichnet, der große Wirkung auf die Geschichte der Kirche hatte. Der anzuzeigende Band versammelt zehn Aufsätze Mays, die zum Teil bisher unveröffentlicht waren, zum Teil in schwer zugänglichen Bänden publiziert wurden. Aus Anlass seines 65. Geburtstags zusammengetragen und herausgegeben von seinen ehemaligen Mitarbeitern Katharina Greschat und Martin Meiser und mit einem Vorwort seiner ehemaligen Kollegin Irene Dingel versehen, präsentieren die Aufsätze ein wohltuend differenziertes und zurückhaltendes Portrait des Schiffsreeders vom schwarzen Meer. Im Einzelnen sind folgende Aufsätze abgedruckt: (1) Markion in seiner Zeit; (2) Marcion in Contemporary Views: Results and Open Questions; (3) Der Streit zwischen Petrus und Paulus in Antiochien bei Markion; (4) Markions Genesisauslegung und die "Antithesen"; (5) Der "Schiffsreeder" Markion; (6) Markion und der Gnostiker Kerdon; (7) Markions Bruch mit der römischen Gemeinde; (8) In welchem Sinn kann Markion als Begründer des neutestamentlichen Kanons angesehen werden?; (9) Apelles und die Entwicklung der markionitischen Theologie; (10) "Ein ächter Protestant". Markion in der Sicht August Neanders.

In seiner Wirkung und Bedeutung eigentlich erst im 19. Jahrhundert entdeckt, machte Adolf von Harnack in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Markion zum Vorläufer von Paulus und Luther und verhalf ihm damit zu immenser Popularität. Mit seinem "Markion" verfasste Harnack dabei ein Werk von ungeheuerer Wirkung und setzte für die Erforschung des "erfolgreichsten Ketzers des Christentums" (Egon Fridell) Maßstäbe. An diesem Werk kommt niemand vorbei, der sich zu Markion äußern will. Auch Gerhard May nicht. Doch geht May einen Schritt weiter. Er trifft in seinen Aufsätzen immer wieder den Ton, wenn er Harnacks Leistung zwar anerkennt, doch gleichzeitig auch deren Schwächen klar benennt und über ihn hinaus weist. Umsichtig korrigiert er die zu weit reichenden Annahmen Harnacks (oder anderer Forscher), streicht heraus, wo die Forschung ihrer Phantasie gefolgt ist, und lässt immer wieder Lücken in seiner Rekonstruktion Markions, wenn das Quellenmaterial nicht ausreicht; denn gerade die Quellenlage zu Markion ist äußerst schwierig: "Die Zeugnisse, die wir haben, stammen … durchweg von scharfen Gegnern Markions" (S. 2). Von Justin dem Märtyrer über Irenäus und Tertullian bis Eusebius von Cäsarea reichen die Zeugnisse über Markion, aber niemand ist daran interessiert, dessen Lehre adäquat wiederzugeben. Immer steht die Polemik gegen ihn, seine Widerlegung im Vordergrund. Dies stellt den Historiker vor die Aufgabe, hinter die Interessen der antiken Autoren zu blicken, ihre Werturteile und Verzerrungen hinter sich zu lassen und Markion so darzustellen, wie er möglichst "objektiv" zu erkennen ist. Dass dies lückenhaft bleiben muss, ist offensichtlich. Was lässt sich aber nach Gerhard May trotz all dieser Schwierigkeiten über Markion sagen?

Zur Biographie: Nach dem legendarischen und polemischen Bericht des Epiphanius soll sich der Askese predigende Markion in seiner Heimat mit "einer gottgeweihten Jungfrau" (S. 76) eingelassen haben und deshalb von seinem Vater, dem Bischof von Sinope, verstoßen worden sein (S. 76). Nach Rom geflohen, sei er von der Gemeinde nicht aufgenommen worden und habe deshalb mit dem Gnostiker Kerdon Kontakt aufgenommen, der sein Lehrer wurde. Da er in Rom Karriere machen wollte, welche ihm aber versagt blieb, habe Markion mit den Ältesten ein Streitgespräch über seine Lehre geführt, das zum endgültigen Bruch geführt habe. Dieser Bericht und die weiteren Überlieferungen - so spricht Tertullian von einem längeren Prozess der Auseinandersetzung in Rom - "sind im einzelnen zu untersuchen und kritisch auf ihren historischen Wert zu wägen" (S. 83). Sicherlich war Markion von Beruf Schiffsreeder. Wahrscheinlich aus Pontus am Schwarzen Meer stammend (S. 59), dürfte er ein verhältnismäßig erfolgreicher und angesehener Geschäftsmann gewesen sein (S. 57), der es sich immerhin erlauben konnte, der römischen Gemeinde 200.000 Sesterzen zu schenken (S. 54). Gegen Harnacks Annahme, Markion sei nach Rom gekommen, weil er sich in Kleinasien mit seiner Lehre nicht durchsetzen konnte, sei zu vermuten, dass er geschäftlich nach Rom kam (S. 59) und vielleicht auch erst dort Christ wurde (S. 59). Ob Kerdon Markions Lehrer war und inwiefern er unter dessen Einfluss stand, lässt sich nicht sicher sagen (S. 72). Jedenfalls trennt er sich um 144 von der römischen Gemeinde, weil er sich mit seinen Überzeugungen nicht durchsetzen konnte (S. 43), und gründet eine eigene Kirche.

Zur Lehre: Markion lehrt einen Zwei-Götter-Dualismus. Angeregt von paulinischen Antithesen (Gesetz - Evangelium; Gesetz - Gnade; Gesetz - Freiheit) formuliert Markion seine eigenen Antithesen und erkennt im Gott des Alten Testaments den Demiurgen, der die Welt zwar geschaffen hat, aber der dem Gott Jesu kategorial unterlegen ist: "Markion beweist durch seine Antithesen, daß der Weltschöpfer ein inferiorer Gott und nicht der Vater Jesu Christi ist" (S. 48). Er kennzeichnet dagegen den Gott, den Jesus verkündet, als einen Gott der Liebe, der gegen den "Weltgott" steht. Als Beweis seiner Gotteslehre zieht Markion dabei vor allem die anthropomorphen Aussagen des Alten Testaments heran, die "seinen theologischen Anforderungen nicht" genügen (S. 5). So zeigt er anhand von Gen 2,7, dass der Demiurg nicht allwissend ist - sonst müsste er nicht fragen: "Adam, wo bist du?" (S. 46) - und dass der Demiurg am Sündenfall im Grunde selbst schuld ist - schließlich sündigt sein Geschöpf! Daraus folgt, dass das Wissen des Demiurgen "ist begrenzt, sein Gesetz kann den Sündenfall nicht verhindern, und indirekt ist er selbst in die Sünde Adams einbezogen" (S. 46). Zwar löst Markion damit in "perfekter Weise das Problem der Theodizee" (S. 12), indem er die Missstände der Welt dem Demiurgen zuschreibt, doch trennt er dabei die Verbindung Jesu zu seinem Vater, dem Gott des Alten Testaments.

Die Schrift der Großkirche kennzeichnet er konsequenterweise als Dokument des Demiurgen, das er nur als "Negativfolie" für seine Verkündigung des wahren Evangeliums benutzen kann (S. 10). Daraus folgt die Notwendigkeit einer eigenen Schrift. Diese schafft sich Markion, indem er ein Evangelium und ein Apostolikum zusammenstellt. Wahrscheinlich findet er ein Corpus Paulinum vor, an dessen Anfang der Galaterbrief steht (S. 40). Dessen beide erste Kapitel versteht Markion als Leseanweisung und in der Konsequenz als historische Legitimation (S. 40f.). Den Streit zwischen Paulus und Petrus sieht er als Hinweis darauf, dass Petrus, Jakobus und Johannes so sehr "dem Gesetz des Demiurgen verhaftet [waren], daß sie die Wahrheit des Evangeliums vom fremden Gott und seinem Christus nicht voll zu verstehen in der Lage waren" (S. 39). Deshalb muss er philologisch arbeiten. Da nur Paulus der Garant des wahren Evangeliums sein kann (S. 87) und dieser die Verfälschung der Wahrheit durch die Judaisten bezeugt (S. 40), muss Markion die schriftliche Überlieferung dahin gehend untersuchen, inwieweit sie judaistisch verfälscht wurde, und diese Verfälschung dann korrigieren (S. 6). Damit schafft Markion eine Norm seiner Lehre, die nur in Dokumenten "aus der Anfangszeit der Kirche" (S. 6) zu finden ist und die mündliche Überlieferung ausschließt. Als Evangelium wählt er das nach Lukas, das er nach Gal 1,11f als von Gott bzw. Christus offenbart ansieht (S. 87).

Zur Würdigung: Markion ist religiös kompromisslos, "ein starrköpfiger und ausgesprochen ideologischer Radikaler" (S. 89). Deshalb ist die gnostische Krise des 2. Jahrhunderts in Wirklichkeit wahrscheinlich eher eine markionitische (S. 11). Während nämlich Gnostiker in der Regel ihr elitäres Bewusstsein still für sich lebten und die "katholische" Wahrheit für zumindest relativ wahr hielten (S. 12), kämpft Markion mit seiner Lehre zunächst um Einfluss in der römischen Gemeinde und gründet - als dies misslingt - eine Gegenkirche. Damit zwingt er die "katholische" Kirche, ihre Bibel zu entwerfen und ihre Lehre zu präzisieren. Gleichzeitig führt er der Kirche vor Augen, dass ihre Anfangszeit "Vergangenheit geworden" (S. 7) ist, dass sie sich ihres Fundamentes vergewissern muss. Dass er deshalb in einer Zeit, die noch keine zweiteilige Bibel kennt, ein verbindliches Dokument einfordert, auf dem die Kirche sich gründen soll, ist ein Schritt von enormer Tragweite. Markion ist damit "der erste christliche Theologe, der einen Kanon, eine normative Schriftsammlung aus ‚neutestamentlichen’ Büchern, kennt" (S. 6). Deshalb ist es kein zu gewagter Schluss mit Hans von Campenhausen anzunehmen: "Mit der Forderung einer solchen dokumentarischen Norm wurde Markion zum Schöpfer der Idee eines neutestamentlichen Kanons" (S. 7; vgl. S. 44). Da auch bei ihm das Alte Testament zumindest als Negativfolie wahrscheinlich in Gebrauch war (S. 88), kommt seine Glaubensurkunde "formal gesehen derjenigen der Katholiken" (S. 11) sehr nahe. Insofern kann er durchaus als Schöpfer einer christlichen Bibel angesehen werden, was sein großes bleibendes Gewicht darstellen dürfte.

Die Aufsätze Mays zeichnen sich nicht nur durch eine ausgewogene Positionierung innerhalb der Forschung zu Markion aus, sondern sie präsentieren sich auch in einer gut und zuweilen fast spannend zu lesenden Form. Gelegentlich scheint dabei auch das Wiener Idiom des Autors in geradezu rührender Weise durch: "so war jedenfalls das eine klar, daß Markion … verhältnismäßig hoch oben gestanden sein mußte" (S. 54). Die Aufsätze führen vorbildlich vor, wie historisch besonnen zu urteilen und philologisch exakt zu argumentieren ist. Sie stellen damit einen gewichtigen Beitrag zur Markionforschung dar. Eine Bibliographie Mays, ein Namens-, ein Bibelstellen- sowie ein Orts- und Sachregister runden den Band ab. Den Herausgebern gebührt für ihre Mühe und Arbeit im Hinblick auf diesen Band ein besonderer Dank.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension